Wir feiern das Lesen – endlich wieder in Leipzig! Leipzig liest, das Lesefest mit über 2.400 Veranstaltungen und 2.500 Mitwirkenden, bringt den Bücherfrühling vier Tage lang zum Blühen. Nationale und internationale Stimmen aller Genre sind zu entdecken: Von Krimi bis Sachbuch, von Kinder- und Jugendbuch bis Phantastik, von Unterhaltungsliteratur bis Manga und Comic. Die Qual der Wahl ist beträchtlich. Wir haben deshalb in den letzten Tagen noch einmal Bücherstapel durchforstet, Tablets, Smartphones, Haftnotizen und Kladden gesichtet – und für Sie spannende Veranstaltungen abseits des Mainstreams zusammengetragen. Ob Schwimmbad-Sommerfeeling, Liebe und Widerstand in finsteren Zeiten oder das geheime Doppelleben eines vielfach preisgekrönten Schriftstellers – Leipzig liest ist so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher. Wir sehen uns!
Sind so kleine Stühle | Von Anja Griesebach-Wesp, Assistentin Kommunikation
„Kein Thriller“, so stand es warnend auf dem Cover von Sebastian Fitzeks Roman „Der erste letzte Tag“. Und auch Elternabend (Droemer Knaur) gehört in die Reihe von Fitzeks Nicht-Thrillern, auch wenn sich der Titel für jemanden, der schulpflichtige Kinder hat (oder hatte), schon leicht nach Horror anhört. Denn wenn mindestens 25 Erwachsene in verkrampfter Haltung auf zu kleinen Stühlen nervös hin und her rutschen, wenn sie am liebsten ganz woanders wären, dann hört der Spaß definitiv auf. Bei Fitzek beginnt er jetzt gerade: Im Buch geraten ein Kleinkrimineller und eine Klimaaktivistin auf der Flucht in den titelgebenden Elternabend – und müssen, wenn sie nicht entdeckt werden wollen, in die Rolle der Eltern des 11jährigen Hector schlüpfen, des größten Rüpels der Schule. Na ja, wahrscheinlich entgeht niemand dem Charme eines Elternabends. Und auch ich werde mir Fitzek nicht entgehen lassen.
Sebastian Fitzek: Elternabend. Lesung und Gespräch. 29. April, 16 Uhr, ARD-Forum, Halle 2, Stand H 301.
Seemannsköpper | Von Maren Hein, Projektmanagerin Bildung/Leseförderung
Ein Kopfsprung mit am Körper angelegten Armen vom Dreier, vom Fünfer, gar vom Siebener – die ultimative Mutprobe. Seit meiner frühen Kindheit ist das Schwimmbad meine base, und auch heute noch verbringe ich viel Freizeit in Schwimmverein und -bad. Arno Franks Roman Seemann vom Siebener (Tropen) fühlt sich an wie ein flirrender Sommertag – das 70er-Jahre-Schwimmbad als kleiner Kosmos, der das große Ganze wie in einer Nussschale spiegelt: Treffen, Lieben, Verlust, Leben. Vom Autor ganz leicht, mit einer Prise Humor erzählt. Das Schreberbad, Leipzigs älteste noch genutzte Badeanstalt, hat Ende April noch geschlossen. Doch die Kinobar Prager Frühling, in der auch an den 361 buchmessefreien Tagen des Jahres coole Veranstaltungen stattfinden, ist für diesen Abend die denkbar beste Alternative.
Arno Frank: Seemann vom Siebener. Lesung. 28. April, 19 Uhr, Kinobar Prager Frühling, Bernhard-Göring-Straße 152.
Digital Gold | Von Philipp Valentin Müller, Student der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW)
Hat mit Bitcoin tatsächlich eine neue Zeitrechnung begonnen? Könnte die Welt dadurch besser und gerechter werden? Oder zeigt der Crash der FTX-Börse und der Kursverfall der Kryptowährungen, dass Bitcoin und Co nur eine nerdige Spielerei sind? In seinem Buch Die orange Pille (dtv) schildert Ijoma Mangold, wie sogar er, der Literaturkritiker, der Faszination Bitcoin verfiel. Ich persönlich interessiere mich sehr für Kryptowährungen und bin überzeugt, dass sie in Zukunft fester Bestandteil unseres Alltags sein werden. Ich bin gespannt, wie der Literaturkritiker die Sache sieht. Vielleicht vorher noch Goethe lesen? Immerhin war der auch Finanzminister. Und in Faust II spielen Geld und Inflation eine Hauptrolle.
Ijoma Mangold: Die orange Pille. Warum Bitcoin weit mehr als nur ein neues Geld ist. Der Autor im Gespräch mit Jens-Christian Rabe (Süddeutsche Zeitung). 28. April, 15 Uhr, Medienforum, Halle 5, Stand C 501.
Feministische Comics | Von Marlene Riedel, Projektmanagerin Leipzig liest
Die 1978 in Lund geborene Liv Strömquist ist in der DIY-Szene der 1990er Jahre groß geworden; mit Mitte 20 gab sie ein Comic-Fanzine heraus, das von Punk und der amerikanischen Riot Grrrl-Bewegung inspiriert war. Heute gehören ihre augenzwinkernden, minutiös recherchierten Sachcomics zu den erfolgreichsten Graphic-Novels weltweit. Die fünf Strömquist-Werke, die seit 2017 beim Berliner Avant Verlag erschienen sind, habe ich alle verschlungen – nun bin ich gespannt auf den neuen Streich. „Mit Astrologie sollte man sich gar nicht erst einlassen“, meinte zwar Liv Strömquists 74jährige Mutter – wie man in einem der Panels nachlesen kann. Dennoch heißt das Buch genauso: Astrologie (Avant). Der Tierkreis wird als Rahmen benutzt, um uns Menschen zu unterhalten. Dümmer wird man bei Liv Strömquist sowieso nie. Wenn ihr mich fragt: Ein Astrologiebuch für alle, die Astrologie hassen!
Liv Strömquist: Astrologie. Die Comic-Autorin im Gespräch über ihr neues Buch. 28. April, 15.30 Uhr, Nordisches Forum, Halle 4, Stand C 310.
