Autor: Nils Kahlefendt

Hat ein Faible für literarische Fantastik, niederländische Malerei, fließende Gewässer und Nature Writing: Jury-Vorsitzende Katrin Schumacher (c) Minitta Kandlbauer

„Bemerkenswertes, Neues, Spannendes“
24. Januar 2025
Katrin Schumacher, Juryvorsitzende beim Preis der Leipziger Buchmesse, über die feine Klinge mit Kollegen, die Erregungskurve nach Jury-Entscheidungen und das Doppelleben einer Autorin und Kritikerin.
Autor: Nils Kahlefendt

Hat ein Faible für literarische Fantastik, niederländische Malerei, fließende Gewässer und Nature Writing: Jury-Vorsitzende Katrin Schumacher (c) Minitta Kandlbauer

„Bemerkenswertes, Neues, Spannendes“
24. Januar 2025
Katrin Schumacher, Juryvorsitzende beim Preis der Leipziger Buchmesse, über die feine Klinge mit Kollegen, die Erregungskurve nach Jury-Entscheidungen und das Doppelleben einer Autorin und Kritikerin.

Für den Preis der Leipziger Buchmesse 2025 sind 506 Werke von 166 Verlagen eingereicht worden, die Jury hat seit letztem Herbst, in Ihren Worten, „Gegenwartsausgrabungen“ vorgenommen. Nehmen Sie uns doch bitte mal mit aufs Grabungsfeld: Ist autofiktionales Schreiben out? Schreibt man angesichts der politischen Lage mit heißer Feder und zu wenig Abstand? Weiß die Literatur noch um ihre ureigenen Mittel? Lassen sich Trends festmachen?  

Katrin Schumacher: Ich muss die ersten beiden Annahmen mit einem deutlichen „Nein!“ beantworten: Autofiktionales Schreiben nimmt nach wie vor einen großen Raum in der Belletristik ein, tut das aber überraschender Weise auch im Sachbuch. Dort wird sehr häufig von eigenem Erleben, etwa der eigenen Familiengeschichte, ausgegangen, das hat sich bereits in den letzten Jahren stärker herauskristallisiert. Und zum zweiten ist Literatur nach wie vor ein langsames Medium. Die Bücher, die mit heißer Nadel gestrickt sind, sind entweder nicht eingereicht worden – oder wir haben sie rasch beiseitegelegt. 

Wie ist Ihre Arbeit organisiert? Wahrscheinlich wird kein Jurymitglied alle 506 Einreichungen gelesen haben?   

Schumacher: Unser Anspruch ist, dass jedes Buch eine kleine Rezension bekommt. Das ganze Feld wird unter uns sieben Lesenden aufgeteilt, wobei alle aus allen Sparten etwas auf dem Tisch haben. In den letzten Wochen sind wir damit beschäftigt gewesen, die Bücher sehr genau unter die Lupe zu nehmen. In diesem Prozess kristallisiert sich ein Kontingent heraus, das alle noch einmal anschauen müssen, bevor es in die Diskussion der 15 zu Nominierenden geht.  

Gibt es in dieser Phase Austausch unter den Jurorinnen und Juroren? Oder liest man auf seiner Insel? 

Schumacher: In der Phase, in der wir unsere Rezensionen zusammengetragen haben, lief der E-Mail-Verkehr stellenweise schon heiß. Zu einigen Fragen haben wir uns auch im virtuellen Raum zusammengeschaltet. Kurz vor der Veröffentlichung der Nominiertenliste am 5. März wird es dann eine große Sitzung im LCB geben – die kann erfahrungsgemäß auch mal einen geschlagenen Tag dauern.

Sie haben schon in diversen Literaturpreis-Gremien wie etwa dem Klopstock-Preis gearbeitet, von 2019 bis 2021 gehörten Sie auch schon einmal der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse an: Was macht diesen Preis besonders?  

Schumacher: Es ist zunächst ein Preis, der in drei Kategorien vergeben wird, Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Das macht ihn besonders. Und: Die Jury ist, nach meiner Erfahrung, die anspruchsvollste, die man sich denken kann, denn sie setzt sich nur aus Kolleginnen und Kollegen zusammen… 

Es ist eine reine Expertenjury, bestehend aus Kritikerinnen und Kritikern?  

