Wie haben Sie Jon Fosse eigentlich entdeckt? Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als er hier noch völlig unterhalb des Radars flog…?
Hinrich Schmidt-Henkel: Ich hatte Jahre vor dem entscheidenden Theaterbesuch in Bergen einen Band mit Erzählungen von ihm in der Hand. Er war mir zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt. Ich habe seinen außergewöhnlichen Stil gesehen, war aber dafür wohl noch nicht reif. Im Juni 1995 sah ich in einem Schaukasten am Theater „Den Nationale Scene“ in Bergen, dass dieser Fosse offensichtlich für die Bühne schrieb. Das hat mich interessiert – und mit einem Stipendium des norwegischen Dramatikerverbandes konnte ich zwei Stücke übersetzen. Der Rowohlt Theaterverlag hat rasch zugegriffen – und so ziemlich dasselbe gesagt wie ich: Genuines Theaterfutter, das muss auf die Bühne! Das kann Schauspielerinnen und Schauspieler, Regisseure und Dramaturgen nur brennend interessieren! Aber: Es steht so ziemlich quer zu allem, was gerade Erfolg hat – das waren zu der Zeit die Stücke von Sarah Kane und Mark Ravenhill. Nils Tabert, damals Lektor im Rowohlt Theater Verlag, seit 2010 dessen Leiter, hat es dann dem Richtigen zum richtigen Zeitpunkt gegeben. Dazu waren die deutschen Theaterleute noch durch eine französische Produktion von Fosses „Da kommt noch wer“ („Nokon kjem til a komme“) der Theater-Legende Claude Régy (1923-2019) angefixt. Und dann gab’s eben schon zwei Stücke auf Deutsch, und die deutschen Theater konnten sich sofort ein Bild machen.
Welche Inszenierung hat den Durchbruch gebracht?
HSH: Thomas Ostermeier bekam den Zuschlag für eine Inszenierung bei den Salzburger Festspielen, in Kooperation mit der Berliner Schaubühne. Das war natürliche eine phantastische Adresse für die allererste deutschsprachige Erstaufführung – und hatte große Signalwirkung. Dazu kommt, dass die französische und die deutsche Theaterlandschaft international eine Art Durchlauferhitzer-Funktion haben. Plötzlich waren alle sehr wach – und es begann eine enorme internationale Theaterkarriere von Jon Fosse. Die hat dann auch Interesse für sein schon vorliegendes, nicht eben kleines Prosa-Werk geweckt. Er ist mit seiner Art, Dinge zur Sprache zu bringen, ohne sie zu benennen, universell; er wird im Iran so verstanden wie in Japan, in Caracas, St. Petersburg und St. Peter Ording… (lacht).
Sie haben in 30 Jahren rund 25 Stücke und sieben Romane von Jon Fosse übersetzt?
HSH: Sicher mehr. Es ist die relevanteste literarische Beziehung meines Lebens, so kann man das sagen. Insofern ist es auch ein biografischer Glücksfall, dass ich diesen neu geschaffenen Preis bekomme. Würde es nicht so nach Grabrede und Aufhören klingen, könnte ich sagen: Ein Kreis schließt sich.
Haben Sie bereits mit der Dankrede begonnen?
HSH: Im Kopf schon. Sie soll nicht länger als fünf bis sieben Minuten dauern. Das ist schwierig, weil ich gern Grundlegendes zum Übersetzen, zum eigenen Metier sagen möchte: Was macht das Schreiben von Jon Fosse aus? Was hat es mit dem viel beschworenen Rhythmus und der Musikalität auf sich? Wie sieht Rhythmus in der Literatur aus, wie entsteht er, wie ist er beim Übersetzen einzufangen – solche Sachen.
Wie haben Sie 2023 vom Nobelpreis erfahren?
HSH: Ich habe es, ehrlich gesagt, nie für möglich gehalten; bei aller Wirkung ist es ja auch ein ‚schräger‘ Autor. Dennoch habe ich in den Jahren davor immer mal bei der Bekanntgabe durch die Akademie gestreamt. 2023 hatte ich eine furchtbare Deadline im Nacken, als auf einmal der Deutschlandfunk anrief: Ob ich, im Fall des Falles, für ein Interview zur Verfügung stünde? – Natürlich, wann genau sei das denn? – Na, heute! – Dann habe ich mir fest vorgenommen, gegen 13 Uhr zu streamen, war aber so in die Arbeit vertieft, dass ich alles um mich herum vergessen habe. Als Sekunden nach 13 Uhr auf dem Display meines Telefons „Ebba“ stand – Ebba Drolshagen, eine gute Übersetzerfreundin und Norwegen-Kennerin – wusste ich, was passiert war. Alle Deadlines vergessen – und alles übersetzen, was von Fosse noch nicht übersetzt war. Die kommenden zwei Wochen waren ein ziemlich intensiver Ritt. Nach einem halben Tag habe ich Jon dann eine SMS geschrieben: Kondoliere & gratuliere!
Sind sie als Übersetzer auch so etwas wie die Mischung aus Scout, Strippenzieher und Entdecker? Wie wichtig ist dieses Kommunikations-Geschäft bei der Durchsetzung von Autorinnen und Autoren?