In der Stadt tritt Liv Strömquist bei der Nordischen Lesenacht in Connewitz auf: 28. April, 19 bis 30.30 Uhr, Werk 2, Halle A, Kochstraße 132.
Widerstand in finstersten Zeiten | Von Kerstin Krämer, Projektdirektion Bildung, Kinder+Jugend, Manga-Comic-Con; Leitung Messemanagement
In ihrem Buch Seit ich weiß, dass du lebst. Liebe und Widerstand in finstersten Zeiten (Hentrich & Hentrich) begibt sich Nora Goldenbogen auf die Spuren der Lebensgeschichte ihrer Eltern. Ihr Vater überlebte das KZ-Sachsenhausen, ihre Mutter, eine rumänische Jüdin, die Verfolgung in Bukarest. Die Dresdner Historikerin zeichnet die bewegende Liebes- und Leidensgeschichte ihrer Eltern Netty und Hellmut Tulatz nach. Nora Goldenbogen erzählt eng entlang historischer Quellen und Dokumente, sie tut dies aber aus einer sehr persönlichen Sicht. Das macht ihr Buch authentisch und ergreifend. In Zeiten, da Antisemitismus in Deutschland weiter zum Alltag gehört – mehr als fünf antisemitische Straftaten pro Tag zählte das Bundesinnenministerium 2022! – ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur. Vielleicht braucht es solche Geschichten, um uns Mut zu machen für unsere ganz eigenen Entscheidungen zur Wahrheit?
Nora Goldenbogen: Seit ich weiß, dass du lebst. Liebe und Widerstand in finstersten Zeiten. Lesung und Gespräch mit Nora Pester. Jüdische Lebenswelten, 28. April, 18 Uhr, Ariowitsch-Haus, Hinrichsenstraße 14.
Doppelleben | Von Anja Kösler, Leipzig liest Stadtprojekte
Leipziger Messe AG , Kommunikation Team
„Ich war ein Vagabund, ein Stadtstreicher, ein Lumpensammler, ein Niemand und weiter nichts.“ So schreibt Arno Geiger über sein Leben mit Anfang bis Mitte 20, als er studierte, Schriftsteller werden wollte, aber mit seinen Plänen nicht weiterkam. Das glückliche Geheimnis (Hanser), Arno Geigers bisher persönlichstes Buch, verwebt sein Doppelleben als Containertaucher und werdender Schriftsteller mit wesentlichen Lebensstationen, mit den gewundenen Pfaden der Liebe, mit Krankheit und Tod von Eltern und Freunden und mit den Erfahrungen des Literaturbetriebsteilnehmers. Dass der Joseph-Breitbach-Preisträger des Jahres 2018 nun auf Einladung der Breitbach-Stiftung in die Albertina kommt, ist eine große Freude.
Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis. Leseabend der Stiftung Joseph Breitbach. 29. April, 20 Uhr, Bibliotheca Albertina, Beethovenstraße 6.
Depressiv in Dresden | Von Sarina Libramm, Projektassistentin
Ohne Schulabschluss, Hartz-IV-Empfängerin, Instagram-affin: Marlen Hobrack erzählt in Schrödingers Grrrl (Verbrecher Verlag) die Geschichte von Mara Wolf, die aus dem Nichts kommt und einen Roman über ihr Lebensgefühl schreibt, der den Literaturbetrieb elektrisiert. Dabei wird Mara zu einer Hochstaplerin wider Willen… Ich war bereits von Hobracks autobiografischen Sachbuch „Klassenbeste“ (Hanser 2022) begeistert, in dem sie mit Mittelklassemythen von Chancengleichheit und sozialem Aufstieg aufräumt – und auch ihre Herkunft aus Ostdeutschland explizit zum Thema macht. Umso gespannter bin ich jetzt auf ihren ersten Roman.
Marlen Hobrack: Schrödingers Grrrl. Lesung und Gespräch mit Verbrecher-Verlegerin Kristine Listau. 27. April, 12 Uhr, Leseinsel Junge Verlage, Halle 5, Stand C 200.
Das Ganze im Kleinsten entdecken | Von Darja Piekarz, Praktikantin
Wer auf die Details achtet, hat mehr vom Ganzen. Das ist die These der Kunsthistorikerin Wieteke van Zeil. Ihre Bildbetrachtungen sind sehr inspirierend. Ihr neues Buch Sieh mehr! Wie Kunst unser Denken bereichert (E. A. Seemann) zeigt nicht nur die Schönheit der Kunst, sondern gibt uns eine klare Maxime mit: Schärfe den Blick für die Feinheiten – und bilde dir erst dann eine Meinung! Als kunstinteressierte Leipzigerin freue ich mich, einen regionalen Verlag unterstützen zu können und auf einen Abend in einem der schönsten Museen der Stadt!
Wieteke van Zeil: Sieh mehr! Wie Kunst unser Denken bereichert. Lesung und Gespräch mit Verlegerin Annika Bach. 28. April, 20 Uhr, Grassi Museum für Völkerkunde, Johannisplatz 5-11.
Coming-of-Age | Von Romana Czajka, Werkstudentin
Fünf Julias (Magas Verlag) spielen in dem gleichnamigen Jugendroman von Matheus Souza zwischen Rio und Sao Paulo die Hauptrollen. Die Protagonistinnen, fünf Mädchen namens Julia, sind 18 Jahre alt. Sie sind schwarz oder weiss, dick oder dünn – und durchweg schön. Plötzlich jedoch versinkt ganz Brasilien aufgrund eines gigantischen Hacks in den Sozialen Medien im Chaos: Wer den Namen einer Person im Netz eingibt, kann sämtliche ihrer E-Mails, Chats und Posts einsehen – was auch das Leben unserer Protagonistinnen völlig aus der Bahn schießt. Ich finde die Thematik des sorglosen Umgangs mit den Sozialen Medien spannend – und möchte mir gar nicht vorstellen, dass ich einmal von so einem Hack betroffen sein könnte. Die „Fünf Julias“ jedenfalls stellen jede brasilianische Soap gendergerecht in den Schatten. Auch cool: Übersetzerin Petra Bös hat eine Spotify-Playlist erstellt, die in chronologischer Reihenfolge alle 92 (!) im Buch erwähnten Songs enthält.
