Autor: Nils Kahlefendt

Erleben, Erlesen, Entdecken
5. April 2016
Rückblick 2016, Teil 2: Leipzig liest – und feiert
Autor: Nils Kahlefendt

Erleben, Erlesen, Entdecken
5. April 2016
Rückblick 2016, Teil 2: Leipzig liest – und feiert

Lesen, Zuhören, miteinander sprechen: 260.000 Besucher zog es 2016 zum Frühjahrsfest der Bücher nach Leipzig. In einer kleinen Serie blicken wir auf die Höhepunkte zurück. Teil 2: Leipzig liest – und feiert.

Klar doch: Eröffnet wird die Buchmesse jedes Jahr im Gewandhaus. Ihren Spannungszenit erreicht sie jedoch verlässlich am Donnerstagnachmittag, pünktlich 16 Uhr: Unter der sonnenbeschienenen Glashallenkuppel schließen Verleger und Kritiker letzte Wetten ab, manch Lektor tupft sich unauffällig einen Schweißtropfen von der Stirn, Kameras werden in Position gebracht. Die Spannung ist mit Händen zu greifen: Wer wird ihn gewinnen, den Preis der Leipziger Buchmesse? Selbst alte Branchen-Hasen, die nichts so schnell aus der Fassung bringt, werden hier noch überrascht – so wie im letzten Jahr, als Jan Wagner mit einem Gedichtband („Regentonnenvariationen“) gewann, und dem zarten Pflänzchen Lyrik mit diesem unerwarteten Triumph einen regelrechten Boom bescherte. In diesem Jahr siegte in der Kategorie Belletristik mit dem Tausendseiter „Frohburg“ (Schöffling) das späte Roman-Debüt eines Autors, der schon bei der allerletzten Tagung der Gruppe 47 dabei gewesen war und im kommenden Mai 75 wird. „Herzlichen Dank, mehr kann ich nicht sagen“, freut sich der sichtlich gerührte Guntram Vesper, bevor er sich mit den beiden anderen Gewinnern zum traditionellen Gruppenfoto gesellt. Jürgen Goldstein, der in der Sachbuch-Sparte mit seiner Biografie „Georg Forster – zwischen Freiheit und Naturgewalt“ (Matthes & Seitz) den Sieg davonträgt, bedankt sich artig beim Gegenstand seiner akribischen Forscher-Arbeit („Ihm hätte ich gern einmal die Hand geschüttelt“). Mit Brigitte Döberts Übertragung von Bora Ćosićs Roman „Die Tutoren“ (ebenfalls Schöffling) gewinnt ein weiterer literarischer Achttausender, der bislang für „unübersetzbar“ gehaltenen wurde, den Übersetzungspreis. Freudestrahlend nimmt Döbert auch die Glückwünsche ihres aus Belgrad angereisten Autors entgegen.

Der Buchmesse-Joker

Der Preis der Leipziger Buchmesse will zum Lesen, zum Bücherkaufen, zur nachhaltigen Diskussion über Inhalte und Autoren anregen – wichtigster Motor dieser gelebten Literaturverführung ist Leipzig liest. In diesem Jahr feiert das „Woodstock der Bücher“ sein 25. Jubiläum – und verteidigt mit 3200 Mitwirkenden in mehr als 3000 Veranstaltungen an 410 Orten einmal mehr seinen Ruf als Europas größtes Lesefest. Ein Feuerwerk, bei dem Literatur-Prominenz aus dem In- und Ausland, Newcomer mit Potenzial, Schauspieler oder Pop-Größen das gesamte Spektrum des Buchmarkts abbilden. Gefeiert wurde der runde Geburtstag mit einem bunten Festabend an einem besonderen Ort, in der im letzten Jahr nach aufwändiger Sanierung wiedereröffneten Kongresshalle am Zoo. Es ist ein Abend, der gleichsam die Brücke schlägt zwischen lauten Büchern und stillen Worten, zwischen E und U, Tradition und Experiment – den Polen, zwischen denen der Literatur-Marathon seit 25 Jahren auf Erfolgskurs fährt. Den ersten Teil des Abends bestreiten Christoph Hein („Glückskind mit Vater“, Suhrkamp), Clemens Meyer und der frisch gekürte Belletristik-Preisträger Guntram Vesper, im zweiten Teil gibt’s Poetry Slam vom Feinsten. Umjubelte Gewinner sind am Ende Julius Fischer und der „Hypezig“-Erfinder André Herrmann vom „Team Totale Zerstörung“. Unkaputtbar ist indes die Verbindung der Messemacher zum jährlich wachsenden, begeistert lesend-lauschenden Leipziger Publikum. Buchmesse-Direktor Oliver Zille: „Sie sind für die Buchmesse und das Lesefest der Joker. Der Buchmesse-Joker.“