HSH: Diese Vorfeldarbeit kann ich für mich nicht so sehr in Anspruch nehmen. Das täte ich gern und habe es auch am Anfang meiner Laufbahn versucht. Ich wollte es richtig machen, habe auch einen Lehrgang „Internationaler Lizenzhandel“ an den Schulen des Deutschen Buchhandels in Frankfurt besucht. Später bin ich vor lauter Übersetzen kaum dazu gekommen. Ich habe aber eine ganze Reihe von Übersetzer-Kolleginnen und -kollegen, gerade aus dem Norwegischen, die genau DAS machen – OBWOHL sie fleißig übersetzen! Das bewundere ich maßlos. Ihr Verdienst um den norwegisch-deutschen Literaturaustausch ist kaum zu ermessen. Früher ging es nicht ohne diese Kärrnerarbeit – 1987, als ich anfing, gab es zum Glück schon die segensreiche Einrichtung NORLA, die den Literaturexport fördert. Das waren damals anderthalb Leute, die aber sehr professionelle Vernetzungsarbeit leisteten. Kristin Brudevoll begann damals, die Auslandsmärkte zu erschließen – die Verlage hatten damals noch nicht in jedem Fall Leute, die sich um die ausländische Lizenzvermarktung kümmerten. Gyldendal war da ein Vorreiter. Heute machen das alle Verlage hoch professionell.
Norwegen als Gastland in Frankfurt 2019 hat eine große Rolle gespielt – Sie haben da um die 50 Veranstaltungen absolviert. Besitzen Sie die Gabe der Multi-Lokalität? Oder hatten Sie Doppelgänger im Einsatz?
HSH: Nicht verraten! (lacht). Es war rasant, aber die Veranstaltungen zogen sich natürlich über einige Monate.
Ernsthafter Kern der Frage: Für die Durchsetzung der norwegischen Literatur war 2019 eine wichtige Wegmarke?
HSH: Vielleicht war der Gastlandauftritt ein Symptom dafür, wie durchgesetzt die norwegische Literatur bereits war. 2018 bis 2020 wurden um die 500 Bücher allein ins Deutsche übersetzt!
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Guggolz Verlag in Sachen Tarjei Vesaas?
HSH: Sebastian Guggolz ist ein Phänomen – den gibt es wirklich mindestens drei Mal: Weil er wahnsinnig viel arbeitet und liest, und dann noch ins Kino geht und Sport treibt. Dem war Tarjei Vesaas empfohlen worden – und der fragte mich dann: Kennst Du den? Und würdest Du den für mich übersetzen? Wir machten den ersten Vertrag über „Das Eis-Schloss“. Dann „Die Vögel“. Dann „Der Keim“. Und jetzt im Frühjahr kommt mit „Frühlingsnacht“ ein neuer Vesaas bei Guggolz heraus. Ein Roman, der einerseits leicht zu lesen ist – und auf der anderen Seite die ganze Meisterschaft von Tarjei Vesaas in nuce enthält. Der übrigens auch ein großes Vorbild im Schreiben ist für Jon Fosse: Vesaas arbeitet mit sehr diskreten und zärtlichen Andeutungen, mit denen er es aber schafft, gestochen scharfe Tiefenporträts von Figuren zu zeichnen – hier das eines 15jährigen, der über Nacht erwachsen wird. Ich bin absolut glücklich, dass Sebastian Guggolz diese Vesaas-Reihe macht – das ist nicht selbstverständlich bei einem Verlag, der vier bis fünf Titel pro Jahr veröffentlicht.
Wie fing es mit Ihnen und der norwegischen Literatur überhaupt an? Ich habe gelesen, dass Sie ganz früh Artikel und Radiofeatures im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur geschrieben haben?
Mit 27 dachte ich: Moment mal, Übersetzen ist doch ein Beruf!
Hinrich Schmidt-Henkel
HSH: Wenn man als frischgebackener arbeitsloser Lehrer anfängt, sich ins Übersetzen reinzuschmuggeln, versucht man, alle Kanäle auszuschöpfen. Ich hatte meine Examensarbeit über Kinder- und Jugendliteratur geschrieben. Und erinnere mich noch gut daran, wie uns unsere Grundschul-Lehrerin „Die Räuber von Kardemomme“ des Norwegers Thorbjørn Egner vorlas. Das war dann über Jahre mein Lieblingsbuch. Als ich dann Norwegisch lernte, kam mir im zarten Alter von 27 eines lauen Sommerabends der Gedanke: Moment mal, das Übersetzen ist doch ein Beruf! Was ich eigentlich schon lange wusste, da meine Eltern mit einem berühmten Übersetzer aus dem Französischen, Eugen Helmlé, gut befreundet waren. Ich versuchte, auf der Buchmesse Aufträge zu akquirieren. Ein norwegisches Buch bekam damals den Jugendliteraturpreis in der Bilderbuchsparte, „Abschied von Rune“ von Marit Kaldhol und Wenche Øyen… Ich habe damals versucht, viel zu lesen, zu assimilieren, viel kennenzulernen, Dinge zu finden, die sich zu vermitteln lohnen. Einiges von dem, was ich in den Jugendbuch-Abteilungen norwegischer Verlage entdeckt habe, habe ich in Fach-Artikel oder Radiobeiträge gepackt.
Haben Sie einen Kinderbuch-Tipp für uns?
HSH: Was jetzt bei Fischer-Sauerländer wieder auf Deutsch gekommen ist, ist Jon Fosses Bilderbuch „Schwester“, illustriert von Aljoscha Blau, das 2007 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten hat. Man sieht da sehr schön, dass dieser Universal-Künstler auch so schreibt, dass es für kleine Kinder im Vorlese-Alter geeignet ist. Ein Jury-Mitglied hat das damals im Feldversuch mit Dreijährigen erprobt – es funktioniert! Ich bin sehr offen dafür, auch wieder mehr im Kinder- und Jugendbereich zu übersetzen.
Sie werden auch im März in Leipzig sein?
HSH: Ich werde während der Leipziger Buchmesse vier Lesungen mit zwei Autoren haben: Das ist einmal Lars Mytting, Autor der großartigen „Schwesternglocken“-Trilogie (Insel). Dazu kommt Tomas Espedal mit seinem neuen Buch „Lust“ (Matthes & Seitz Berlin) nach Leipzig. Tomas ist – ähnlich wie Jon Fosse – einer von denen, die eigentlich schreiben können, was sie wollen – und es ist immer wieder großartig zu lesen!