Matheus Souza: Fünf Julias. Lesung. 29. April, 13.30 Uhr, Lesetreff, Halle 3, Stand B 400.
Tagebuch eines Lebens | Von Sarah Annowsky, Projektassistentin
Wenn die Marketing-Managerin und Pferdetrainerin Aylin Hoffmann ein Buch schreibt, kommt, logisch, auch ihr Lieblingspferd Calimero, Spitzname Cali, vor. In erster Linie ist Du kriegst ihn nicht natürlich ein Thriller, in dem, als eine junge Frau den Chatverlauf ihres Freundes liest, eine ganz normale Beziehung ins Rutschen kommt. Es geht um Nichtloslassenkönnen, um eine toxisch gewordene Beziehung – was einigermaßen harmlos beginnt, entwickelt sich rasch zu einer Achterbahn der Gefühle. Für ihren Roman hat Aylin Hoffmann eigene Erlebnisse verarbeitet: Ein Tagebuch als Spannungsroman, das klingt nach einer aufregenden Mischung. Wer wissen möchte, wie sich Dichtung und Wahrheit zueinander verhalten, kann Aylin Hoffmann nach der Lesung auf dem Schwarzen Sofa direkt fragen.
Aylin Hoffmann: Du kriegst ihn nicht. Lesung im Rahmen des KSM Anime Panel. 28. April, 11 Uhr, Schwarzes Sofa, Halle 1, Stand C 400/A 401.
2021 war Judith Hermann mit ihrem Roman „Daheim“ (S. Fischer) für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Ich habe das Buch vor zwei Jahren regelrecht verschlungen, da ich mich in der Protagonistin so sehr selbst wiederfinden konnte: Sowohl die Idee, in der Lebensmitte einen Neuanfang zu wagen, als auch das Meer als Zufluchtsort zu wählen, haben mich sehr fasziniert. Nun also Wir hätten uns alles gesagt (S. Fischer). Konjunktiv II, Irrealis. Da ist man sich sicher übers Unsichere. „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“, so lautet der Untertitel von Hermanns im letzten Jahr an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main gehaltenen Poetikvorlesung. Judith Hermann hat das Schreiben übers Schreiben am Ende vermieden; ihre Vorlesung ist am Ende eher selbst eine Erzählung. Eine, in der sich viel Privates verbirgt. Ich bin sehr gespannt auf die Begegnung mit Judith Hermann im Leipziger Literaturhaus.
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt. Lesung und Gespräch mit Thorsten Ahrend. 26. April, 19.30 Uhr, Literaturhaus Leipzig, Gerichtsweg 28.
Şeyda Kurt, in Ihrem im März erscheinenden Buch „Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ führen Sie an Orte des Hasses wie Hanau oder Istanbul, Sie führen in die queere Community, Sie führen aber auch an den Küchentisch Ihrer Mutter. Die Frage, die Sie umtreibt: Wer darf hassen? Was macht diese Frage so zentral?
Şeyda Kurt: Das „Wer“ ist eine zentrale Frage für mich, weil es sehr viel über Herrschaftsverhältnisse, über Ohnmacht und Handlungsfähigkeit erzählt. Es gibt ja Begriffe und Themen, die auch in liberalen Gesellschaften sehr moralisch aufgeladen sind: Wenn etwa Politiker*innen nach rassistischen Anschlägen wie in Hanau sagen: „Hass hat bei uns keinen Platz!“ Wir wissen, dass das nicht stimmt. Außerdem sollte man innehalten und fragen: Um wessen Hass geht es eigentlich? Wir sehen oft die Tendenz, dass Opfer von Faschismus, Rassismus oder Misogynie abgesprochen wird, dass sie selbst auch hassende Subjekte sein können – einfach, weil sie Zielscheibe von Hass sind. Stattdessen müssen sie immer wieder beweisen, dass sie selbst nicht hassend sind. Um sich als Opfer eine Legitimation zu verschaffen, dem eigenen Leid, dem durchgemachten Trauma Gültigkeit zu verschaffen. Das passiert den „Samstagsmüttern“ in Istanbul, die wegen ihrer durch den Staat verschleppten Söhne und Männer demonstrieren, aber auch den Angehörigen der Opfer des Terroranschlags von Hanau.
Gibt es eine dunklen, einen hellen Hass?
Kurt: Mir geht es darum, den Hass aus der Versenkung herauszuholen, mir geht es um die Sichtbarmachung seines widerständigen Potentials. Letztendlich interessiert mich tatsächlich auch ein Hass, der Zärtlichkeit hervorbringen kann. So paradox das auch klingt.
Aber ist Hass nicht allgegenwärtig?
Kurt: Ja, wir haben in den letzten Jahren sehr viel über Hass gesprochen, von Pegida bis zur Reichsbürgerszene. Mich haben vor allem die Gefühle der Menschen interessiert, die zur Zielscheibe wurden, Menschen, über die nicht so oft gesprochen wird. Egal ob ihr Hass berechtigt ist – es gibt ihn. Ihre Geschichte möchte ich nachzeichnen. Wenn Menschen Gewalt geschieht, können sie oft nicht einfach abschließen. Sie sind traumatisiert, sitzen oft in einer Vergangenheit fest, die sich ständig wiederholt. Zu einer Aushandlung über die Konsequenzen auf Augenhöhe kommt es fast nie…
Es geht aber nicht um ein biblisches „Auge um Auge, Zahn um Zahn“?
Kurt: Der angeblich rachsüchtige Gott des Ersten Testaments… viele Theolog*innen legen das anders aus: Es soll nicht eine Gewalttat mit einer anderen vergolten werden. Aber den von Gewalt Betroffenen steht eine Aushandlung auf Augenhöhe zu, was jetzt auf die Gewalt folgen soll. Das hat nichts mit „vergeben und vergessen“ zu tun. Vergebung muss erst verdient werden.
