Eigentlich hat sich Felix Wisotzki schon immer für stressresistent gehalten. „Nach den letzten 12 Monaten“, gesteht er mit einem Grinsen im Gesicht, „bin ich es amtlich“. Das liegt, so ahnen wir, an seinem neuen Job als Pressesprecher der Leipziger Buchmesse, in den er sich gewissermaßen mit Warp-Antrieb und Siebenmeilen-Stiefeln stürzte. Als der Pressereferent nach hausinterner Bewerbung im Sommer 2023 den Zuschlag für die ein rundes Jahrzehnt von Julia Lücke besetzte Stelle erhielt, galt es für eine Übergangszeit die laufenden Projekte abzuschließen – im Fall von Wisotzki war das etwa die Medienbetreuung der efa:ON, der Fachmesse für Elektro-, Gebäude- und Lichttechnik. Kein ganz leichter Start, wo sich doch das Anforderungs-Profil seiner neuen Tätigkeit von den bisherigen Aufgaben in der Kommunikations-Abteilung der Leipziger Messe deutlich unterscheidet. „Wo ich in meinem alten Job – bis zum Schreiben der Presse-Texte – die komplette operative Ebene abgedeckt habe“, sagt Wisotzki, „ist es bei der Buchmesse vor allem klassisches Projekt-Management: Ich bin der, bei dem für alle PR-Themen die Fäden zusammenlaufen.“ Als hilfreich sollte es sich erweisen, dass Wisotzki zum Kreis jener gestandenen Kommunikations-Kolleginnen und Kollegen gehörte, die die rasant gewachsene Buchmesse aus dem Backoffice unterstützten. „In diesem Jahr“, erzählt der Pressesprecher, „habe ich selber von diesem Support profitiert. Die Beschäftigung mit verschiedenen plötzlich aufploppenden Themen hätte meine Ressourcen komplett gesprengt.“
Mit dem Wechsel zur Leipziger Buchmesse schließt sich für den im ostthüringischen Gera aufgewachsenen Felix Wisotzki ein Kreis: Back to the Roots, zurück zur Literatur. Wobei es Wisotzki nach einem Schülerpraktikum bei Antenne Thüringen, vor allem jedoch nach den drei Monaten in der Gothaer Lokalredaktion der Thüringer Allgemeinen zwischen Abi und Zivildienst zunächst in Richtung Journalismus zog – ein Beruf, der manchem in früheren Zeiten als abenteuerliche Mischung aus Sherlock Holmes und Ernest Hemingway erschien. In der notorisch dünn besetzten Lokalredaktion genoss der Praktikant jedenfalls alle Freiheiten und nahm die Termine eigenständig wahr – vom Bockbierfest über die Rassekaninchen-Ausstellung bis zur anrührenden Weihnachtsfeier im Kinderheim. Allerdings bekam Wisotzki von erfahrenen Redakteuren auch zu hören: Schreiben kannst du ja – such’ dir ein Fach, spezialisiere dich, sammle Expertenwissen! Und so kommt endlich die Literatur ins Spiel, denn der junge Thüringer tritt 2002, kurz nach 9/11 also, an der Ludwig-Maximilians-Universität in München ein Studium der Amerikanistik an. Er genießt die intensive Auseinandersetzung mit der amerikanischen Kultur- und Literaturgeschichte, sammelt Scheine für Dinge, die andere in ihrer Freizeit erledigen müssen – und schließt 2009 mit einer Arbeit über die Sopranos und die „Krise der Männlichkeit“ ab.
Als Felix Wisotzki 2009 zu seiner heutigen Frau nach Stuttgart geht, um mit seinem reichen Expertenwissen einen Job als Journalist zu finden, ist das, was wir heute als „Medienkrise“ kennen, schon in vollem Gange. Dennoch melden sich auf eine Volontariats-Stelle bei der „Stuttgarter Zeitung“ noch 450 Bewerber! Wisotzki macht ein Praktikum bei den Stuttgarter Nachrichten und bleibt für ein gutes halbes Jahr als Freier – merkt aber recht schnell, dass ihn das nicht befriedigt. Ein Zufall ist es schließlich, der ihn die Schreibtisch-Seite wechseln lässt – er wird Junior-Berater in einer Stuttgarter PR-Agentur, die mit dem Fokus Bauen und Wohnen unterwegs ist. Das ist ziemlich weit weg von der Literatur – doch der Absolvent der Geistesgeschichte hat Spaß an der Arbeit mit den Kunden und der Einarbeitung in neue Themenfelder. Womöglich hat er sich schon mit Details von Wärmepumpen beschäftigt, als unsereins nicht im Traum daran dachte. Dummerweise sah die Agentur kaum Entwicklungsmöglichkeiten vor – und auch Stuttgart schien nach einer gewissen Anlaufzeit nicht der Ort, an dem man für die Rente plant. Also wieder München? Oder Berlin? Oder – Leipzig? 2014 bewarb sich Felix Wisotzki auf eine Stellenanzeige der Leipziger Messe, die einen Pressereferenten suchte, Schwerpunkt im Bereich der technischen Messen. Durch die Stuttgarter Agentur-Vergangenheit passte das ideal – am 15. September 2014 war Wisotzkis erster Arbeitstag in Leipzig, zwei Monate vor Beginn der denkmal, der europäischen Leitmesse für Denkmalpflege, Restaurierung und Altbausanierung. „Das war heftig. Wenn man die ersten sechs Monate überstanden und die Prozesse verinnerlicht hat, entspannt sich das.“
In der Folgezeit ist Wisotzki für ein Portolio diverser Fachmessen verantwortlich. 2015/16 kommt mit dem Gaming-Festival Dreamhack eine veritable Publikumsveranstaltung mit deutlich höherem Medienrauschen dazu – sie beschert dem Kommunikations-Arbeiter auch die erste Pressekonferenz per Live-Stream, heute eine Alltäglichkeit. Die Corona-Zeit erlebt Wisotzki einerseits als „frustrierend“, da Veranstaltungen, die komplett geplant und vorbereitet waren, aufgrund der Auflagen ins Wasser fielen. Auf der anderen Seite gab es jedoch auch genug Freiraum, um sich auf neue Themen und Projekte einzulassen: Als die Leipziger Messe ihre Weblandschaft komplett umstellt, begleitet und steuert Wisotzki bei einigen Webseiten den Transformationsprozess.