Als Sie beide uns 2019 beim Literarischen Herbst besuchten, hat Tomas auf offener Bühne die Ansage gemacht: Keine Lesungen mehr!
HSH: Tomas hat sich von dem Tag an dran gehalten – bis heute. Er hat sein Leben ziemlich umgekrempelt, ist noch einmal Vater geworden. Und lässt sich tatsächlich wieder einmal auf diese nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtigen Lesereisen ein.
Lieber Hinrich Schmidt-Henkel, vielen Dank für dieses Gespräch. Wir freuen uns auf Sie!
Tomas Espedal (links) und Hinrich Schmidt-Henkel im UT Connewitz: Eigentlich sollte dieser legendäre Auftritt 2019 Espedals letzter sein (c) Gert Mothes
Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Kjell Askildsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. (gemeinsam mit Frank Heibert) mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, dem Königlich Norwegischen Verdienstorden und zuletzt mit dem ersten Fosse-Preis für Übersetzer. Die Fosse-Vorlesung und die Verleihung des Fosse-Preises werden am 24. April 2025 im Königlichen Palast in Oslo stattfinden, organisiert von der norwegischen Nationalbibliothek. Schirmherrin für beide Auszeichnungen ist Kronprinzessin Mette-Marit.
Birgitte Solheim ist so alt, dass die meisten ihrer Freunde schon gegangen sind. Den Großteil ihrer Wohnung verbringt sie in ihrer Pariser Wohnung und blickt zurück: Mit ihrer Karriere als Herzchirurgin – die erste in Norwegen! – brach sie erfolgreich in eine Männerdomäne ein, die Gründung einer Familie, der Wunsch nach eigenen Kindern mussten dahinter zurückstehen. Die Frau, die einer über 90jährigen Ausnahme-Medizinerin an der Schwelle zum Tod mit großartiger Einfühlung eine Stimme verleiht, ist die 1975 geborene, in Oslo lebende Kjersti Anfinnsen. Im Literaturhaus Leipzig und in Berlin war sie dieser Tage zu erleben – eine außergewöhnliche Vorbotin des norwegischen Gastlandauftritts zur Leipziger Buchmesse im März.
Im Brotberuf ist Kjersti Anfinnsen, Jahrgang 1975, Zahnärztin – daneben hat sie sich in ihrer Heimat Norwegen als Autorin und DJane einen Namen gemacht. Nach Studiengängen zum literarischen Schreiben in Tromsø und Bergen veröffentlichte sie 2012 ihr Debüt. „Letzte zärtliche Augenblicke“, das eben im Wiener Septime Verlag erschien, ist ihre erste Publikation im deutschen Sprachraum. Der von der eindrucksvollen Protagonistin Birgitte Solheim geprägte Roman erschien im Original ursprünglich in zwei Bänden: „Die letzten Zärtlichkeiten“ (2019) und „Augenblicke für die Ewigkeit“ (2021) – letzterer wurde bis heute in 13 Sprachen übersetzt und war für den Literaturpreis der Europäischen Union nominiert.
Moderator Thomas Böhm im Gespräch mit Kjersti Anfinnsen (c) nk
Wie, fragt man sich schon nach Lektüre der ersten Seiten von „Letzte zärtliche Augenblicke“, ist eine Frau von noch nicht einmal fünfzig Jahren fähig, so vollkommen in die Gedanken- und Gefühlswelt einer über Neunzigjährigen einzudringen? Ein Zufall, erklärt Anfinnsen in Leipzig: „Ich habe mich fünf Jahre erfolglos mit einem anderen Buch abgemüht – und dann, quasi als Lockerungsübung, angefangen, kleine Texte zu schreiben, aus denen eine mir unbekannte Bitternis sprach. Ich fragte mich: Was ist das für eine Stimme? Nach und nach wurde mir klar, dass es die Stimme einer sehr alten Frau sein muss, die die Summe ihres Lebens zieht.“ So wurde die Herzchirurgin Birgitte Solheim erfunden. Da es, als Anfinnsen am Buch schrieb, in ganz Norwegen noch keine realexistierende Herzchirurgin gab, lässt sie die Birgitte des Romans in New York Karriere machen.
Lange Schlange: Kjersti Anfinnsen signiert nach der Lesung geduldig ihre Bücher (c) nk
Auf dem Original-Cover des Kolon Verlags (Oslo) ist ein Skalpell zu sehen: Das Instrument der Chirurgin, aber auch ein Bild für den Ton Birgitte Solheims: Er ist äußerst präzis und genau, aber auch von ätzender Schärfe und zuweilen Bösartigkeit. Ihre Bitterkeit hat zweifellos mit der Erfahrung zu tun, gegen Ende des eigenen Lebens in der Gesellschaft fast unsichtbar zu sein, nicht gehört zu werden – eine gefühlte Lebensungerechtigkeit.Kjersti Anfinnsens große Kunst besteht darin, dieses Buch nicht nur in schwärzesten Farben gehalten zu haben. Der Roman entwickelt überraschend tragikomische Momente, etwa in der skurrilen Skype-Beziehung Birgittes zu ihrer Schwester und in jener zu ihrem Freund Javiér, den sie, selbstverständlich, übers Netz kennengelernt hat und der im Fortgang der Ezählung einen Demenzschub erleidet. Fast schon regelmäßig wird Anfinnsen gefragt, wie es ihr, in der Mitte des Lebens stehend, möglich ist, sich in eine alte Frau hineinzuversetzen? „Das ist eines der Wunder von Literatur“, sagt Kjersti Anfinnsen. „Die Kraft der Imagination erlaubt es mir, freier zu sein, als wenn ich nur über mich schreiben würde.“
Für den Preis der Leipziger Buchmesse 2025 sind 506 Werke von 166 Verlagen eingereicht worden, die Jury hat seit letztem Herbst, in Ihren Worten, „Gegenwartsausgrabungen“ vorgenommen. Nehmen Sie uns doch bitte mal mit aufs Grabungsfeld: Ist autofiktionales Schreiben out? Schreibt man angesichts der politischen Lage mit heißer Feder und zu wenig Abstand? Weiß die Literatur noch um ihre ureigenen Mittel? Lassen sich Trends festmachen?