Hier höre ich Ihre Erfahrung aus der Arbeit mit dem Hanau-Komplex mit heraus…
Kurt: Es ist das, was die Angehörigen nicht müde werden zu sagen: Ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben. Eine Gerechtigkeit, die die Perspektive der Betroffenen – und sei es mit ihrem Hass! – mit einbezieht.
Hass lässt sich nicht wegdiskutieren…
Kurt: Das ist die politische Ebene, die sich mit der biografischen verbindet. Im Buch schreibe ich auch sehr viel entlang meiner Biografie – etwa die Art und Weise, wie ich erzogen worden bin, wo Bestrafung eine große Rolle gespielt hat. Auch darauf habe ich als Kind mit einer gewissen Form von Hass reagiert.
Sie gelten als sehr meinungsfreudige Publizistin – wie schätzen Sie den Stand der Debattenkultur im Deutschland des Jahres 2023 ein?
Kurt: Allein der Umstand, dass ich nach Leipzig eingeladen wurde, zeigt, dass aus meiner perspektive viele Sachen ganz gut laufen. Dass es eine gewisse Öffnung, eine Pluralität der Stimmen gibt. Auf der anderen Seite wird in den Medien noch immer sehr stark in Binaritäten gedacht, etwa in den Reaktionen auf Putins Angriffskrieg. Emanzipatorische, feministische und zugleich konsequent anti-militaristische Perspektiven, die für Rechte nicht anschlussfähig sind, kommen nicht vor. Die Pandemie hat vieles noch verschärft: Sie hat viele Menschen isoliert, vereinzelt. Viele haben – jenseits ihrer Internet-Bubbles – oft einfach verlernt zu debattieren. Es ist etwas anderes, einem konkreten Menschen in die Augen zu schauen, als sich auf einer Internet-Plattform anzuschreien.
Auf Twitter geht es ordentlich zur Sache…
Kurt: Deswegen bin ich dort nicht mehr so gern unterwegs (lacht). Natürlich habe ich mir über Twitter eine gewisse Reichweite aufgebaut. Aber eigentlich bin ich diese verkürzenden Ping-Pong-Debatten leid.
Gibt es Alternativen? Den Mikroblogging-Dienst Mastodon?
Kurt: Ich finde, Instagram funktioniert schon ein bisschen anders als Twitter. Man kann – ich mache das ganz gern – auch längere Texte schreiben. Obwohl das vom Algorithmus noch nicht belohnt wird… Ich konzentriere mich inzwischen wieder sehr stark auf persönliche Gespräche, in meinem Kiez zum Beispiel. Mit Menschen, mit denen ich mich vor Ort organisiere. Ich merke, dass mich das sehr erdet.
Welche Rolle können Räume wie Leipziger Buchmesse und dort das Forum offene Gesellschaft spielen?
Kurt: Die große Chance bei Debatten, die sich um Literatur herum entspinnen, ist, dass sie die Geschwindigkeit von uns allen etwas herunterbremst, uns zu uns selbst kommen lässt.
Das Forum offene Gesellschaft ist ja eher als gesellschaftspolitischer Resonanzraum gebaut…
Kurt: Alexander Kluge hat mal sinngemäß in einem Radiointerview gesagt, dass es darum gehen müsse, die Debatte aus der Horizontalen herauszuholen – und in die Vertikale zu bringen. Also nicht sich nur an der Oberfläche bewegen und in denselben Floskeln und Reaktionen verharren. Sondern bei einer Sache bleiben und die so gründlich erforschen, wie man irgend kann. In Gespräche zu gehen, die auch mal wehtun. Ich bin gespannt, was im April passiert!
Sehen Sie die Gefahr, immer in der eigenen Bubble zu bleiben? Lässt sich das irgendwie aufbrechen?
Kurt: Letztlich bringt das grundsätzliche Fragen nach sozialer Gerechtigkeit ein Innehalten mit sich: Wer kann sich denn eigentlich Bücher leisten? Wer nimmt sich tatsächlich Zeit, auf Messen zu gehen, und die Gespräche zu verfolgen? Vielleicht sogar mitzudiskutieren, in so einem Forum.
Können Bücher die Welt verändern?
Kurt: Für mich verändern Menschen die Welt. Aber Bücher können Menschen dabei motivieren, sie mobilisieren und ihnen Kraft geben.
Zur Person:
Şeyda Kurt, geboren 1992 in Köln, studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. Als freie Journalistin und Kolumnistin schreibt sie für unterschiedliche Print- und Onlinemedien, darunter Zeit Online. Als Redakteurin arbeitete sie an dem Spotify-Originalpodcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“, der 2021 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr zählte das Medium Magazin das Redaktionsteam zu den Journalistinnen des Jahres. In ihrem Buch „Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist“ (2021) untersuchte sie Liebe im Kraftfeld von Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus. Mitte März erscheint ihr neues Buch „Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ bei HarperCollins.
Der Buchhandel ist der wichtigste Partner der Leipziger Buchmesse, die deutschsprachige Literatur einer ihrer Schwerpunkte. Unter dem Motto „Your Place to read“ lesen ab März Autorinnen und Autoren in 12 Buchhandlungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Messe zahlt Honorare und Reisekosten aus Fördergeldern der Kulturstaatsministerin. Los geht’s am 9. März bei Lessing und Kompanie in Chemnitz: Jutta Hoffritz (Verlagsgruppe HarperCollins) und Christian Bommarius (dtv) sprechen mit Moderatorin Melanie Longerich (Deutschlandfunk) über das deutsche Schicksalsjahr 1923 und ihre Bücher zum Thema.
Für Buchhändler Klaus Kowalke ist der Start auf dem Chemnitzer Kaßberg eine super Reverenz an die Kulturhauptstadt in spe. Der Kaßberg, eines der größten Gründerzeitviertel Deutschlands, ist eher kein Hipster-Biotop. Dennoch ist miteinander leben hier mehr, als Amazon- und Zalando-Päckchen für den abwesenden Nachbarn anzunehmen. Hier eröffneten Kowalke und seine Partnerin Susanne Meysick im März 2008 ihre Buchhandlung „Lessing und Kompanie“ – ein wunderbarer Link von der Chemnitzer Theodor-Lessing-Straße zu Sylvia Beachs Traumbuchhandlung Shakespeare & Co. in Paris.