Offiziell ist Felix Wisotzki Mitte August als Buchmesse-Pressesprecher gestartet. „Die Wochen vor meiner Premiere im März waren schon ein wilder Ritt. 80 bis 100 Mails und dutzende Anrufe am Tag waren die Regel.“ Die Aufgaben reichen von der Organisation der klassischen Pressekonferenz bis zum vertraulichen Hintergrundgespräch, in Fachkreisen „unter drei“ genannt. Bewährungsproben sind das erste Pressegespräch der neuen Buchmesse-Direktorin Astrid Böhmisch mit ausgewählten Medienvertretern im Januar oder die Vorab-Pressekonferenz im Februar im Ost-Passage Theater. Lampenfieber? Das nicht, aber: „Auf diesen Termin waren doch deutlich mehr Augen gerichtet als auf die Pressekonferenzen, für die ich bislang zuständig war. Ein Kribbeln war da schon!“ Großartig die erste Pressereise in die Niederlande und Flandern, die Wisotzki in neuer Funktion im Januar begleitet. „Ich habe viel über das Buchmesse-Gastland gelesen“, sagt er, „aber ein wirkliches Gefühl für Kultur und Leute habe ich durch die Reise bekommen.“ Nicht immer ist so eine Expedition vergnügungssteuerpflichtig: „Ich habe meist aufs Frühstück verzichtet, um meinen ‚eigentlichen’ Job zu machen, auch abends im Hotel saß ich noch mal zwei Stunden am Rechner.“ Und dann: Buchmesse-Premiere! „Wenn alles vorbereitet ist und der erste Messetag läuft“, verrät Wisotzki, „setzt bei mir eine Art Tiefenentspannung ein – so viel kann jetzt nicht mehr schiefgehen.“ Das Adrenalin, so der Pressesprecher, sei schon noch da – aber man spüre „eine gewisse Grundsicherheit, die einen trägt“.
Leipzig kennt Felix Wisotzki schon lange als „ungeheuer lebenswerte und attraktive Stadt“ – als leidenschaftlicher Schwer-Metaller, der einen großen Teil seiner Freizeit mit dem Besuch von Konzerten, dem Hören von Schallplatten und dem Lesen dickleibiger Musik-Bücher verbringt, besuchte er regelmäßig das Wave-Gotik-Treffen. Obwohl Leipzig konzertmäßig eigentlich kaum Wünsche offenlässt, zieht es Wisotzki und seine Frau hin und wieder in die weite Welt: Die Hochzeitsreise führte das Paar 2023 aufs Metal-Festival Beyond the Gates im norwegischen Bergen, in dem selbst die ehrwürdige Grieg-Halle als Location dient. Eine weitere Liebe Wisotzkis, neben Literatur und heftiger Musik, gehört dem Bierbrauen. Sechs, sieben Mal im Jahr werden Gärbottich und Braukessel aus dem Schrank geholt, und beim Abfüllen des Gerstensafts verbinden sich Leidenschaften aufs schönste: Vorlage für die Etiketten ist zumeist ein Platten-Cover, das zum Getränk passt. Der Name der Ein-Mann-Hobbybrauerei, Furor Divinus, geht auf einen Song-Titel einer polnischen Metal-Band zurück. Wenn es Behemoth, so nennen sich die Herrschaften, Anfang August in Bergen krachen lassen, wird auch Felix Wisotzki vor der Bühne stehen.
Nur Headliner: Während man mittags auf Festivals üblicherweise Bands sieht, deren Namen man noch nie gehört hat, fangen sie bei Lesen für die Demokratie im Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) gleich mit Headlinern an – und bleiben den restlichen Tag auf diesem Niveau. Es ist 13 Uhr, fast noch high noon, und auf der Bühne in der Wächterstraße moderiert Cornelius Pollmer von der „Süddeutschen“ gerade Charlotte Gneuß an, deren Debütroman Gittersee im letzten Jahr unter anderem den „aspekte“-Literaturpreis abräumte und eine veritable Feuilleton-Keilerei darüber auslöste, wer über den Osten schreiben darf und wer nicht. Gneuß macht den Auftakt für einen 12-Stunden-Spendenmarathon, nach ihr sind noch mehr als 20 andere Autorinnen und Autoren zu erleben, von Lene Albrecht, Matthias Jügler und Paula Fürstenberg bis Sophia Fritz oder Dilek Güngör.