Katrin Schumacher: Ich muss die ersten beiden Annahmen mit einem deutlichen „Nein!“ beantworten: Autofiktionales Schreiben nimmt nach wie vor einen großen Raum in der Belletristik ein, tut das aber überraschender Weise auch im Sachbuch. Dort wird sehr häufig von eigenem Erleben, etwa der eigenen Familiengeschichte, ausgegangen, das hat sich bereits in den letzten Jahren stärker herauskristallisiert. Und zum zweiten ist Literatur nach wie vor ein langsames Medium. Die Bücher, die mit heißer Nadel gestrickt sind, sind entweder nicht eingereicht worden – oder wir haben sie rasch beiseitegelegt.
Wie ist Ihre Arbeit organisiert? Wahrscheinlich wird kein Jurymitglied alle 506 Einreichungen gelesen haben?
Schumacher: Unser Anspruch ist, dass jedes Buch eine kleine Rezension bekommt. Das ganze Feld wird unter uns sieben Lesenden aufgeteilt, wobei alle aus allen Sparten etwas auf dem Tisch haben. In den letzten Wochen sind wir damit beschäftigt gewesen, die Bücher sehr genau unter die Lupe zu nehmen. In diesem Prozess kristallisiert sich ein Kontingent heraus, das alle noch einmal anschauen müssen, bevor es in die Diskussion der 15 zu Nominierenden geht.
Gibt es in dieser Phase Austausch unter den Jurorinnen und Juroren? Oder liest man auf seiner Insel?
Schumacher: In der Phase, in der wir unsere Rezensionen zusammengetragen haben, lief der E-Mail-Verkehr stellenweise schon heiß. Zu einigen Fragen haben wir uns auch im virtuellen Raum zusammengeschaltet. Kurz vor der Veröffentlichung der Nominiertenliste am 5. März wird es dann eine große Sitzung im LCB geben – die kann erfahrungsgemäß auch mal einen geschlagenen Tag dauern.
Sie haben schon in diversen Literaturpreis-Gremien wie etwa dem Klopstock-Preis gearbeitet, von 2019 bis 2021 gehörten Sie auch schon einmal der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse an: Was macht diesen Preis besonders?
Schumacher: Es ist zunächst ein Preis, der in drei Kategorien vergeben wird, Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Das macht ihn besonders. Und: Die Jury ist, nach meiner Erfahrung, die anspruchsvollste, die man sich denken kann, denn sie setzt sich nur aus Kolleginnen und Kollegen zusammen…
Es ist eine reine Expertenjury, bestehend aus Kritikerinnen und Kritikern?
Schumacher: Genau! Insofern ist es auch eine total anstrengende Jury (lacht)… Weil man da wirklich sein Kritiker:innen-Besteck auspacken muss. Die Rezensionen, die wir untereinander austauschen, sind nicht selten lustig, immer geschliffen – und keiner möchte da nachstehen! Es macht riesigen Spaß, da ein feines Florett zu führen.
Auch Jury-Arbeit ist am Ende ja: Arbeit. Ist man auch deshalb gern dabei, weil man sich so wieder einmal der eigenen Instrumente versichert?
Schumacher: Die Lust am Handwerk spielt auf jeden Fall eine Rolle! Dazu habe ich noch nie einen so umfangreichen und tiefen Blick ins Feld der Gegenwartsliteratur bekommen wie in den Jahren, in denen ich in der Leipziger Jury war. Das merke ich auch in diesem Jahr.
Die Erregungskurve nach Jury-Entscheidungen ist oft hoch. Wie gehen Sie als Literaturkritikerin mit Kritik um?
Schumacher: Kann ich gut aushalten. Muss man auch aushalten.
If you can’t stand the heat, get out of the kitchen?
Schumacher: (lacht) Ja, natürlich… Man steht in der Öffentlichkeit. Und muss sich dem auch aussetzen.
Gute Argumente sind hilfreich…
Schumacher: Absolut. Das ist unsere Aufgabe. Wir jazzen ja nicht unsere eigenen Lieblinge hoch. Wir agieren in gewisser Weise auch stellvertretend…
Wofür?
Schumacher: Für den Diskurs über Literatur. Wir führen ein ernsthaftes Gespräch über Literatur. Das ist das, was ich an Literaturkritik und -vermittlung eh mag. Welche Themen werden verhandelt, welcher Ästhetiken bedient man sich? Wir lenken, stellvertretend, den Blick auf Bemerkenswertes, Neues, Spannendes.
Wir brauchen das ernsthafte Gespräch über Literatur!
Katrin Schumacher, Literaturredakteurin und Autorin
Die Krise der Kritik ist Dauerthema in solchen Diskursen. Fehlende gemeinsame Koordinaten, kaum mehr geteilte Referenzen, wachsender ökonomischer Druck und der Relevanzverlust von Kunst und Kultur im öffentlichen Leben befördern die Warenförmigkeit von Büchern und die Beliebigkeit ihrer Bewertung. „Hab’ ich gern gelesen“ hört man auch mal von Profis. Gibt es ein Gegenmittel?
Schumacher: Wir brauchen das ernsthafte Gespräch über Literatur, es schafft gewissermaßen den Resonanzraum des jeweiligen Buches mit.
Praktisch gefragt: Was macht gute Literaturkritik aus? Worum bemühen Sie sich, wenn Sie schreiben oder in Mikro und Kamera sprechen?