Wir nehmen den Start der Buchhandelstour zum Anlass, um mit Klaus Kowalke über Buchhandlungen als Lese-Orte und Magneten für Literatur- und Kultur-Interessierte zu sprechen. Aber auch über die Leidenschaft, mit der Buchhändlerinnen und Buchhändler landauf, landab immer wieder neue, spannende Begegnungen zwischen Autoren und Leser-Gemeinde organisieren.
Normalerweise ist Lesen ein einsames Geschäft – bei Lesungen begegnet man anderen Buch-Fans und Autoren (c)nk
Hand aufs Herz, Klaus: Sind Lesungen für Dich die Königsdisziplin, wo Du als Buchhändler Deinen kuratorischen Ehrgeiz ausleben kannst? Oder der Ausgangspunkt von viel Arbeit und häufigem Heimkommen weit nach Mitternacht?
Klaus Kowalke: Lesungen und andere Veranstaltungsformate machen riesigen Spaß – aber auch jede Menge Arbeit. Wir bekommen sehr viele Anfragen von Verlagen, auch von Autorinnen und Autoren direkt. Oft müssen wir ‚Nein’ sagen, wir könnten sonst an allen 365 Tagen des Jahres mehrere Lesungen anbieten. Bedenkt man, dass das alles seriös finanziert werden soll – wer bei uns auftritt, soll ein faires Honorar erhalten, dazu kommen Reise- und Übernachtungskosten – müssen wir sorgfältig auswählen.
Qual der Wahl: Klaus Kowalkes privater Lesetisch (c) LuK
Wie viele Veranstaltungen macht ihr pro Jahr?
Kowalke: Bis zur Corona-Pandemie haben wir in der Regel jeden zweiten Donnerstag im Monat eine Lesung angeboten, ab 2020 haben wir dann auch mit kleineren Open-Air-Formaten experimentiert, die tagsüber vor der Buchhandlung liefen, quasi mitten im laufenden Straßenleben.
In Corona-Zeiten habt ihr begonnen, auch andere Genres zu bespielen, zuallererst die Musik?
Kowalke: Wir haben im Lockdown mit befreundeten Musikern der Robert-Schumann-Philharmonie gesprochen, die auch nicht auftreten konnten. So wurde der „FreitagsLuK“ geboren; von Mai bis September, den ganzen Sommer über, gab es die letzten beiden Jahre immer freitags 19.30 Uhr Konzerte mit wechselnden Beteiligten vor dem Laden. Wir haben das mit kleinem Geld, aus eigener Tasche finanziert. 2022 gab es dann sogar eine Mikroprojekt-Förderung der Stadt.
Im Sommer gibts jeden Freitag auf die Ohren: Die Kaßberg-Philharmoniker vor der Buchhandlung (c) LuK
Wie plant ihr eure Lesungen? Nach welchen Kriterien wählt ihr aus?
Kowalke: Wir arbeiten die Vorschauen mit den Novitäten durch, überlegen dabei, welche Autorinnen und Autoren zu uns passen könnten. Belletristik nimmt den Löwenanteil ein, auf zehn Lesungen kommt vielleicht ein Sachbuch. Aber wir versuchen, einen guten Mix herzustellen, bei uns ist auch für Fantasy oder Kinderbücher Platz. Wir nehmen auch Anregungen von unseren Kundinnen und Kunden auf. Am Ende gilt immer: Wenn wir schon Leute einladen, muss es auch uns selbst Spaß machen.
Ob Newcomer oder prominente Autorinnen wie hier Marion Brasch: alle zwei Wochen wird auf dem Kaßberg gelesen (c) LuK
Gegenwärtig hört man häufiger von zögerlich besuchten Kinos und Theatern – wie ist das mit euren Lesungen?
Kowalke: Es ist schwieriger geworden. Das Eintrittsgeld ist kein wirklicher Bestandteil der Finanzierung, eher der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Dabei bemühen wir uns schon um eher günstige Preise. Eine klassische Lesung kann man bei uns in der Regel für zehn Euro erleben. Aber die Infrastruktur kostet ja auch, von Strom, Wasser und Heizung bis zu den Überstunden des Personals!
Lesende Tätigkeit: Co-Chefin Susanne Meysick bei der Arbeit (c) LuK
Nicht alle Veranstaltungen finden bei euch im Laden statt?
Kowalke: In den letzten Jahren sind wir mit größeren Lesungen regelmäßig ins „Metropol“ gegangen, ein imposantes Kino, das 1912/13 am Fuß des Kassbergs, in der Zwickauer Straße, errichtet wurde. Wenn’s voll ist, sind alle glücklich, aber du kannst auch Pech haben: Vor einer Lesung von Nino Haratischwili, die sehr stark nachgefragt war, gab es Eisregen, so dass am Abend ‚nur’ 80 Leute kamen. Hin und wieder sind wir auch im Club „Atomino“ oder im „Weltecho“ gewesen; das Gros der Veranstaltungen findet aber hier im Laden statt.
2014 fiel der Startschuss für euer ungewöhnliches Projekt „EinhundertMeter Weihnachtsmarkt“, bald darauf kam „EinhundertMeter Sommer“ dazu. Was ist da passiert?
Kowalke: Das hat mit dem besonderen Charakter des Kassberg zu tun, wir sind eine gute Nachbarschaft. Der Weihnachtsmarkt sollte Anwohner und Händler zusammenbringen. Uns schwebte ein Straßenmarkt der etwas anderen Art vor, einer, der eben nicht auf der Straße stattfindet – und damit das Ordnungsamt auf den Plan rufen würde. Mit rund 30 befreundeten Geschäften, Initiativen, Künstlern und Musikern aus der ganzen Stadt wurden die privaten Vorgärten und Freiflächen vor den Häusern der oberen Franz-Mehring-Straße in eine turbulente Meile verwandelt, dazu gab es an zwei Tagen nicht nur Glühwein und Kuchen, sondern auch ein opulentes Kulturprogramm – vom Bläserensemble der Chemnitzer Mozart-Gesellschaft bis zum Geigenkonzert und mehreren Chören. Wir holten keine gewerbliche Gastronomie dazu, der Reiz des Ganzen besteht im ‚handgemachten’ Charakter. Zur Premiere kamen rund 3000 Chemnitzer, im Jahr darauf waren es an die 5000, inzwischen reisen Leute aus dem Umland an. Bei der Sommermeile gibt es immer ein Motto, und eine Jury aus Chemnitzer Promis, die wir Buchhändler zusammentrommeln, entscheidet, wer die beste Idee hat. Als Preis winkt ein opulenter Warenkorb, der von allen beteiligten Händlern bestückt wird.