Zu erleben sind die literarischen Neuerscheinungen des Frühjahrs, dazu gibt’s Melonen-Bowle. Der Eintritt ist frei, aber alle gesammelten Spenden gehen – über den Leipziger Förderverein Land in Sicht an Projekte in ländlichen Regionen Sachsens, die sich mit ihrer kulturellen und sozialen Arbeit für Weltoffenheit und ein demokratisches Miteinander engagieren. Die Initiative kam von der in Leipzig lebenden Autorin Verena Keßler (*1988), die auch am DLL studiert hat und 2020 mit Die Gespenster von Demminein viel beachtetes Debüt hingelegt hat. Sechs Wochen vor der Buchmesse entschloss man sich, die Lesung zu organisieren. „Bücher können die Welt nicht verändern“, sagt Keßler, auf den Veranstaltungstitel angesprochen. „Aber sie können gesellschaftliche Themen aufgreifen, kommentieren. Die Texte stehen dann für sich.“
Widersprüche aufzeigen, neugierig bleiben: In seiner Leipziger Rede zu 35 Jahren Friedliche Revolution und 35 Jahren Grundgesetzt hatte Bundespräsident Steinmeier auch über die Kraft der Literatur gesprochen. Mit Blick auf den einst in Leipzig lehrenden Romanisten Werner Krauss, der Literatur als die „Innenseite der Weltgeschichte“ bezeichnete, sprach Steinmeier von einer ganz besonderen Fähigkeit literarischer Texte: Sie können Widersprüche aufzeigen, ohne sie auflösen zu müssen. Genau darin liege die Stärke einer neuen Generation ostdeutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die zu Zeiten des Mauerfalls Kinder oder noch gar nicht geboren waren – Anne Rabe, Manja Präkels, Lukas Rietzschel, oder Matthias Jügler nennt Steinmeier stellvertretend. Widersprüche aufzeigen, ohne sie auflösen zu müssen – das gelang dieser zweifellos politisch hoch aufgeladene Buchmesse in ihren besten Momenten.
Die Sprache bringt es an den Tag: Stephan Anpalagan ist der „Lieblingscousin an der Familientafel Deutschland“, das hat Micky Beisenherz mal gesagt, aber wenn er – klug und rhetorisch brillant – mit ein, zwei druckreif formulierten Sätzen den Kern eines Problems freilegt, kann man auch auf einem lärmumtosten Buchmesse-Forum die berühmte Stecknadel zu Boden fallen hören. Stephan Anpalagan, 1984 in Sri Lanka geboren, aufgewachsen in Wuppertal, ist Geschäftsführer einer Gemeinnützigen Strategieberatung, Lehrbeauftragter an einer Polizeihochschule in NRW, Podcaster und Autor, heimste womöglich die Hälfte der Redezeit auf einem rappelvollen, vom PEN Berlin organisierten Podium am Buchmesse-Sonntag ein, das mit der „aspekte“-Literaturpreisgewinnerin Miku Sophie Kühmel und dem Autor Max Annas eh schon gut besetzt war. Die von Sophie Sumburane moderierte Runde Wie Rechte reden ging vor dem Hintergrund der anstehenden Landtagswahlen im Osten der Frage nach, wie Sprache Radikalisierung beeinflusst – und was andererseits Sprache und Literatur im Kampf gegen Rechtsextremismus tun können. In einer etymologischen Tour de Force erinnerte Anpalagan daran, dass es die Mitte der Gesellschaft und etablierte Medien waren, die von „Döner-Morden“ sprachen und schon bald nach der Selbst-Enttarnung der „Zwickauer Terrorzelle“ um Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe deren Selbstbezeichnung „NSU“ übernahmen.
Young Adult: Im Herbst fielen sie schon am Main auf, zur Leipziger Buchmesse sind die Schlangen noch länger geworden. „Cold Heart“, „Delicate Dream“ oder „Fallen Princess“ heißen die meist farbschnittigen Bücher. Befeuert durch die sozialen Medien, ganz vorne Instagram und BookTok – die Büchern gewidmete Variante von TikTok – ist ein veritables Kauf-Fieber ausgebrochen. Nach Jahren der Hiobsbotschaften scheint eine ganze Branche aufzuatmen. Die am Messe-Donnerstag vom Börsenverein veröffentlichte Studie Bock auf Buch! – Wie junge Menschen heute Bücher finden und kaufen zeigt jedoch, dass für mehr als die Hälfte der 20- bis 29-jährigen Leserinnen und Leser Buchhandlungen noch immer eine wichtige Inspirationsquelle sind. Young Adult nennt die Branche das neue Belletristik-Subgenre. Viele Verlage haben Imprints gegründet, um auf der Welle mitzureiten: Piper hat Everlove, Rowohlt das Label Kyss, bei Oetinger heißen sie Moon Notes – Colleen Hoover, eine der erfolgreichsten Autorinnen des neuen Hypes, wird bei dtv verlegt. Bastei Lübbe hat schon 2007 Lyx gegründet. Das Imprint der Kölner sorgt für die wohl längste Schlange, die sich je vor einem Leipziger Verlagsstand materialisierte – Günter Grass im Literaturhimmel könnte neidisch werden.
Poesie der Unzugehörigkeit: „Geschriebene Worte sind wie Fische, die man in den Brunnen einer neuen Wirklichkeit wirft“, meint der Nordmazedonier Nikola Madjirov. „Ihr Zappeln hält das Wasser sauber.“ Für den Titel des TRADUKI-Programms auf der Leipziger Buchmesse haben sich die Organisatorinnen bei eben jenem Dichter-Philosophen bedient – und seinem Essay über die „Unzugehörigkeit“. Ein Gefühl, das oft – und weit übers schreiben hinaus! – ins echte leben lappt. Schmerzhaft kann es sein, wenn man zu den ‚Seinen’ auf Distanz geht, gehen muss. Doch auch schöpferische Kraft kann sich an dem Gefühl entzünden: „ich denke, das ist der stille Fluch der Schriftsteller“, schreibt Madjirov, „die Zugehörigkeit genau in dem Augenblick zu verraten, in dem sie beginnen, sich zugehörig zu fühlen.“
All das wurde auf der Bühne der TRADUKI-Kafana verhandelt, von Newcomern und alten Leipzig-Hasen. Im Café Europa, einer der politischen Buchmesse-Bühnen, organisierte TRADUKI heuer zwei Podien: Eines diskutierte die slowenische Minderheit im faschistischen Italien, das andere die Situation des feministischen Diskurses in Südosteuropa. Und was wäre ein TRADUKI-Programm ohne seine berühmt-berüchtigte Balkannacht? Eben. Im legendären UT Connewitz gaben sich am Messe-Samstag, moderiert von Vivian Perkovic und Amir Kamber, Barbi Marković, Nataša Kramberger, Bojan Savić Ostojić, Rene Karabash und Alexandru Bulucz die Klinke in die Hand. Für heiße Musik sorgte die charismatische kroatische Musikerin Sara Renar.