Schumacher: Wichtig ist für mich, das Buch in einen Resonanzraum zu holen, der außerhalb des Buches steht. Ich versuche, Anknüpfungspunkte zu finden: Die können in gesellschaftlich relevanten Themen liegen, oder in ästhetischen Wagnissen, die ein bestimmtes Buch eingeht. Besprechungen, die nur den Inhalt referieren oder bei subjektiven Geschmacksurteilen stehenbleiben, genügen nicht. Man sollte schon klarmachen, welche Fenster sich mit der Lektüre dieses oder jenes Buches öffnen – oder auch, wenn nötig, welche Türen zugeschlagen werden. Wieso brauchen wir dieses Buch, was ist das Besondere daran. Wenn dazu noch Euphorie, Leselust, das Brennen für ein Buch kommen – umso besser!
Ich habe schon Bücher nach Kritiker-Kaufbefehlen erworben…
Schumacher: Gute Buchhändlerinnen und Buchhändler funktionieren auch so! Man wollte einen Titel kaufen. Und kommt mit dreien aus dem Laden.
Sie sind Redakteurin im linearen Radio, aber auch mitverantwortlich für TV-Formate wie „Druckfrisch“ – und die von Ihnen moderierte Literatursendung „Unter Büchern“ gibt es natürlich auch als Podcast. In welchem Veränderungsprozess steht das mediale Sprechen über Bücher und Literatur heute?
Schumacher: Man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Literatur in den klassischen Medien auf dem Rückzug ist. Das ist bedauerlich, aber dieser Trend scheint nicht aufzuhalten. Auf der anderen Seite wächst einiges nach: Es gibt großartige Blogs und Podcasts über Bücher und Literatur, selbst auf TikTok sprießt es… Als Leserin erlebe ich das mit großem Gewinn.
Was macht es mit der Kritikerin, wenn sie die andere Seite des Schreibtischs aus dem Effeff kennt? Sie sind auch Autorin…
Schumacher: Der Schock setzt erst nach Abgabe des Manuskripts ein – wenn einem wieder bewusst wird: Autsch, ich bin ja Literaturkritikerin! Jetzt werden mich alle grillen… Beim Schreiben spielt das überhaupt keine Rolle. Das professionelle Lesen beschert mir im Gegenteil eine gewisse Trittsicherheit in stilistischen Fragen.
Aber es macht es nicht kaputt, im Sinn einer Déformation professionnelle?
Schumacher: Für mich war Schreiben schon immer zwangsläufig. Aber es hat auch einen Grund, warum ich mein literarisches Debüt nicht mit 30 veröffentlicht habe.
Es gehört Mut dazu…
Schumacher: Vielleicht auch etwas wie Alltagssouveränität?
In einem anderen Leben hatten Sie ein Pseudonym?
Schumacher: Da habe ich als Radiomoderatorin bei Klassik Radio gejobbt, aber auch an der Uni gelehrt. Die beiden Sphären wollte ich strikt trennen.
Es war ein schönes Pseudonym…
Schumacher: Marie Reinhard. Die ‚Mizi’. Das ist die am 18. März 1899, viel zu früh, gestorbene Geliebte Arthur Schnitzlers gewesen, der er viele, viele Tagebuchseiten gewidmet hat. Ich habe meine Doktorarbeit über femmes fantômes geschrieben und ihr dort ein großes Kapitel gewidmet.
Eigentlich ein Stoff, aus dem die Romane sind?
Schumacher: Wer es wagen will, kann sich bei mir melden. Ich habe jede Menge Infos.
Katrin Schumacher, geboren 1974 in Lemgo, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und studierte Kunsthistorikerin. Seit 2009 ist sie Literaturredakteurin des Mitteldeutschen Rundfunks, wo sie seit 2022 als stellvertretende Redaktionsleiterin des Ressorts Kulturdesk arbeitet. Seit 2019 hostet sie den wöchentlichen Podcast Unter Büchern von MDR Kultur. Außerdem ist sie Mitglied des Buchzeit-Teams auf 3sat und gehört der ARD-Redaktion von Druckfrisch an. Nach wissenschaftlichen Texten, Katalogarbeiten, Essays und dem Band „Füchse“ (Matthes & Seitz 2020) veröffentlichte sie mit „Liste der gebliebenen Dinge“ (Leykam Verlag 2024) ihr literarisches Debüt.
Sie sind Lektorin für phantastische Literatur – das wird einem nicht in die Wiege gelegt?
Hanka Leo: Ich komme aus einer Familie mit bildenden Künstlern, habe selbst eine musische Ausbildung erhalten und nach dem Abitur an einem Kinder- und Jugendtheater gearbeitet. Es war also früh klar, dass ich mit Kunst arbeiten möchte. Dann habe ich vom Beruf der Lektorin gehört; man raunte etwas von der „Königsdisziplin“ für Germanistinnen …
Stimmt, viele drängen in die Lektorate.
Leo: Lektorat ist Besserwissen für Fortgeschrittene. Also perfekt für mich! Dafür wurde angeraten, etwas Sprachliches zu studieren, was ich ursprünglich gar nicht vorhatte. Sechs Jahre später war ich freie Lektorin und mittlerweile betreue ich einige der namhaften Autorinnen und Autoren des phantastischen Genres.
Und das bereits mit der Spezialisierung auf phantastische Literatur?
Leo: An der Uni spielte das keine Rolle, es hat mich privat interessiert. Ich habe dann meine Magisterarbeit über das Werk von Kai Meyer geschrieben und ihn in diesem Zusammenhang für ein Interview kontaktiert. Später habe ich ihm die fertige Arbeit geschickt – was dazu führte, dass er mir einen seiner Romane fürs Lektorat anvertraut hat.
