Ist es ein schicksalhafter Zufall, dass die Zeilen aus Heinrich Heines „Nachtgedanken“ („Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht“) zu den ersten Erinnerungen gehören, die László Földényi mit Deutschland verbinden? Mitte der Sechziger, als Junge von zehn, zwölf Jahren, so schildert er es in seiner Dankrede zum Friedrich-Gundolf-Preis („Deutschland – so nah, so fern“), musste er es Woche für Woche einer älteren, aus Siebenbürgen stammenden Dame vorlesen. In den stillen Mittwochnachmittagen der Kindheit verspürt er eine rätselhafte Rührung – und so begegnet ihm zum ersten Mal die deutsche Kultur. Das „Gerührtsein durch das Rätselhafte“ – diese Erfahrung hat Földényi seither nicht mehr verlassen: „Es hat sich vielmehr vertieft, eine größere Allgemeingültigkeit erlangt. Und es erregt mich noch immer. Dabei handelt es sich nicht einfach um intellektuelle Neugierde, sondern vielmehr um das Erlebnis, dass diese eigenartige, für einen Fremden vielleicht nie ganz lösbare Rätselhaftigkeit der deutschen Kultur einen schwindelig machen, verführen kann.“
Der Blick des Ungarn László Földényi auf die deutsche Kultur ist also ein besonderer, stark subjektiv geprägter. Földényi, ein, wenn man so will, „melancholischer Metaphysiker“, dem die beschränkte Ideenwelt des von János Kádár regierten Ungarn kaum geistige Nahrung bot, fand bei den Deutschen das, was er eine seltene „Sensibilität für die Transzendenz“ nennt, idealtypisch verkörpert in Figuren wie Caspar David Friedrich oder Heinrich von Kleist. Das Thema der Melancholie beschäftigt Földényi dabei seit Jahrzehnten. Mit „Melancholie“, von Axel Matthes noch in München verlegt, erschien bereits 1988 eine historische Studie zum Bedeutungswandel des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart. In den Jahren darauf hat László Földényi die Fäden der melancholischen Geistesverfassung und Wahrnehmung stets weiterverfolgt: In seinen großen Studien über Caspar David Friedrich (1993), über Goya (1994) und über Heinrich von Kleist (1999).
Földényi, der „Seismograph des Krisenhaften“ (Ilma Rakusa), interessiert sich für „Die Nachtseite der Malerei“ (so der Untertitel des Buchs über Friedrich), für den „Abgrund der Seele“ (so der Titel des Goya-Buchs), und bei Kleist für die unerträgliche Spannung zwischen Seinsbejahung und Seinsverneinung, die sich schließlich negativ entlud. Hinter solch obsessiver Recherche, so Ilma Rakusa, die Laudatorin zum nach Friedrich Gundolf benannten Preis für die Vermittung deutscher Kultur im Ausland, steckt mehr als nur Forschungsinteresse: „Földényi ist stets auch sich selber auf der Spur, als ein unentwegt Suchender und Fragender, als ein Essayist im besten Sinne des Wortes… Földényis Ideologieresistenz lässt sich unschwer als Reaktion auf das kommunistisch indoktrinierte Leben in Ungarn deuten, die Ungeschütztheit jedoch, mit der er seine Studien betreibt, die in summa als ungeschriebene Autobiographie gelesen werden könnten, zeugt von einem existenziellen Ernst, der immer aufs Neue beeindruckt und berührt.“
Fast drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen seiner klassisch gewordenen Studie kehrt László Földényi mit „Lob der Melancholie“ zu seinem Lebensthema zurück. Er zeigt, wie sich im Übergang vom analogen zum digitalen Zeitalter unsere Wahrnehmung auf allen Gebieten des täglichen Lebens radikal verändert – und stellt die Frage, welche Bedeutung Melancholie in der heutigen Vergnügungsgesellschaft noch haben kann. „Melancholie“, so Földényi, „erinnert an die Unzuverlässigkeit der Gefühle und an die Vergeblichkeit sogenannten letzten Wissens – und daran, auf zerbrechlichen und wackligen Säulen steht.“ Aus diesem Paradox schöpfen vor allem Künstler ihre Themen. In seinen Streifzügen durch Bildende Kunst, Literatur, Film und Architektur zeigt der Autor, dass große Kunst fast immer aus der Spannung um das Nicht-Wissen, Nicht-Sehen und Nicht-Erklären-Können entsteht. Vom rätselhaften Polyeder in Albrecht Dürers „Melancholia“-Stich bis zu Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, von Francis Bacon bis zu Anselm Kiefer, von Peter Zumthors Bruder-Klaus-Feldkapelle bis zum Kölner Dom, von der skizzenhaften Alltagsbeobachtung bis zu Momenten tiefster Versunkenheit in die Natur reicht der Kosmos dieses „wilden Abenteuerbuch des Geistes“ (Darmstädter Jury Buch des Monats, Juli 2019).
Földényi betrachtet das Verhältnis von menschlicher Sehnsucht nach Erlösung und der rationalen Entzauberung der Welt. Die Melancholie offenbart er uns dabei in einer wunderbaren Paradoxie als produktiven Zustand, als zutiefst lebensbejahende Haltung zu einer Welt, die nicht von Vornherein von Gewissheit erfüllt ist. In einem Interview wurde László Földényi einmal gefragt, ob es womöglich die Melancholie sei, die seinen Erkenntnisbemühungen die notwendige Schärfe verleihe? „Ich habe schon so viel über Melancholie geschrieben, dass ich selbst gar nicht definieren könnte, was Melancholie sei“, antwortete Földényi. „Aber ob ich ein Melancholiker bin, könnte ich nicht sagen – wenn nur dieses Zögern selbst nicht schon ein Zeichen der Melancholie ist.“
Foto: imago / gezett
László F. Földényi, 1952 in Debrecen (Ungarn) geboren, ist Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Essayist. Er zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Er ist Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und unter anderem Träger des Friedrich-Gundolf-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der er seit 2009 angehört. Für sein Werk „Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften“ (Matthes & Seitz Berlin) wurde er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet. Im Mai 2021 erscheint „Der Maler und der Wanderer. Caspar David Friedrichs Urkino“ bei Matthes & Seitz Berlin.