An die Freude: Nach fünf langen Jahren war es wieder soweit: Die Leipziger Buchmesse und MDR Klassik luden alle sangesfreudigen Menschen ein, gemeinsam mit dem MDR-Rundfunkchor als Buchmessechor zu singen und die Glashalle der Leipziger Messe in einen Konzertsaal zu verwandeln. Unter der musikalischen Leitung von Julia Selina Blank wurde das diesjährige Gastland Niederlande und Flandern mit den Titeln „Sur le pont d’Avignon“ von Vic Nees und „Deo gratia à 36“ von Johannes Ockeghem geehrt. Teil des musikalischen Großerlebnisses war die Schlagzeugerin Vivi Vassileva, die zwei Solostücke zum Besten gab. Nach Karl Jenkins „Adiemus“ verabschiedete sich der Buchmessechor mit Ludwig van Beethovens „Ode an die Freude“. MDR Klassik hat ein ziemlich cooles Making-of Buchmessechor gedreht – unbedingt anschauen, genießen und nächstes Jahr mitmachen!
„Am Anfang war das Wort und nicht die Zahl.“ Ein Satz des legendären Verlegers Kurt Wolff, der die Haltung der heutigen Gründergeneration noch immer ziemlich treffend beschreibt. Mit Fortüne und Phantasie sorgen unabhängige Verlage dafür, dass unsere Bücherlandschaft auch in Zeiten zunehmender Konzentration bunt und vielfältig bleibt. Ihre Geschichten erzählen von Freiheitsnischen, von geglückter Improvisation und fröhlichen Zufällen. Sie fürchten die Logik der Ökonomie eben so wenig wie die Konkurrenz der Großen. Sie wollen erfolgreich Bücher verkaufen – und doch authentisch, ganz nah bei ihren Leserinnen und Lesern bleiben.
Graswurzel-Bewegung: Gemeinsam hat man viel erreicht: Der Indiebookday, vom Hamburger Mairisch Verlag in bester Graswurzel-Tradition angestoßen, hat sich im Kalender etabliert. Die Hotlist, 2009 aus der Taufe gehoben, lenkt das Scheinwerferlicht von den großen Literaturpreisen auf den Reichtum der Verlagslandschaften insgesamt. In Leipzig, wo seit 2001 der Kurt-Wolff-Preis vergeben wird, sind Indies mit originellen Veranstaltungsformaten und immer wieder neuen, ausgefallenen Veranstaltungsorten Magneten fürs Lesepublikum.
Lecker Kaffee & mehr: Seit März 2015 ist das Forum Die Unabhängigen Herzstück des Auftritts der Independent-Verlage. Das Gemeinschaftsprojekt von Kurt Wolff Stiftung und Leipziger Buchmesse schiebt nicht nur quasi non-stop Verlagsprogramme an die Rampe. Es gibt auch den Menschen hinter den Kulissen ein Gesicht: Verlegerinnen und Verleger moderieren die Veranstaltungen und schenken an der Bar den leckersten Kaffee der Messe aus. In diesem März war das Forum zum siebten Mal in Halle 5 zu finden.
Menschen, Bücher, Sensationen: An vier Messetagen gingen im Halbstunden-Takt an die 50 Veranstaltungen von über 40 Verlagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz über die Bühne – von klassischen Lesungen und Buchpräsentationen bis zu Empfängen wie dem „Buchhandelstreff“ – der Empfang der Forums-Organisatoren für Buchhändlerinnen und Buchhändler – oder Preisverleihungen wie der Verleihung des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik an Wolfgang Matz. Die vermutlich längste Fanschlange nach den Jung-Adult-Heerscharen erfuhr der Berliner Lukas Verlag, der sich anlässlich seiner von Herausgeber Ekke Maaß vorgestellten Bulat-Okudschawa-Ausgabe „Mein Jahrhundert“ einen Gastauftritt des alten Kämpen Wolf Biermann gönnte.
Über Bücher sprechen: Auch Podiumsdiskussionen waren Bestandteil des Forums. Zum Thema „Bücher, die wissen, wo sie stehen – Furchtlos mit Büchern handeln“ organisierte die Initiative Verlage gegen Rechts eine Diskussion mit Kolleginnen der Buchhandlungen drift, heiter bis wolkigund Rotorbooks. Unter dem Titel „Über Bücher sprechen: Unabhängige Literaturpodcasts heute“ diskutierten Carolin Callies, Nefeli Kavouras und Ludwig Lohmann über die Frage, was Literaturpodcasts für die Sichtbarkeit von Literatur leisten können.
Was trinken wir? Alles! Highlight im an Höhepunkten nicht wirklich armen Forums-Programm war natürlich die Verleihung des mit 35.000 Euro dotierten Kurt-Wolff-Preises an den AvivA Verlag, der seit einem Vierteljahrhundert unter der Leitung von Britta Jürgs mit nicht nachlassender Energie und großem Spürsinn die weiblichen Stimmen der Weltliteratur zur Geltung bringt. Der mit 15.000 Eurodotierte Kurt-Wolff-Förderpreis 2024 ging an den Verlag mikrotext, in dem die Verlegerin Nikola Richter seit 2013 mit einem originellen Mix aus Hardcover, Paperback, Taschenbuch, E-Book und Podcast Kurzprosa und Roman, Reportage und Reflexion, Essay und Songtext, Lyrik und Soziale-Medien-Dichtung zusammenführt und so die Gegenwartsfähigkeit der deutschsprachigen Literatur befördert.