Schumacher: Genau! Insofern ist es auch eine total anstrengende Jury (lacht)… Weil man da wirklich sein Kritiker:innen-Besteck auspacken muss. Die Rezensionen, die wir untereinander austauschen, sind nicht selten lustig, immer geschliffen – und keiner möchte da nachstehen! Es macht riesigen Spaß, da ein feines Florett zu führen.  

Auch Jury-Arbeit ist am Ende ja: Arbeit. Ist man auch deshalb gern dabei, weil man sich so wieder einmal der eigenen Instrumente versichert?  

Schumacher: Die Lust am Handwerk spielt auf jeden Fall eine Rolle! Dazu habe ich noch nie einen so umfangreichen und tiefen Blick ins Feld der Gegenwartsliteratur bekommen wie in den Jahren, in denen ich in der Leipziger Jury war. Das merke ich auch in diesem Jahr.   

Die Erregungskurve nach Jury-Entscheidungen ist oft hoch. Wie gehen Sie als Literaturkritikerin mit Kritik um? 

Schumacher: Kann ich gut aushalten. Muss man auch aushalten. 

If you can’t stand the heat, get out of the kitchen?  

Schumacher: (lacht) Ja, natürlich… Man steht in der Öffentlichkeit. Und muss sich dem auch aussetzen.  

Gute Argumente sind hilfreich… 

Schumacher: Absolut. Das ist unsere Aufgabe. Wir jazzen ja nicht unsere eigenen Lieblinge hoch. Wir agieren in gewisser Weise auch stellvertretend… 

Wofür? 

Schumacher: Für den Diskurs über Literatur. Wir führen ein ernsthaftes Gespräch über Literatur. Das ist das, was ich an Literaturkritik und -vermittlung eh mag. Welche Themen werden verhandelt, welcher Ästhetiken bedient man sich? Wir lenken, stellvertretend, den Blick auf Bemerkenswertes, Neues, Spannendes.  

Wir brauchen das ernsthafte Gespräch über Literatur!

Katrin Schumacher, Literaturredakteurin und Autorin

Die Krise der Kritik ist Dauerthema in solchen Diskursen. Fehlende gemeinsame Koordinaten, kaum mehr geteilte Referenzen, wachsender ökonomischer Druck und der Relevanzverlust von Kunst und Kultur im öffentlichen Leben befördern die Warenförmigkeit von Büchern und die Beliebigkeit ihrer Bewertung. „Hab’ ich gern gelesen“ hört man auch mal von Profis. Gibt es ein Gegenmittel?  

Schumacher: Wir brauchen das ernsthafte Gespräch über Literatur, es schafft gewissermaßen den Resonanzraum des jeweiligen Buches mit.  

Praktisch gefragt: Was macht gute Literaturkritik aus? Worum bemühen Sie sich, wenn Sie schreiben oder in Mikro und Kamera sprechen?  

Schumacher: Wichtig ist für mich, das Buch in einen Resonanzraum zu holen, der außerhalb des Buches steht. Ich versuche, Anknüpfungspunkte zu finden: Die können in gesellschaftlich relevanten Themen liegen, oder in ästhetischen Wagnissen, die ein bestimmtes Buch eingeht. Besprechungen, die nur den Inhalt referieren oder bei subjektiven Geschmacksurteilen stehenbleiben, genügen nicht. Man sollte schon klarmachen, welche Fenster sich mit der Lektüre dieses oder jenes Buches öffnen – oder auch, wenn nötig, welche Türen zugeschlagen werden. Wieso brauchen wir dieses Buch, was ist das Besondere daran. Wenn dazu noch Euphorie, Leselust, das Brennen für ein Buch kommen – umso besser!  

Ich habe schon Bücher nach Kritiker-Kaufbefehlen erworben… 

Schumacher: Gute Buchhändlerinnen und Buchhändler funktionieren auch so! Man wollte einen Titel kaufen. Und kommt mit dreien aus dem Laden.  