Ein Einstieg nach Maß …
Leo: Danach lief es wie von selbst. Und das Schöne ist: Ich arbeite noch immer mit Kai Meyer zusammen.
Bei der Phantastischen Akademie lösen Sie zusammen mit dem Autor Christoph Hardebusch die Gründungsvorsitzenden Oliver Graute und Natalja Schmidt ab. Damit geht nach dreizehn Jahren so etwas wie eine Ära zu Ende – haben Sie Lampenfieber vor der neuen Aufgabe?
Leo: Ich habe Respekt, absolut. Aber es ist ja auch gut, wenn man eine Herausforderung außerhalb der eigenen Komfort-Zone annimmt.
Sie wollen die Abläufe rund um den von der Akademie verliehenen Seraph „transparenter und nahbarer“ gestalten – was heißt das?
Leo: Ich möchte klarstellen, dass wir den in drei Kategorien ausgeschriebenen Preis zwar übergeben, aber nicht darüber entscheiden, wer ihn bekommt. Es läuft ein Auswahlverfahren über zwei Etappen: Nach einer Leserunde, die eine Vorauswahl aus etwa zweihundert Einsendungen trifft, entscheiden insgesamt 21 Jurorinnen und Juroren, die allesamt Expertise und einen fachlichen Blick auf die Phantastik-Szene mitbringen, über die Gewinntitel.
Wie hat sich das Standing des Preises seit dem Start 2011 entwickelt?
Leo: Anfangs gab es nur zwei Kategorien – das Beste Debüt und das Beste Buch, wobei der Fokus immer auf dem Debüt-Preis für die Nachwuchsförderung lag. 2018 ist der Beste Independent-Titel dazugekommen. Eigentlich hatte die Akademie den 2016 nur einmalig ausloben wollen, damals in Kooperation mit Neobooks, einem Selfpublishing-Imprint von Droemer Knaur. Das ist so gut angekommen, dass man zwei Jahre später beschlossen hat, die Kategorie regulär aufzunehmen. Es ist erstaunlich, wie sich das Selfpublishing-Segment seither entwickelt hat: Heute sind viele dieser Titel nicht mehr von klassischen Verlags-Produktionen zu unterscheiden.
Der Seraph soll bereits für die nominierten Titel als eine Art Qualitätssiegel wirken.
Hanka Leo, Phantastische Akademie
Das Motto der Phantastische Akademie war von Anfang an „Fördern und Feiern“, und genau das ist es geblieben: Wir wollen eine größere Sichtbarkeit für Phantastik etablieren; der Preis soll bereits für die nominierten Titel als eine Art Qualitätssiegel wirken. Auf der anderen Seite geht es uns um eine möglichst schöne Preisverleihung – auf großer Bühne.
Was macht für Sie als Lektorin einen guten phantastischen Roman aus?
Leo: Wir sprechen ja in vielen Fällen von Unterhaltungsliteratur, insofern ist die Antwort auf die Frage: Unterhält mich der Roman? ein wichtiges Qualitätsmerkmal. Also: Ist er spannend? Und, nicht zu vergessen: Ist er schlüssig?
Selbst in der Phantastik muss es schlüssig sein?
Leo: Gerade da!
Die erdachte Welt muss in sich stimmig sein?
Leo: Genau. Ein Magie-System muss funktionieren. Das ist wie in jeder Literatur: Wenn man mit der Logik bricht, ergibt alles keinen Sinn. Eine überraschende, spannende Handlung schadet nicht – auch da unterscheidet sich die Phantastik nicht von anderen Genres. Und wenn dann noch jemand mit einer tollen Sprache, die zur Geschichte passt, um die Ecke kommt – dann ist es eventuell Kai Meyer (lacht).
Wie hat sich das Genre im deutschsprachigen Raum aus Ihrer Sicht in den letzten Jahren entwickelt?
Leo: Wenn man nur auf die Bestsellerlisten schaut: Vor rund zwanzig Jahren war Völker-Fantasy das große Ding: Zwerge, Orks, Elfen hatten einen riesigen Run. Das war etwa zu der Zeit, als die „Herr der Ringe“-Verfilmungen in die Kinos kamen. Einige der Autoren sind auch heute noch gut dabei: Markus Heitz etwa oder Bernhard Hennen. Inzwischen sehen wir auf den Bestsellerlisten viel Romantasy – verbunden mit mehr Autorinnen und einem gewachsenen weiblichen Lesepublikum.
Sind das dann die Bücher, die auch visuell und haptisch sehr aufwändig produziert sind? Ich sage nur: Farbschnitt.
Leo: Ja, das ist sehr beliebt zurzeit. Jedenfalls, zwischen diesen beiden Trend-Punkten liegen an die zwanzig Jahre Entwicklung. Vor der Völker-Fantasy war die Menge an deutschsprachiger Phantastik überschaubar. Da gab es Wolfgang Holbein – und dann lange Zeit gar nichts. Dazu noch US-amerikanische Importe, etwa bei Sci-Fi und Horror. Dann kam Anfang der 2000er die deutschsprachige Phantastik so richtig ins Rennen – und mittlerweile, finde ich, ist sie weit aufgefächert: Wir haben sehr gute Science Fiction, gerade im Selfpublishing-Segment erfolgreich, auch Near-Future-Fiction, die gesellschaftliche Verhältnisse einer näheren Zukunft ausleuchtet. Wir haben einen starken Horrorbereich, der sich bisher eher bei kleineren Verlagen abspielte, aber stetig wächst. Es gibt progressive Phantastik, die sich ganz klar politisch positioniert, und Cosy Fantasy, die um einiges unblutiger daherkommt. Kurz, es ist mittlerweile sehr, sehr viel möglich. Mit dem Seraph versuchen wir, die Leute zu animieren, diese Sachen in ihrer ganzen Vielfalt einzureichen, nicht nur die Bestseller. Unsere Nominierten-Liste hat im besten Fall Andockpunkte in viele Richtungen.