Neue Verlegerinnen braucht das Land: Ihre so kurzweilige wie pointierte Ladatio nutzte die Verlegerin, Autorin und Übersetzerin Zoë Beck, die erst vor ein paar Tagen mit der Trägerin des Förderpreises verwechselt worden war („Sie sind doch die ähm, na, Mikrotext-Frau, ach nee! Sorry … aber Sie waren ja auch eine von denen …?!“), um überkommene, aber immer noch wirkmächtige Geschlechter-Klischees der Branche aufzuspießen. „Liebe Britta, liebe Nikola, danke, dass ihr nicht tut, was von euch erwartet wird“, sagte Beck, „denn dadurch seid ihr Vorbilder, Weggefährtinnen, Verbündete und Vertraute in dieser Branche, in der zwar Frauen in der Überzahl sind, die in entscheidenden Positionen aber doch oft genug wieder ganz konventionell, ganz traditionell, ganz formell männlich dominiert ist, mit allen Ritualen, die dazugehören, mit allen Filtern und Schlagwörtern und Algorithmen, die Erfolg definieren wollen.“
Spätausgabe: Zum vierten Mal wechselte das Forum Die Unabhängigen nach Messeschluss in die Stadt. Am Messesamstag fanden sich im chabby-schicken Jugendstil-Ambiente des Westflügels der Schaubühne Lindenfels neunzehn Autorinnen und Autoren aus Deutschland, der Schweiz und Österreich ein. Mit dabei: Die Debüts von Laura Leupi und Luca Mael Milsch, die Romane von Kathrin Aehnlich, Reda El Arbi, Sebastian Guhr, Julia Hoch, Barbara Kadletz Dominika Meindl, Jürgen Teipel und Meri Valkama, Satirisches und Humorvolles von Matthias Brodowy, Ruth Herzberg und Susanne Riedel, Lyrik mit Jan Volker Röhnert und Tom Schulz sowie Sachbücher von Uta Bretschneider und Jens Schöne, Francis Seeck, oder Iris Antonia Kogler. Für Statistik-Feinschmecker: Insgesamt waren heuer 61 Verlage beim Forum Die Unabhängigen und der Spätausgabe beteiligt, darunter 52 Verlage aus Deutschland, sechs aus Österreich und drei aus der Schweiz.
Treffen, Trüffel, Torten: Dass die Connewitzer Verlagsbuchhandlung am Messe-Samstag zu einem Bunten Tag im Wörtersee einlädt, ist inzwischen schon gute Tradition. Bei Kuchen und gepflegten Getränken konnte man seine Lieblings-Autoren und –illustratorinnen treffen – und sich die frisch erstandenen Bücher und Druckgrafiken gleich live signieren lassen.
Watchmen-Muffin: Literatur geht durch den Magen, pflegte Lojze Wieser zu sagen, wenn er am Buchmesse-Stand seines Verlags dicke Scheiben Kärntner Bauerschinkens säbelte. Hannes Riffel, Verleger des 2023 in Wittenberge gegründeten Carcosa Verlags, hat seinen Stand bei der Messe-Premiere bewusst im Independent-Umfeld in Halle 5 aufgeschlagen, bei den Kolleginnen und Kollegen von Argument, Alexander, Edition Natulius, Orlanda, Unrast oder der VSA. Wer Riffel besuchte, bekam einen eigens für die Buchmesse fabrizierten Watchmen-Muffin angeboten: Das Gebäck ist eine Reverenz an Alan Moores und Dave Gibbons’ weltberühmte Graphic Novel gleichen Namens, will uns aber zaunpfahlartig noch etwas Anderes sagen: Im kommenden Herbst wird Carcosa die deutsche Erstausgabe des Riesenromans „Jerusalem“ von Alan Moore bringen, ein Werk jenseits der 2000 Manuskriptseiten und „eines der wunderbarsten und verstörendsten Bücher“, die der Verleger und Übersetzer Riffel je gelesen haben will.
Besser Leben: Nimmt man die Veranstaltungsdichte der Buchmesse, scheint für die Dichtung mehr als nur Hoffnung zu bestehen. So viele hochkarätige Lyriklesungen wie in den vier Buchmesse-Tagen gibt es selten: Da ist etwa die Lyriknacht Teil der Bewegung in der HGB, organisiert von EDIT, kookbooks, Schöffling und anderen, da ist die Lyrik-Lesung mit dem zauberhaften Titel „Das Vermisste ist final“ (und dem vielleicht schicksten Lesungs-Plakat der Messe) im „Besser Leben“ in Schleußig. Und da ist an drei Messeabenden die temporäre Lyrikbuchhandlung in der Galerie KUB in der Südvorstadt, organisiert von Ulrike Feibig, Tim Holland und Fabian Thomas.
Lyriktipps, jetzt auch für Kids: Die Lyrikbuchhandlung – Veranstaltungsformat und tatsächlich längster Verkaufstresen in einem – versteht sich als Präsentations- und Vernetzungsplattform für Verleger und Autoren zeitgenössischer Gedichte. Seit 2019 sind auch die Lyrik-Empfehlungen zu Gast, die traditionell am Welttag der Poesie, dem 21. März, bekanntgegeben werden. Kritikerinnen und Kritiker haben zehn deutschsprachige und zehn ins Deutsche übersetzte Gedichtbände ausgewählt, beachtet wurden Neuerscheinungen von Anfang 2023 bis März 2024. Neu sind heuer die Lyrikempfehlungen für Kinder – elf Bücher für Kids zwischen drei und elf.