Folk & Electronica: Foreghost spielen auch zum Buchhandlung-Jubiläum (c) LuK
Was zeichnet für Dich eine ideale Lesung aus?
Kowalke: Sowohl die geladenen Autorinnen und Autoren wie auch das Publikum sollen sich wohl fühlen. Idealer Weise ist es ein Abend mit Mehrwert für alle – in ganz seltenen Fällen wird daraus ein unvergessliches Erlebnis. So war es bei uns 2019, als wir am Vorabend der PEN-Jahrestagung in Chemnitz zu einer klitzekleinen Lesung mit Leuten aus dem damaligen Vorstand eingeladen hatten. Am Ende war die Bude proppenvoll, die Leute saßen sich auf dem Schoß, wildfremde Menschen haben Freundschaft geschlossen. Es war ein Traum!
Eure Buchhandlung feiert im März ihren 15. Geburtstag – am Ende auch mit einer Lesung?
Kowalke: Der 29. März liegt mitten in der Woche, aber wir wollen genau am Gründungstag feiern. Es wird eine Kinderbuch-Lesung mit Rusalka Reh geben, das Kraftwerk-Ensemble der Robert-Schumann-Philharmonie wird ein einstündiges Umsonst & Draußen-Konzert geben, und abends spielen unsere Freunde von Foreghost einen Mix aus Folk und Electronica. Es kann nur großartig werden.
Betreiben seit 15 Jahren Lessing und Kompanie in Chemnitz: Susanne Meysick und Klaus Kowalke (c) LuK
Nach Lehrjahren in Druckereien, Buchhandlungen und Verlagen gründete der 1901 in Karlsruhe geborene Otto Müller 1937 in Salzburg sein eigenes Unternehmen. Was ihm vorschwebte, war so etwas wie ein Universal-Verlag, in dem von der Lyrik bis zum Sachbuch, vom Unterhaltungsroman bis zur theologischen Studie alles seinen Platz haben sollte. Von der Gestapo verhaftet, wurde er unter der Auflage freigelassen, seinen Verlag zu liquidieren; erst im Frühjahr 1945 konnte er darangehen, sein Haus neu aufzubauen.
Als Arno Kleibel den Verlag seines Großvaters im Oktober 1986 übernahm, war er 25 Jahre jung und, trotz Buchhandels-Lehre, blutiger Anfänger in der Branche. Am ersten Arbeitstag ein Grundkurs Pressearbeit, das erste Interview auf der Frankfurter Buchmesse. Zurück in Salzburg der erste Autoren-Anruf, am Apparat: H.C. Artmann. Der Autor, dessen 100. Geburtstag bei unseren Nachbarn heuer groß gefeiert wird, hatte das Buch, mit dem er berühmt wurde, 1958 bei Otto Müller verlegt: „Med ana schwoazzn Dintn“, Startauflage 4000 Exemplare, innerhalb von sechs Monaten wurde dreimal nachgedruckt.
H. C. Artmann, einer der Hausgötter von Otto Müller, hätte 2021 seinen 100. Geburtstag gefeiert (c)nk
Viel erfolgreicher, zumal nach Premiere der ersten Verfilmung mit Fernandel und Gino Cervi, war in den 1950er Jahren Giovanni Guareschis „Don Camillo und Peppone. Heute schätzt man das Salzburger Traditionshaus für ausgezeichnete Belletristik, von Georg Trakl über Srečko Kosovel bis zu Ana Marwan. Eben hat die junge Bachmann-Preisträgerin des Jahres 2022 den Herausgeber-Staffelstab der bei Otto Müller verlegten Zeitschrift „Literatur und Kritik“ von Karl-Markus Gauß übernommen.
Die Rechte am Werk Georg Trakts hatte Otto Müller schon 1937 erworben (c)nk
Entdeckt ein kleinerer österreichischer Verlag wie Otto Müller ein großes literarisches Talent wie die 1977 im siebenbürgischen Hermannstadt geborene Iris Wolff, weckt das rasch die Begehrlichkeiten von Verlagen im Nachbarland – seit „Die Unschärfe der Welt“ (2020) erscheinen Wolffs Bücher bei Klett-Cotta in Stuttgart. „Verpuppt“, der zweite Roman von Ana Marwan, ist jedenfalls Ende Jänner bei Otto Müller erschienen – die Klagenfurt-Siegerin wird damit auch in Leipzig zu erleben sein.
Profi für Förderanträge: Robert Stocker, Leiter der Literaturabteilung im Ministerium für Kunst und Kultur (c)nk
Warum Österreich vor allem ein Land der kleinen Verlage ist und wie diese gefördert werden, erfahren wir bei Robert Stocker, Leiter der Literaturabteilung im Ministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport. „Die 1992 ins Leben gerufene Verlagsförderung“, sagt Stocker, „ist ein interessantes Modell, auch auf europäischer Ebene“. Damals brachen größere Player und Finanziers im Verlagssektor weg: So wurde im Oktober 1991 – nach über 100 Jahren wechselvoller Geschichte – die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung (AZ) eingestellt; Anfang der Nullerjahre ist der Bundesverlag verkauft worden. Die Verlagsförderung basiert auf drei Säulen: Sie ist zum einen als Kultur- nicht als Wirtschaftsförderung angelegt, es werden ganze Programme gefördert, förderwürdig sind auch Werbe- und Vertriebsmaßnahmen. Rund 35 bis 40 Publikumsverlage erhalten so in mehreren Tranchen pro Jahr insgesamt rund drei Millionen Euro.