Im klassischen Literaturbetrieb nimmt phantastische Literatur noch immer eine eher randständige Rolle ein. Und wenn man schaut, wie oft Fantasy auf den Listen des Deutschen Buchpreises auftaucht …
Leo: … ist man schnell fertig.
Haben Sie eine Erklärung für das Fremdeln?
Leo: Ich glaube, es kommt aus der Geschichte der Phantastik. In Deutschland gab es eine Hochzeit in den 1920ern, 1930ern, da erschienen Klassiker wie „Alraune“ von Hanns-Heinz Ewers, „Die andere Seite“ von Alfred Kubin oder „Der Golem“ von Gustav Meyrink. Das brach komplett ab mit dem Ende der NS-Diktatur, da diese die Phantastik braun einfärbte; dann war jahrzehntelang Ruhe – bis ab den 1960ern das Genre im Kinder- und Jugendbuch sowie in erfolgreichen Heftroman-Reihen wie Perry Rhodan oder John Sinclair wieder aufkam.
Die der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften wohl eher nicht gefielen …
Es gibt großartige phantastische Romane, die sprachlich in einer ganz eigenen Liga spielen.
Hanka Leo, Lektorin
Leo: Der Groschenroman hat das Schmuddelecken-Problem bis heute. Und es zeugt schlicht von Desinteresse, wenn man die darin behandelten Genres darauf reduziert. Inzwischen gibt es großartige Autoren und Autorinnen, die sprachlich in einer ganz eigenen Liga spielen. Dazu werden phantastische Romane in Verlagen veröffentlicht, die gar nicht auf Phantastik spezialisiert sind – und die Bücher nicht unter diesem Label verkaufen. „Schatten des Windes“ etwa, von Carlos Ruiz Zafón (Suhrkamp), wurde weltweit rund 15 Millionen Mal verkauft.
Hannes Riffel, Verleger des neuen Carcosa Verlags, spricht gern von „phantastischer Weltliteratur“ – dort erscheinen Ursula K. Le Guin oder Alan Moore.
Leo: Mit diesen beiden kann man wirklich nichts falsch machen.
Abschließend gefragt: Wo sehen Sie die Zukunft des Seraph?
Leo: So wie sich die phantastische Literatur stetig wandelt, bekommt auch der Preis neue Impulse. Wir werden also nicht stehen bleiben.
Hanka Leo ist in Cottbus aufgewachsen, wo sie während und nach ihrem Abitur am Piccolo Theater arbeitete. Von 2004 bis 2010 studierte sie Germanistik und Geschichte in Dresden. Seitdem ist sie als freie Lektorin tätig, unter anderem für Autorinnen und Autoren wie Kai Meyer, Markus Heitz oder Theresa Hannig; auf ihrer Verlags-Kundenliste stehen beispielsweise Droemer Knaur, Piper, Fischer Tor und Audible. Seit 2013 ist sie Mitglied im Verband Freier Lektorinnen und Lektoren (VFLL), seit 2019 Schriftführerin der Phantastischen Akademie. Seit Herbst 2024 ist sie 1. Vorsitzende der Phantastischen Akademie, der Autor Christoph Hardebusch wurde zum 2. Vorsitzenden gewählt. www.lektographem.de
Der Seraph ist ein Literaturpreis, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die besten deutschsprachigen Romane des Phantastik-Genres zu prämieren. Seit 2012 wird der Seraph jährlich von der Phantastischen Akademie im Rahmen und in Kooperation mit der Leipziger Buchmesse verliehen. Der dotierte Preis wird in den Kategorien Bester Roman, Bestes Debütund Bester Independent-Titelvergeben.
Die drei Kategorien sind im kommenden Jahr mit 7000 Euro für das Beste Debüt und jeweils 6000 Euro für das Beste Buch und den Besten Independent-Titel dotiert. Dies ist dank der Fördermitglieder und dem erfolgreichen Twitch-Spenden-Stream der Autorin Liza Grimm möglich.
Der Name Seraph entstammt der judäo-christlichen Mythologie und bezeichnet die oberste Hierarchieebene unter den Engeln. Seraphim werden meist mit drei Flügelpaaren dargestellt. Für die Phantastische Akademie symbolisieren sie die drei großen Untergenres der Phantastik: Science-Fiction-, Fantasy- und Horror-Literatur.
Einsendeschluss für den Seraph 2025 ist der 15. Dezember 2024; die Nominiertenliste wird in der zweiten Januarhälfte bekanntgegeben. Die Verleihung erfolgt auf der Großen Bühne der Leipziger Buchmesse in Halle 3 am Freitag, 28. März um 16 Uhr. Auch in diesem Jahr wird es darüber hinaus im Anschluss an die Preisverleihung die Lange Nacht der Phantastik im Kulturzentrum Ankergeben, bei der die Gewinntitel vorgestellt werden.
Welcher Ort wäre für diesen Abend besser geeignet? Das Ost-Passage Theater (OTP) ist eine ehemalige Markthalle, die als Lichtspielhaus genutzt wurde, wegen Einsturzgefahr schließen musste und heute, nach unwahrscheinlich viel Einsatz durch Engagierte vor Ort, wieder ein unabhängiger Kulturraum ist – über einer Filiale von Aldi Nord. Und auch das Format ist ein Glücksfall: „Beste erste Bücher“ ist ein großer Abend der Romandebüts, bei dem die Texte im Mittelpunkt stehen. Es wird gelesen und punktgenau anmoderiert – kein Geschwafel, keine Fragen á la „Wie bist du zum Schreiben gekommen?“. Pate für das Konzept stand bei unserem ersten Literarischen Herbst im Oktober 2019 ein Lesungsformat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL), die „Institutsprosa“. Wer Ende der Neunziger, Anfang der Nullerjahre der Meinung war, dass die Literatur, die in Leipzig und Hildesheim, den damals noch einzigen akademischen Schreibschulen der Republik, entstand, zwar handwerklich perfekt und sprachlich ausgefeilt gewesen sei, aber leider nichts zu erzählen habe, brachte das gern auf eben diese Formel. Das Schmähetikett ist inzwischen zu einer positiv besetzten Trademark geworden: „Institutsprosa“ nennt sich eine von unserem Mitstreiter Jörn Dege organisierte Veranstaltung, die seit einigen Jahren zu Buchmesse-Zeiten für rappelvolle Räume am DLL sorgt.