Wenn die Leipziger Buchmesse mehr als ein Marktplatz der Eitelkeiten ist, dann ist ihr Preis, der in diesem Jahr zum 20. Mal vergeben wurde und mit dem bislang 58 Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer geehrt wurden, mehr als nur ein Marketing-Tool. Für Jury-Sprecherin Insa Wilke ist „der Preis vom Herzschlag der Messe nicht zu trennen“: Die Buchbranche – und damit eben auch die Messe und ihr Preis – seien eine Art „Resonanzverstärker der gesellschaftlichen Lage“.
Hier werden, so Wilke, Konflikte sichtbarer und deutlicher Formuliert als in anderen Bereichen. Insofern sei auch ein zentraler Vorwurf, ausgesprochen von verschiedenen Seiten, in verschiedene Richtungen adressiert, hier besonders scharf akzentuiert: Schweigen. Es ging in den letzten sechs Monaten ums Verschweigen von Leid, das Schweigen zu Traumata – in Israel, aber auch in Gaza und im Westjordanland. Auch die Buchmesse-Eröffnung stand unter diesem Vorwurf. „Ich hoffe“, so Insa Wilke in ihren nachdenklichen Bemerkungen unter der Glashallenkuppel, wo doch alle zum unbeschwerten Feiern gekommen waren, „dass wir die tiefen Gräben des voneinander Verlassenseins wenigstens im Nachhinein werden ansprechen können“. Werden wir dazu in der Lage sein, die „Gleichzeitigkeit von Unrecht“ (Meron Mendel) auszuhalten?
Bücher und die, die sie schreiben, kennen sich aus mit den vielen Formen des Schweigens – auch davon ist Insa Wilke überzeugt. 486 Einreichungen aus 177 Verlagen hat es 2024 gegeben; viele der 15 nominierten Titel öffnen sich, wenn man sie in Auseinandersetzung mit diesem Schweigen liest – auch wenn dies kein Kriterium für ihre Auswahl ist. „Es geht nicht nur um beste Bücher, sondern um Aufmerksamkeit für künstlerische Versuche, Gedanken und Erfahrungen zu formulieren, Problemlagen zu beschreiben.“ Bücher brauchen ein Gegenüber. „Es funktioniert nicht ohne die, die lesen. Der Ball liegt auch bei Ihnen!“
„In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige“, wusste schon Karl Kraus. Dass der Preis der Leipziger Buchmesse im Zweifel auf das Übersehene, scheinbar Entlegene, nicht selten auch Sperrige setzt, hatten bereits die Nominierungen des Jubiläums-Jahrgangs gezeigt: Da fand sich mit Anke Feuchtenbergers genialem, autofiktionalem Werk „Genossin Kuckuck“ in der Belletristik erstmals eine Graphic Novel; in der Sachbuch-Kategorie fand mit der umfangreichen Sammlung von „Jahrhundertstimmen 1945-2000“ ein großartiges Hörbuch-Projekt Aufnahme.
Fast logisch, dass es nun Außenseitersiege in Serie gab: Sichtlich überwältigt und zu Tränen gerührt war in der Sparte Übersetzung die koreanische Übersetzerin Ki-Hyang Lee, die mit ihrer Übertragung von Bora Chungs „Der Fluch des Hasen“ (CulturBooks) siegte: Sie erinnerte sich an ihre „Rucksackreise“ quer durch Europa kurz nach dem Fall der Mauer und ihre erste Begegnung mit Leipzig. Der Preis, so Lee, sei „ein großer Trost“ für ihre 20-jährige einsame Arbeit. „Leipzig leuchtet heute so schön.“
Im Sachbuch entschied sich die Jury mit Tom Holerts „ca. 1972 – Gewalt, Umwelt, Identität, Methode“ (Spector Books)für eine ungewöhnliche Mischform aus Essay, Kunstprojekt, mentalitätsgeschichtlicher Recherche und Theorie – der Kritiker der „Süddeutschen“ wollte darin „eine Art Coffee-Table-Buch für Volksbühnen-Ultras“ erkennen, und Autor Tom Holert war zunächst auch komplett baff über die Juryentscheidung. Als er seine Worte wiedergefunden hatte, danke er dem Grafiker Elias Erkan, der nicht nur „ca. 1972“ gestaltet – sondern heuer auch den mit 3000 Euro dotierten Hauptpreis beim Walter Tiemann Preis 2024 abgeräumt hat. „Das Buch dekliniert einen Begriff durch, der bei der Buchmesse-Eröffnung auch eine Rolle gespielt hat, so Holert zu seinem ausgezeichneten Werk, „den Begriff der Radikalität“. Und weiter: „Es gibt keine saubere Form des Radikalseins!“
Ein Satz, den vermutlich auch Barbi Marković unterschreiben würde. Die 1980 in Belgrad geborene und in Wien lebende Erzählerin gewann mit ihrem Roman „Minihorror“ (Residenz) den Preis in der Belletristik-Kategorie. Mini und Miki heißt das comichafte Pärchen, das von Marković wie weiland Tom und Jerry durch ein Abenteuer namens „Alltag“ gejagt werden. Der Literaturwissenschaftler und Pop-Experte Moritz Baßler zählte sie in seiner kurzen Laudatio noch einmal auf, die Elemente unserer Situation, die Marković in ihren Geschichten von Mini und Miki montiert: „Hinten die Kriegsverbrechen, vorne der Klimawandel, dazwischen aber Linsenchips, die Blondierung beim Friseur und die neue Küchenplatte bei IKEA.“
Wie witzig Barbi Markovićs Prosa ist, demonstrierte die Autorin dann in ihrer Dankesrede, die sie vom Display ihres Smartphones ablas – und die, ganz im Stil ihres Romans, gegen alle Konventionen verstieß: „Mini bekommt den Preis der Leipziger Buchmesse und sie muss eine Rede halten… Eine Rede, die alle Probleme der Gegenwart lösen wird. Mini liest vor und die Welt bleibt gleich; das Publikum wendet sich von ihr ab… Minis Rede ist ein schreckliches Debakel und sie wird sofort aus der Welt der Literatur rausgeworfen. Mini muss den Preis zurückzahlen… Sie muss nach der Messe aufräumen.“ Ihre Fangemeinde konnte Barbi Markovićs mit diesem Auftritt schon mal deutlich vergrößern: „Minihorror“ befindet sich derzeit in der vierten Auflage.