Sie sind Redakteurin im linearen Radio, aber auch mitverantwortlich für TV-Formate wie „Druckfrisch“ – und die von Ihnen moderierte Literatursendung „Unter Büchern“ gibt es natürlich auch als Podcast. In welchem Veränderungsprozess steht das mediale Sprechen über Bücher und Literatur heute?  

Schumacher: Man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Literatur in den klassischen Medien auf dem Rückzug ist. Das ist bedauerlich, aber dieser Trend scheint nicht aufzuhalten. Auf der anderen Seite wächst einiges nach: Es gibt großartige Blogs und Podcasts über Bücher und Literatur, selbst auf TikTok sprießt es… Als Leserin erlebe ich das mit großem Gewinn.  

Was macht es mit der Kritikerin, wenn sie die andere Seite des Schreibtischs aus dem Effeff kennt? Sie sind auch Autorin…  

Schumacher: Der Schock setzt erst nach Abgabe des Manuskripts ein – wenn einem wieder bewusst wird: Autsch, ich bin ja Literaturkritikerin! Jetzt werden mich alle grillen… Beim Schreiben spielt das überhaupt keine Rolle. Das professionelle Lesen beschert mir im Gegenteil eine gewisse Trittsicherheit in stilistischen Fragen.  

Aber es macht es nicht kaputt, im Sinn einer Déformation professionnelle?  

Schumacher: Für mich war Schreiben schon immer zwangsläufig. Aber es hat auch einen Grund, warum ich mein literarisches Debüt nicht mit 30 veröffentlicht habe.  

Es gehört Mut dazu… 

Schumacher: Vielleicht auch etwas wie Alltagssouveränität?

In einem anderen Leben hatten Sie ein Pseudonym? 

Schumacher: Da habe ich als Radiomoderatorin bei Klassik Radio gejobbt, aber auch an der Uni gelehrt. Die beiden Sphären wollte ich strikt trennen.  

Es war ein schönes Pseudonym… 

Schumacher: Marie Reinhard. Die ‚Mizi’. Das ist die am 18. März 1899, viel zu früh, gestorbene Geliebte Arthur Schnitzlers gewesen, der er viele, viele Tagebuchseiten gewidmet hat. Ich habe meine Doktorarbeit über femmes fantômes geschrieben und ihr dort ein großes Kapitel gewidmet.  

Eigentlich ein Stoff, aus dem die Romane sind? 

Schumacher: Wer es wagen will, kann sich bei mir melden. Ich habe jede Menge Infos. 

Katrin Schumacher, geboren 1974 in Lemgo, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und studierte Kunsthistorikerin. Seit 2009 ist sie Literaturredakteurin des Mitteldeutschen Rundfunks, wo sie seit 2022 als stellvertretende Redaktionsleiterin des Ressorts Kulturdesk arbeitet. Seit 2019 hostet sie den wöchentlichen Podcast Unter Büchern von MDR Kultur. Außerdem ist sie Mitglied des Buchzeit-Teams auf 3sat und gehört der ARD-Redaktion von Druckfrisch an. Nach wissenschaftlichen Texten, Katalogarbeiten, Essays und dem Band „Füchse“ (Matthes & Seitz 2020) veröffentlichte sie mit „Liste der gebliebenen Dinge“ (Leykam Verlag 2024) ihr literarisches Debüt.

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Am 27. März 2025 wird zum 21. Mal der Preis der Leipziger Buchmesse in der Glashalle verliehen. Bis es so weit ist, gibt es für die Jury viel zu lesen: 506 Werke wurden bis zum 1. Oktober von 166 Verlagen eingereicht (2023: 486 Titel aus 177 Verlagen). Katrin Schumacher (MDR Kultur) hat den Vorsitz der Jury für die kommenden drei Jahre übernommen. Gemeinsam mit Zita Bereuter, Cornelia Geißler, Kais Harrabi, David Hugendick, Thomas Hummitzsch und Judith von Sternburg wird sie die Nominierten auswählen und am 5. März bekanntgeben. 

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