Autor: Maria Todorova

Drei Jahrzehnte – drei Jahrhunderte
26. Februar 2020
Ein Beitrag aus dem Magazin „The Years of Change 1989-1991. Mittel- Ost – und Südosteuropa 30 Jahre danach“
Autor: Maria Todorova

Drei Jahrzehnte – drei Jahrhunderte
26. Februar 2020
Ein Beitrag aus dem Magazin „The Years of Change 1989-1991. Mittel- Ost – und Südosteuropa 30 Jahre danach“

Eine Generation umspannt üblicherweise drei Jahrzehnte. Nun, da das Jahr 1989 historisch gealtert ist, ist es vielleicht sinnvoll, noch einmal auf die Positionen und Erinnerungen zurückzublicken, die seine Jugendzeit prägten. Erstaunlich ist, dass diese drei Jahrzehnte keine aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasen darstellen, sondern drei separate Zeitabschnitte, die von unterschiedlichen Interpretationen und Erinnerungen bestimmt sind.

Das erste Jahrzehnt nach 1989 wurde von der Frage beherrscht, ob das, was da stattgefunden hatte, tatsächlich eine Revolution war. Bemerkenswerterweise wurde nur in Rumänien sofort der Begriff der Revolution verwendet, da das Jahr 1989 dort von Gewalt gekennzeichnet war, doch selbst das wurde infrage gestellt. Die euphemistische bulgarische Bezeichnung die Veränderungen oder der Deutsche Begriff der Wende legen nahe, dass die unmittelbaren Erwartungen nicht so sehr auf eine drastische Veränderung, sondern auf eine allmähliche Verbesserung, vor allem der Wirtschaft, gerichtet waren. „Refolution“ war da das treffende Oxymoron. Tatsächlich war es aber – ob nun samten oder nicht – eine radikale Revolution. Mit dem Ende des Jahrzehnts war der sogenannte „Übergang“ offiziell abgeschlossen. In ganz Osteuropa war er eigentlich mit dem Ende des Privatisierungsprozesses und der Legitimation der neuen Eigentumsklasse vorbei. Das Jahrzehnt nach 1989 brachte eine tiefgreifende Umwälzung der früheren Ordnung mit drastischen, ja revolutionären Veränderungen des Güterstands und der sozialen Struktur. Es war das Jahrzehnt des „Endes der Geschichte“.

Das zweite Jahrzehnt musste sich mit dem Preis für diese Revolution auseinandersetzen. Man konnte beobachten, wie sich ein Phänomen ausbreitete, das unter dem Oberbegriff der „postkommunistischen Nostalgie“ bekannt wurde. Die Nostalgie kam zu einer Zeit, in der Versuche, den Sozialismus aufrechtzuerhalten oder wiederzubeleben, nicht mehr tragfähig waren. Die Nostalgie wurde zum Ventil für Gesellschafts- und Kulturkritik sowie (die) für eine Sehnsucht nach Stabilität, und sie diente der sogenannten „verlorenen Generation“ gleichzeitig dazu, die eigene Würde zu wahren. Auf der anderen Seite ignorierte dieses Konzept nicht nur die Not der Entrechteten, sondern die Kommerzialisierung der Nostalgie trug auch zu einer Etablierung des neoliberalen Kapitalismus bei. In der Wissenschaft fielen die Erwartungen, die man in die Theorie vom Totalitarismus gesetzt hatte, bei empirischer Überprüfung praktisch in sich zusammen, es geht aber viel eher um Aporien, Antinomien und Paradoxien als um die starren Konturen einer Regimestruktur.