Ein Bundeskanzler als Buchmesse-Eröffnungsredner, wann hatte es das letztmals gegeben? Über das Lesen als Zulassen anderer Sichtweisen, über Literatur als Schlüssel zum Verstehen des Weltgeschehens wollte Olaf Scholz sprechen. Doch als er im Gewandhaus-Saal, nach der Begrüßung durch Leipzigs Oberbürgermeister und die Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs, zu seiner Eröffnungsrede ansetzte, wurde er von einigen im Rang verteilten propalästinensischen Aktivisten niedergebrüllt – so lange, bis das Publikum im Gewandhaus wiederum die Störer niedergeklatscht hatte und die reichlich vertretene Security ihres Amtes waltete. „Folgen wir denen nicht, die uns spalten wollen“, hatte Scholz da gerade im Manuskript stehen, er bezog den Satz nun auf die hitzige Situation im Konzertsaal. „Uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen – nicht die des Geschreis“, sagte Scholz. Und erhält dafür viel Applaus. Der Scholz-Satz, den man sich heuer für jeden Buchmesse-Besucher, jede Besucherin zum Ausdrucken wünscht, geht so: „Lesen ist die täglich praktizierte Bereitschaft, die eigene Perspektive in Frage zu stellen.“
Die Soziologin Eva Illouz empfahl in ihrer akademisch-konzentrierten, auf Englisch gehaltenen Laudation das Buch „Radikaler Universalismus“ (Propyläen 2022), für das Omri Boehm mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2024 ausgezeichnet wird, als „Meilenstein im großen Gebäude der Philosophie“ und als Quelle moralischer Klarheit „in den trüben Gewässern des zeitgenössischen politischen Lebens“. Womit Illouz, mit Susan Neiman, wohl den allenthalben tobenden identitätspolitischen Furor meint. Omri Boehms Bücher „Israel – eine Utopie“ (Propyläen 2020) und „Radikaler Universalismus“ sind utopische Wagnisse. Ihre Ideen scheinen seit dem 7. Oktober 2023 weiter entfernt von irgendeiner Realisierung denn je. Doch Boehm, der mit Platon davon überzeugt ist, dass die Wirklichkeit die Welt der Ideen ist, bleibt seinem kompromisslosen Humanismus, trotz Terror, Trauer und Fanatismus, treu. Boehm ist Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Philosophie an der New School for Social Research in New York, nach Größen wie Agnes Heller oder Richard Bernstein. „Es ist vielleicht poetische Gerechtigkeit“, so Illouz, „dass der Lehrstuhlinhaber eines Fachbereichs, der so vielen intellektuellen deutschen Juden, die vor dem Nazi-Regime flohen, Zuflucht gewährte, heute in Deutschland diese Auszeichnung erhält. Er erhält sie, weil er die drei intellektuellen Traditionen, in denen er lebt – amerikanische Verfassungswerte, kantischer Universalismus und hebräische Prophetie – so erfolgreich integriert hat.“
Vor seiner – auf Deutsch vorgetragenen – Dankrede kommt Omri Boehm in einem spontanen englischen Exkurs auf die Störer vom Anfang des Abends zurück. „Die Protestierenden haben heute Abend einen großen Fehler gemacht“, ist Boehm überzeugt. „Sie wollten uns etwas über freie Rede sagen – und das wollten sie tun, indem sie die freie Rede störten. Es war und ist notwendig, ihre Störaktionen zu stoppen. Aber das reicht nicht aus. Wir müssen uns weiterhin der Herausforderung stellen zu zeigen, dass freie Rede und Diskussion eine Voraussetzung für die derzeit notwendigen, dringenden Veränderungen sind – und keine Mittel, sie zu verhindern.“ In seinem ausgezeichneten Buch Radikaler Universalismus gehe es, so Boehm, genau um dieses Problem: „Die Verteidigung des Universalismus erfordert auch, zuzuhören, was diese Protestierenden uns heute Abend zu sagen hatten. Die Antwort, die das Buch bietet, ist jedoch nicht die gleiche wie ihre, sondern das Gegenteil davon.“
Es ist faszinierend zu erleben, wie Omri Boehm seine Überlegungen aus einem Philosophischen Quartett zwischen dem jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn und dessen Freund Gotthold Ephraim Lessing, Autor des „Nathan“ einerseits, seinem zentralen Forschungsgegenstand Immanuel Kant und Hannah Arendt (die 1959 bei der Verleihung des Lessing-Preises von der „Menschlichkeit in finsteren Zeiten“ sprach) anderseits entwickelt. Der Begriff der Freundschaft (Wir müssen, müssen Freunde sein, heißt es im „Nathan“) ist zentral, im derzeitigen Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern von ihr zu sprechen, weiß Boehm, muss manchem falsch, ja regelrecht grotesk vorkommen. Ein No-go scheint sowohl der Versuch, den mörderischen Überfall der Hamas auf israelische Kibbutzim im vergangenen Oktober zu einem Akt „bewaffneten Widerstands“ zu erklären – als auch der Versuch der israelischen Regierung, den mit Zehntausenden von Toten und einer Hungersnot verbundenen Einmarsch im Gaza-Streifen als reine „Selbstverteidigung“ hinzustellen.