Lesetipps:
H. C. Artmann: Med ana schwoazzn dintn. Gedichte. Otto Müller Verlag, 96 Seiten, 23 Euro.
Ana Marwan: Verpuppt. Roman. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Otto Müller Verlag, 220 Seiten, 24 Euro.
Einem Mann wie Jörg Wagner, der seine Dienste gewöhnlich geräuscharm im Bauch des Buchmessetankers versieht, ist es wohl nicht an der Wiege gesungen worden, dass er einmal die Buchmesse grundlegend mitgestalten würde. Wir lernen uns in jenem denkwürdigen Jahr 2021 kennen, als er mit dem Team seiner Firma SHOW concept die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse notgedrungen auf die Bühne der Kongresshalle am Zoo und ins Netz stellte. Keine triviale Aufgabe, galt es doch, im je rechten Moment 17 Nominierte aus allen möglichen Welt-Gegenden per Video zuzuschalten – vom Neu-Metelner Bauernhaus der Helga Schubert bis zum Schweizer Residuum Christian Krachts. Kein Wunder also, dass es im – kein Witz! – ehrwürdigen Wagner-Saal der Kongresshalle so aussah wie in einer Server-Farm im Silicon Valley.
Damals galten, wir erinnern uns, die Ausnahmegesetze einer Pandemie – und Wagner, der seit vielen Jahren als Regisseur und Produzent der Preisverleihung fungierte, war mit seinen Profis früh in die Vorplanung involviert. „Wir waren dankbar, dass die Buchmesse beschlossen hatte, die Preisverleihung in einer neu gedachten Bühnen-Situation hybrid umzusetzen.“ Gelaufen ist es damals ein wenig nach dem Vorbild von „Hart aber fair“ – die Zuschaltung sämtlicher Nominierter über Displays erforderte ein starkes Internet und „redundante Stromversorgung“. Was, so klärt Wagner auf, hier nichts Anderes bedeutete als „doppelt abgesichert“, also: Feststrom plus Notstromaggregat. „Wir hatten für jede Schaltung einen separaten Rechner, ein Medienserver verwaltete die Einzeladressen zentral. Und es hat – toi, toi, toi! – alles funktioniert.“ Gemessen am Einsatz zu einer ‚normalen’ Buchmesse war es sicher nicht das umfangreichste Projekt von SHOW concept. „Für uns war es jedoch so etwas wie ein Ritterschlag, weil wir praktisch auf Mausklick alles abrufen mussten, was die Duplizität von ‚Präsenz’ und ‚Digital’ erfordert.“
Als Jörg Wagner 1966 in Lößnitz, am Fuß des Erzgebirges, geboren wurde, waren solche Events in etwa so weit entfernt wie die Mondlandung. Wagner wollte Lehrer für Polytechnik werden, eine Fächer-Kombination, die es so nur in der DDR gab. Jörg Wagner hätte also 1989 noch ein Studium an der damaligen TU Chemnitz draufsatteln müssen – da sein erster Sohn unterwegs war, entschied sich der werdende Vater für einen doppelten Sprung ohne Netz in den Kapitalismus und heuerte als Vertriebler bei einem Tabak-Konzern an. Nachdem er dabei auch Berührung mit Großveranstaltungen gemacht hatte, tat er sich mit seinem alten Schul-Kumpel Thomas Jähne zusammen – und gründete SHOW concept, die heute von beiden gemeinsam geführt wird; 1994 noch als Full-Service-Agentur in Chemnitz. Wenig später konzentrierte man sich auf die technische Umsetzung von Veranstaltungen, schaute sich auch jenseits des lokalen Tellerrands um – und wuchs durch Partnerschaften, etwa mit der PSR Mediengruppe. Im Jahr des WM-Sommermärchens 2006 gab es erste Zusammenarbeiten mit der Leipziger Messe, inzwischen darf sich die Firma mit 16 Mitarbeitern ganz offiziell als „Servicepartner“ von FAIRNET und Leipziger Messe. Seit 2015 hat SHOW concept, neben neu hochgezogenen Büros und einer Lagerhalle nahe der Leipziger Messe, eine feste Homebase direkt auf dem Messegelände.
Die Branche, in der Jörg Wagner mit seinem Team unterwegs ist, nimmt man natürlich wahr. „Aber viele denken: Die bauen ein paar Zelte auf und machen buntes Licht!“ Weit gefehlt – es gibt inzwischen jede Menge Standards, die zu beachten sind. Lange waren die Türen auch für Seiteneinsteiger wie Wagner und Jähne offen, seit 2002 gibt es strenge fachliche Qualifikationsvorschriften. „Von Woodstock bis dahin war High-Life“, lacht Wagner. „Inzwischen ist das Zertifikat der Standard.“ Jörg Wagner hat sich berufsbegleitend ständig weiterqualifiziert: Er ist Meister für Veranstaltungstechnik, hat sogar den Fachmeister für Veranstaltungssicherheit gemacht – und bildet in der Firma auch aus. Derzeit gehören vier Azubis zur Belegschaft. Neben dem Auf- und Abbau von Traversen, Licht, Ton und Video ist SHOW concept auch in die Planungstätigkeit der Messe und die Entwicklung von Sicherheitskonzepten involviert. Im Auftrag der FAIRNET können auch ganze Foren nebst Veranstaltungstechnik für Aussteller schlüsselfertig bereitgestellt werden; als Paradebeispiel hierfür gilt etwa die LVZ-Arena.