Kristin Höller liest aus „Schöner als überall“ (c) Gert Mothes
Für den Literarischen Herbst haben wir die Grundidee ins OTP verpflanzt: Unter dem imposanten Tonnengewölbe an der Eisenbahnstraße wird aus sechs besonders vielversprechenden Erstlingen gelesen. Bei der Auswahl achten wir auf eine möglichst große Bandbreite der Texte – in Bezug auf die Autorinnen und Autoren selbst, den Stil und die verhandelten Themen der Bücher. Zur Premiere 2019 ging es um die Langzeitfolgen eines Verrats unter Freundinnen im rauen Berlin kurz nach der Wende (Lene Albrecht„Wir, im Fenster“, Aufbau), um geheimnisvolle Verknüpfungen zwischen Avantgarde-Tanztheater der 1020er und Tech-Start-ups der Gegenwart (Berit Glanz „Pixeltänzer“, Schöffling), um das Erwachsenwerden in der Provinz: die Verwundbarkeit, Neugier und Wut, die großen Pläne und Sackgassen, in denen sie oftmals enden (Kristin Höller „Schöner als überall“, Suhrkamp), es ging um den rätselhaften Tod eines Jugendfreundes, der schmerzhafte Fragen aufwirft (Tom Müller „Die jüngsten Tage“, Rowohlt), um den Wartestand zwischen Rausch und Sinnsuche von jungen Menschen im mondänen München der Jetztzeit (Désirée Opela „In Limbo“, Faber & Faber) und es ging schließlich um einen drückenden Spätsommer in Rumänien 1989 nahe der Grenze samt den persönlichen Verstrickungen am Vorabend eines politischen Umsturzes (Nadine Schneider „Drei Kilometer“, Jung und Jung).
2019 gestartet, wurde „Beste erste Bücher“ schnell zu einem der erfolgreichsten Formate des Literarischen Herbsts. Mit Berit Glanz und Tom Müller waren schon im ersten Jahr zwei der von uns Eingeladenen Finalisten für den ZDF-aspekte-Literaturpreis. Seitdem kann man im OTP in schöner Regelmäßigkeit Anwärter auf höhere Literaturbetriebs-Weihen hautnah erleben. Etwas Namedropping gefällig? Wir sprechen etwa von Deniz Ohde (aspekte-Literaturpreis 2020 und Shortlist Deutscher Buchpreis für „Streulicht“), Ariane Koch (aspekte-Literaturpreis 2021 für „Die Aufdrängung“), Verena Keßler (Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium 2021 für „Die Gespenster von Demmin“), Ferdinand Schmalz (der mit „Mein Lieblingstier heißt Winter“ 2017 schon den Bachmannpreis gewann und es mit dem fertigen Buch 2021 auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis schaffte), Behzad Karim Khani (Shortlist aspekte-Literaturpreis, Debütpreis Harbourfront-Literaturfestival 2022 für „Hund, Wolf, Schakal“), Charlotte Gneuß („aspekte“-Literaturpreis und Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2023 für „Gittersee“), Dana Vowinckel (Mara-Cassens-Preis 2023 und Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2024 für „Gewässer im Ziplock“) oder Clemens Böckmann(Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2024 für „Was du kriegen kannst“). Ehrensache, dass man die „Besten“ auch gleich vor Ort erwerben kann – der Büchertisch wird seit 2019 von einer unserer sieben Leipziger Partnerbuchhandlungen betreut.
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“: Dieser Vers aus „Stufen“, einem der bekanntesten Gedichte des Schriftstellers Hermann Hesse, ist in die Alltagssprache eingegangen. Er verweist aber auch darauf, wie eng die Rede vom Debüt mit der Schauseite des Buchmarkts verwoben ist: Wetten auf die Zukunft werden, wie an der Börse, abgeschlossen, fast so wichtig wieder Text zwischen zwei Buchdeckeln ist das Gesicht, die Geschichte des Autors, der Autorin, die auf der Bühne des Literaturbetriebs erstmals in Erscheinung treten. Nachdem es Debütromane in der Corona-Pandemie besonders schwer hatten, Veranstaltungsformate wie der Open Mike, bei denen Verlage und Agenten junge Talente entdecken, zeitweilig nur digital stattfanden, so dass sogar Autorenverbände wie der VS Alarm schlugen, investieren die Verlage nach wie vor in nachwachsende Autorinnen und Autoren.
Der deutschsprachige Autorennachwuchs ist mehrheitlich jung – die meisten sind in den 80er/90er Jahren geboren – und weiblich; rund drei Viertel der literarischen Debüts stammen von Frauen. In glücklichen Momenten gehen literarische Qualität und Markterfolg Hand in Hand: Der im Juli im Rowohlt-Verlag erschienene Debütroman „Die schönste Version” von Ruth-Maria Thomas ist jetzt schon ein voller Erfolg: Die FAZ nennt das Buch „ein berückendes Generationenporträt der Millennials”. Es war nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024 und für den aspekte-Literaturpreis 2024, stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Die in der Lausitz aufgewachsene Autorin hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig an der Universität Leipzig studiert – und im zurückliegenden Sommersemester ihren Bachelor gemacht. Chapeau!
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