Und was ist mit der deutsch-jüdischen Freundschaft? „Da, wo sie besteht, ist sie ein wahres Wunder“, sagt Boehm. Aber dieses Wunder müsse jetzt vor Entwertung geschützt werden: „Es kann keine deutsch-jüdische Freundschaft geben, wenn sie in diesen dunklen Zeiten kein Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft gesagt werden müssen.“
Der großartigen Dirigentin Anna Rakitina fliegen gegenwärtig zwischen Boston und Los Angeles alle Herzen zu, am Abend der Buchmesse-Eröffnung trieb sie das Gewandhausorchester zu Höchstleistungen. Dazu gab es das niederländische Ragazze Quartett, dem man gern länger gelauscht hätte – und das – kleine Wünsche gehen in Leipzig sofort in Erfüllung, nur Wunder dauern etwas länger! – schon am Messedonnerstag auch konnte: Da spielten die vier ihr Programm „They Have Waited Long Enough“ im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses. Es geht um Medea, Circe und Penelope, um, klar: Frauen-Power.
Draußen auf dem Augustusplatz ist es gegen Mitternacht noch immer warm, man kann am Rad zum GfZK-Café fahren, wo Voland & Quist den Reigen der Partys eröffnet. In der Schaubühne Lindenfels trifft man vielleicht noch Lisa Weeda („Tanz, tanz, Revolution“, Kanon) und Dimitri Kapitelman („Eine Formalie in Kiew“, Hanser), deren beider Wurzeln in der Ukraine liegen. Reden über ein Leben zwischen West und Ost, Frieden und Krieg. Es ist Buchmesse, eine fünfte Jahreszeit in Leipzig.
„Ich hatte einen blinden Fleck in Bezug auf all die Frauen, die vor mir geschrieben haben“, sagt Annelies Verbeke im prächtigen, holzgetäfelten Veranstaltungsraum von Flanders Literature in der Langen Leemstraat von Antwerpen. Verbeke, geboren 1976 im belgischen Dendermonde, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Drehbücher. Ihre Werke wurden in 26 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem J.M.A. Biesheuvel-Preis. Annelies Verbeke ist Mitglied der niederländisch-flämischen Kollektivs Fixdit, einer Vereinigung von zwölf Autorinnen, die sich für mehr Gleichberechtigung in der Literaturbranche einsetzt.
Das während der Corona-Pandemie gegründete Fixdit-Kollektiv startete einen von Annelies Verbeke und Jannah Loontjens betriebenen Podcast über Klassiker des 20. Jahrhunderts aus der Feder von Frauen – und veröffentlichte unter dem Titel Optimistic Anger ein Manifest, in dem Geschlechtervorurteile und -ungleichheit vor ihrem historischen Hintergrund und im internationalen Kontext diskutiert werden: Wer waren die weiblichen Vorgängerinnen und warum wurden sie nicht kanonisiert? Welche Autorinnen aus aller Welt prägen die Arbeit des Kollektivs? Und in welchen Genres drücken sie sich aus? Gibt es so etwas wie ‚weibliche Literatur’? Und vor allem: Was können Schreibende, Lesende und Buchhändlerinnen tun, um diese weiblichen Stimmen zu verstärken? Eine vielstimmige Debatte über literarische Polyphonie brach sich Bahn. „Es brauchte lange, bis ich begriff, dass man etwas tun muss, um den Kanon zu verändern“, sagt, Verbeke. „Von allein passiert nichts.“
Nach Leipzig reist Annelies Verbeke mit einem kleinen, feinen Band aus dem noch relativ jungen Golden Luft Verlag (Mainz). Ein Verlag, der sich der Edition ausgewählter literarischer Texte in schönen Ausgaben verschrieben hat und sich dabei vor allem der kleinen Form verschrieben hat – Prosastücke, Lyrik und Erzählungen –, die in der heutigen Literaturlandschaft oftmals übersehen wird. Das Spektrum der Autorinnen und Autoren reicht von Klassikern wie Stefan Zweig und Franz Kafka über Wiederentdeckungen wie Emmanuel Bove und Jean Rhys bis hin zu renommierten zeitgenössischen Schriftstellern wie John Burnside und Esther Kinsky.
Die beiden für Verbekes Band ausgewählten Erzählungen sind ihrem Erzählwerk „Treinen en kamers“ (Züge und Räume) aus dem Jahr 2021 entnommen, in dem jeder Text durch eine Vorlage aus der Weltliteratur inspiriert wurde. „Verlorener Gesang“ besingt in klassischer Versform, die Homers Odyssee nachempfunden ist, das ewige Flüchtlingsdrama in den Lagern auf griechischen Inseln. Es ist ein berührendes Klagelied aus der Sicht eines verzweifelten Helfers. In „Mantel der Liebe“ findet eine Frau in einem vollbesetzten Zugabteil einen ihr heimlich zugesteckten Dolch. Langsam reift in ihr eine schreckliche Erkenntnis. Er stellt die Aufforderung dar, sich in Anverwandlung ihres Studiengegenstands, der mesopotamischen Dichterin Enheduanna, damit selbst zu töten.
Im Literaturhaus Leipzig werden zu Messe starke weibliche Stimmen aus den Niederlanden und Flandern zu erleben sein: Unter dem von Connie Palmens aktuellem Buch entlehnten Titel „Vor allem Frauen“ führt der Abend mit Connie Palmen, Annelies Verbeke, Mariken Heitman und Jasmin Galonski Autorinnen aus zwei Generationen zusammen – eine Feier der weiblichen Literatur.
Wann & Wo
22. März, 15 Uhr, Messestand Gastland Niederlande / Flandern (Halle 4, D 300/C 301): Kopje Koffie mit Annelies Verbeke
22. März, 19 Uhr, Literaturhaus Leipzig: Vor allem Frauen. Lesung und Gespräch mit Connie Palmen, Annelies Verbeke, Mariken Heitman und Jasmin Galonski
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