Nach dem Finanzcrash von 2008 und der globalen Rezession brach im letzten Jahrzehnt der neoliberale Sozialpakt auseinander. Die Debatten über Nostalgie sind inzwischen anachronistisch. Immer weniger Menschen haben unmittelbare Erinnerungen an den Kommunismus, und die Inseln positiver Erinnerungen – unter den Älteren und Ärmeren – werden immer kleiner oder verschwinden ganz. Diese Zeit brachte soziale Unruhen mit sich, die sich gegen die Korruption der politischen Klasse, die Arroganz der Neureichen und die bittere Armut richteten – eigentlich ein globales Phänomen, das sich nicht auf die Region beschränkte. Der Status osteuropäischer Länder als solche zweiter Klasse innerhalb der immer noch begehrten Europäischen Union führte dort zum Aufstieg des Nationalismus und „illiberal-demokratischer“ Regime, die von Kritikern unter dem bedeutungslosen Begriff des „Populismus“ zusammengefasst wurden. Aber auch hier gilt, dass die Auseinandersetzung mit der Hybris des Neoliberalismus kein osteuropäisches Monopol ist.

Zugegebenermaßen ist das historische Gedächtnis nie universell, und bei einer richtigen Analyse kommt es darauf an zu untersuchen, wer erinnert und was erinnert wird. Es liegt mir fern, mich in die Erinnerungskriege zu stürzen, die hauptsächlich geführt werden, weil man allen eine universelle Zwangserinnerung aufdrängen will. Und falls meine Analyse (und meine Erinnerung) allzu düster erscheint, möchte ich eine positive Errungenschaft von 1989 hinzufügen, von der ich persönlich profitiert habe: die Emanzipation der Intellektuellen. Sie waren befreit von der Angst, von den Unterdrückungsmechanismen eines willkürlichen Regimes; sie hatten die Freiheit zu reisen und ungehindert durch Vorschriften ihre Ambitionen zu verfolgen. Doch Emanzipation ist ein kniffliger Begriff. Die Intellektuellen wurden auch von ihrer erhabenen Rolle als Wächter*innen der Kultur entbunden, sie sind randständig und bedeutungslos geworden. Ich erinnere mich, wie ich erstmals in die USA kam und Kolleg*innen an den Universitäten sagten: „Zumindest hatten Sie eine gewisse Bedeutung, wir sind hier völlig irrelevant.“ Manchmal gibt einem diese Bedeutungslosigkeit die begehrte Ruhe, und ich habe sie eine Zeit lang genossen, aber sie hat enorme Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Kultur – Sprache, Literatur, Kunst und Bildung – in Strukturen eingebettet ist, um sie zu Geld zu machen. Es mag immerhin ein Trost sein, dass die Intellektuellen in Osteuropa mit ihrem Lamento nicht mehr auf ihre Region beschränkt sind. Ihr Lamento ist globalisiert.

Die Bundeszentrale für politische Bildung lädt zur Leipziger Buchmesse vom 12. bis 15. März 2020 zum Mitdenken und -reden in vier Programmen zur internationalen und nationalen Demokratieförderung ein. In Kooperation mit der Leipziger Buchmesse veranstaltet die bpb den dreijährigen Programmschwerpunkt „The Years of Change 1989-1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“ – in diesem Jahr mit dem Fokus auf dem Baltikum, Rumänien und Bulgarien. Die bpb unterstützt zudem die Vorstellung des Preisträgers des „Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung“ und führt im Bildungsbereich der Buchmesse „Leipzig diskutiert“ und „Leipzig streamt“ durch.

Im Mittelpunkt des Programmschwerpunkts „The Years of Change 1989-1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“ steht die Frage, wie sich die Staaten und Gesellschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa seit den Umbrüchen in den Jahren 1989-1991 entwickelt haben. Der Programmschwerpunkt findet vom 12. bis zum 14. März im Café Europa (Halle 4) und am Abend des 12. März in der Schaubühne Lindenfels statt. In elf Veranstaltungen kommen Autor*innen, Aktivist*innen und Expert*innen aus Estland, Lettland, Litauen, Deutschland, Großbritannien, Rumänien, Bulgarien und den USA mit dem Publikum ins Gespräch. „Imagining Future“ – zum Abschluss der zweiten Ausgabe des Programmschwerpunkts spricht die bulgarische Historikerin Maria Todorova gemeinsam mit Moderator Lothar Müller am 14. März, 16 Uhr, im Café Europa, darüber, wie wir mit den historischen Lasten und gegenwärtiger Entdemokratisierung die Zukunft in Europa gestalten können. Alle Veranstaltungen werden in Deutsch und Englisch mit simultaner Übersetzung angeboten.

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