Lampenfieber kennt Jörg Wagner eher nicht; in der Veranstaltungs-Branche sprechen sie lieber von der „Ein-Fehler-Sicherheit“. Das heißt? „Sollte ein Fehler passieren – muss die Redundanz greifen.“ So hatte man in Pandemie-Zeiten mit mehr Personal geplant, um bei möglichen Corona-Fällen auf der sicheren Seite zu sein. Durch die Pandemie-Jahre, in denen die Branche insgesamt ziemlich gebeutelt wurde, ist SHOW concept vergleichsweise gut gekommen. Antizyklisch haben die Sachsen in Personal und Weiterbildung der Mitarbeiter investiert. Im letzten Jahr wurde sogar ein Fachinformatiker eingestellt. „Der Videotechniker aus den 1990er Jahren“, weiß Wagner, „muss heute Netzwerk können.“ Monitore, LED-Wände, dutzende Zuspielvarianten – IT spielt heute eine zentrale Rolle im Berufsalltag „Die Kunst der kommenden Jahre wird darin liegen, die Präsenz-Veranstaltungen, die wir alle lieben und für die wir brennen, zu perfektionieren. Und gleichzeitig im Digitalen weiterzukommen.“ Vor der Buchmesse Ende April, dem Neustart nach der Corona-Zwangspause, haben Wagner und seine Kollegen und Kolleginnen Respekt. Aber die Vorfreude ist allen bei SHOW concept, von den Chefs bis zum Lehrling, deutlich anzumerken. Sepp Herbergers goldenen Worte gelten natürlich auch hier: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“
Wer schon einmal das Drehkreuz zwischen Pressezentrum und Halle 1 des Neuen Messegeländes passiert hat, ist der freundlichen Frau mit den sorgfältig frisierten rötlichen Haaren wahrscheinlich begegnet. Mit Sicherheit, ohne darüber groß nachzudenken. Wer indes nicht atem- und blicklos zu einem Termin hastet – mit einem Piepton wird der Strichcode des Messe-Ausweises gescannt – dem fällt auf, dass die Frau hier keinen Job herunterreißt. Sondern das, was sie tut, gern und mit Freude erledigt. Man merkt es an ihrem offenen Blick, einem Lächeln, der Art, wie sie Fragen beantwortet. Normalerweise geht ihre Schicht von neun bis 18 Uhr. Heute, am ersten Tag der Messe Partner Pferd hat Maria Rehm schon um 13 Uhr Feierabend – und wir sind in der Lobby des Verwaltungsgebäudes auf einen Kaffee mit ihr verabredet.
Maria Rehm war Lohnbuchhalterin bei der Deutschen Reichsbahn; das Ost-Pendant zur Bundesbahn hieß zu DDR-Zeiten tatsächlich so. Nach der Vereinigung zur Deutschen Bahn AG wurde die Leipzigerin nach Dresden versetzt. „Jeden Morgen um 4 Uhr 52 mit dem ersten Zug zur Arbeit“, erinnert sie sich, „das war kein Zuckerschlecken“. Maria Rehm hat die Lohnunterlagen für Lokführer bearbeitet: „Der Ostdeutsche, der aus Leipzig nach München fuhr, hat damals 70 Prozent seines verbeamteten Kollegen aus München verdient.“ Die Bahn-Buchhalterin entschied sich für Altersteilzeit – und ging frühzeitig, aber mit Abschlägen in Rente. Um ihre nicht eben üppigen Bezüge aufzustocken, suchte sie einen Nebenverdienst. „Und wie eine Ruheständlerin habe ich mich schon gar nicht gefühlt.“
Durch den Tipp einer Freundin heuerte sie bei der Sicherheitsfirma an, die als Dienstleister auch für die Leipziger Messe tätig ist. Die Tätigkeiten sind abwechslungsreich: Sie ist bei der Eröffnung des Paulinums dabei und lernt alte Leipziger kennen, die die Sprengung der Universitätskirche auf Ulbrichts Geheiß am 30. Mai 1968 selbst erlebt haben. Sie arbeitet am Empfang der IHK, in der Kongresshalle am Zoo, hilft bei der Einkleidung von Messe-Hostessen oder an der Garderobe. Unsere „Frau für alle Fälle“ – so bezeichnen die Kolleginnen in der Firma Maria Rehm. In den 15 Jahren, die sie jetzt auf der Messe tätig ist, findet man sie mit Abstand am häufigsten am Drehkreuz.
Liebt Begegnungen mit Autorinnen und Autoren: Maria Rehm (c)nk
Die Leipziger Buchmesse ist für Maria Rehm auf vielerlei Weise besonders: „Es sind mehr Medienleute da, als auf anderen Veranstaltungen. Und es wird deutlich mehr gefragt – nach Programmen, Leseorten, Parkschildern. Und auch schon mal nach dem nächsten Geldautomaten.“ Spannend sind auch die Begegnungen mit Autorinnen und Autoren: „Als Andrea Sawatzki hier durchkam, eine angenehm geerdete Person, habe ich mir für ihre Lesung freigeben lassen.“ Manchmal ist für die Frau vom Drehkreuz, wie sie lächelnd berichtet, auch Fingerspitzengefühl gefragt: „Wenn Sie mich nicht durchlassen, rufe ich den Messechef an – das habe ich durchaus schon gehört. Und wenn sich Presseleute schon vor der offiziellen Hallenöffnung zu Interviews verabredet haben, wird es auch schwierig. Mancher, der nicht an uns vorbeikommt, schimpft dann schon mal wie ein Rohrspatz. Ich versuche, die Bälle flach zu halten.“ Merke: Am Drehkreuz ist man immer auch ein wenig im diplomatischen Dienst.
In Corona-Zeiten ruhte Maria Rehms Arbeitsvertrag – doch inzwischen ist sie längst wieder im Einsatz. Die Buchmesse Ende April soll für sie die letzte am Drehkreuz werden. Die Frau, der man ihre 73 Jahre nicht ansieht, hat ihre Abschluss-Runde sehr bewusst geplant. „Ich feiere im April Geburtstag. Und dann beginnt die Saison in unserem Gartengrundstück, ein kleines Paradies im Auwald zwischen Böhlitz-Ehrenberg und Lützschena. Der Garten wird mich auffangen.“ Ihre Freundinnen glauben nicht recht an den Messe-Abschied, auch Maria Rehms Mann traut dem Frieden noch nicht: Er hat vorsorglich für Mai einen Nordsee-Urlaub für sich und seine Frau gebucht. Und noch etwas wird in diesem Jahr anders sein: Während Maria Rehm 15 Jahre lang keine Zeit für ausgiebige Buchmesse-Entdeckungen hatte – sie musste ja arbeiten! – wird sie diesmal einen Tag frei nehmen. „Ich freue mich riesig darauf!“
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