Flash-Mob mit Barbetrieb

Das Café der Galerie für Zeitgenössische Kunst wird in unregelmäßigen Abständen von Künstlern komplett neugestaltet – und bekommt dann auch einen neuen possierlichen Namen. Es hieß Weezie, Paris Syndrom, Kafic und zuletzt Bau Bau. Am Buchmesse-Donnerstag verwandelt sich der Würfel aus Glas und Beton für eine Nacht in den Club Tropicana, der „beliebtesten und verrauchtesten Party der Messewoche“ (F.A.S.). 20 Jahre Tropen müssen schließlich gefeiert werden. Die Versuchsanordnung der Aktionskünstler Tom Kraushaar und Michael Zöllner: Wie viel feierwütiges Branchen-Volk findet auf einer limitierten Anzahl von Quadratmetern Platz? Gegen Null Uhr kann man an der Tropicana-Bar beide Beine anziehen, ohne umzufallen, sehr praktisch. Der sprichwörtliche Absacker: unmöglich. „Als Feier ist das Quatsch, als Lebendinstallation großartig“ diktierte Joachim Otte (Literarischer Salon, Hannover) der Frau von „Zeit Online“ in den wahrscheinlich eher mühsam gezückten Notizblock. „Die Tropen-Party 2016 ist Kunst, ich bitte die documenta, das zu berücksichtigen“. Also doch: Die Literatur wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.

Hochkaräter im Literaturhaus

„Sagen was man denkt. Und vorher etwas gedacht haben.“ – Was sich Harry Rowohlt für Schriftsteller vor Mikrofonen wünschte, kann sehr gut als Leipzig-liest-Motto herhalten. Und als Geschäftsgrundlage für Abende in Literaturhäusern: Am Buchmesse-Freitag im Leipziger Haus des Buches wurde das Diktum jedenfalls aufs Schönste eingelöst: 15 Jahre Preis der Literaturhäuser galt es zu feiern – mit drei ehemaligen Preisträgern, dem frisch gekürten Gewinner sowie Rainer Moritz und Denis Scheck als blendend aufgelegtem Moderatoren-Duo, das das in der Fußball-Berichterstattung bewährte Prinzip „Netzer & Delling“ mühelos in die Sphäre des Literaturbetriebs transferierte. Kurzum: Unterhaltung auf hohem Niveau, eine opulente Geburtstags-Torte, die die leidige Frage nach E oder U gar nicht erst aufkommen ließ. Wie breit das Stimmen-Spektrum der in den letzten 15 Jahren Ausgezeichneten ist, konnte der Leipziger Abend nur anreißen: Es reicht vom lebenslang geführten poetisch-anarchischen Tagebuch Elke Erbs (Preisträgerin 2011), in dem sich Artifiziellstes und Alltäglichstes wundersam mischen, über die skurrilen Live-Performances des Comic-Künstlers Nicolas Mahler mit Laptop und Beamer (Preisträger 2015) bis zu den Lese-Sternstunden Feridun Zaimoglus (Preisträger 2012), die auch dann noch mitten ins Herz treffen, wenn der Autor, wie diesmal, an einer Erkältung laboriert. Ulf Stolterfoht, der aktuelle Preisträger, hat Lyrik auch für Zeitgenossen kommensurabel gemacht, die mit Versfüßen sonst nicht viel am Hut haben. Sein neuester Coup, möglich geworden durch ein kleines „Stückle“, vulgo Vorerbe: Die Gründung des eigenen Lyrikverlags Brueterich Press, dessen Werbe-Slogan („Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis – dann ist es Brueterich Press!“) wie eine Provokation anmutet. „Arme Studenten“, so der Dichter-Verleger, „bekommen allerdings schon mal 50 Prozent Rabatt“.

Bildquellen: Leipziger Messe, Café Bau Bau/Sebastian Schröder

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