Auch Juryarbeit ist vor allem eins: Arbeit. Wo liegt für Sie der Reiz, sich ihr auszusetzen?
Jens Bisky: Der Reiz ist sogar ein dreifacher: Zum einen liegt er darin, dass man relativ früh einen guten Überblick über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Sachbücher und Übersetzungen einer Saison erhält. Und so gar nicht umhinkommt, sehr viel zu lesen. Der zweite Reiz besteht darin, dass man über diese Bücher mit klugen Kolleginnen und Kollegen reden kann. Anfangs per Mail, später direkt – das bereitet mir immer großes Vergnügen. Und schließlich: Irgendwann muss man eine Entscheidung treffen – und ist gespannt, wie die Autoren und Leser darauf reagieren.
Wie hart wird um diese Entscheidung gerungen?
Bisky: Die Jury besteht – zum Glück – aus sehr verschiedenen Individuen, die alle anders lesen und urteilen. Insofern ist die Auseinandersetzung hart in der Argumentation – aber sehr freundlich im Umgang miteinander. Anders würde es gar nicht gehen. In diesem Frühjahr hätten wir in jeder Kategorie locker auch sechs, sieben oder acht Titel auf die Nominiertenliste setzen können. Sich dann für fünf zu entscheiden, das dauert!
Auch im Kritiker-Alltag schleichen sich Routinen ein. Sind Sie noch zu überraschen?
Bisky: Ich hoffe. Wenn ich das nicht mehr wäre, müsste ich den Beruf wechseln.
Die Fokussierung der Medien auf Preise wird im Betrieb gelegentlich kritisch hinterfragt; man beklagt, dass andere Bücher aus dem Blick geraten. Wie sehen Sie das?
Bisky: Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource, das Angebot ist riesig. Und Bücher sind ja nur ein Teil des ungeheuren Outputs zu Vergnügen, Belehrung und Unterhaltung. Die Preise, besonders die prominenten unter ihnen, strukturieren diese Aufmerksamkeit, klar. Es gibt aber immer auch andere Bücher, die ihren Weg zum Publikum finden. Vieles läuft auch über, wenn man das so nennen will, „Mund-zu-Mund-Propaganda“: die Empfehlungen der Buchhändler, die Tipps von Freunden. Die Frage wäre, was aus der Kritik folgt? Sollte man Preise deshalb abschaffen? Dann würden sich vermutlich die mächtigsten Verlage mit den größten Werbeetats durchsetzen.
Im letzten Jahr konnte sich der Verbrecher Verlag mit seiner Autorin Anke Stelling über den Preis der Leipziger Buchmesse freuen. Wie schätzen Sie die Chance für kleinere Independent-Verlage ein, an die begehrten Preistöpfe zu kommen?
Bisky: Ich glaube, dass die Chancen für kleinere Verlage, die nicht den großen Apparat eines Konzerns hinter sich haben, besser geworden sind als noch vor zehn, 15 Jahren. Inzwischen hat sich herumgesprochen, was die Independents für die literarische Landschaft leisten. Wer sich länger mit Büchern beschäftigt, kann diesen Umstand gar nicht übersehen.
Wie groß ist die Gefahr, in der Juryarbeit taktischen Erwägungen zu verfallen?
Bisky: Die Diskussion ist nie ganz frei von außerliterarischen Überlegungen. Wichtig ist, dass die Frage nach der Qualität die entscheidende Rolle spielt. Natürlich versucht man, eine gewisse Varianz der Buchtypen zu erreichen. Es wäre vielleicht nicht so sinnvoll, fünf Romane zu nominieren, in denen es um eine Kindheit in Sachsen geht. An anderer Stelle können Bücher nah bei einander, geradezu miteinander „verwandt“ sein. Dann muss die Jury so frei sein sagen zu können: Genau das wollen wir.
Das Berliner Theatertreffen hat in diesem Jahr erstmals eine Quote eingeführt, in der Branche wird über Initiativen wie #frauenzählen oder #vorschauzählen diskutiert. Halten Sie eine Quotierung nach Geschlecht beim Preis der Leipziger Buchmesse für denkbar?
Bisky: Ich halte diese Initiativen für wichtig. Und habe, als die Einreichungen der Verlage komplett waren, ja bereits festgestellt, dass das Verhältnis zwischen Autorinnen und Autoren in den Kategorien Übersetzung und Belletristik relativ ausgewogen war. Beim Sachbuch kamen auf eine Autorin zwei Autoren. Wir haben das Geschlechterverhältnis bei unseren Diskussionen immer im Auge gehabt – in der Gewissheit, dass es genügend tolle Autorinnen, Übersetzerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Journalistinnen gibt.
Sie sind selbst ein erfolgreicher Sachbuchautor. Erkennen Sie Trends in diesem Segment?
Bisky: In diesem Jahr sind in der Kategorie Sachbuch auffallend viele Titel mit direktem Gegenwartsbezug eingereicht worden, darunter ein großer Teil „Thesenbücher“ zu Themen wie Umwelt, Feminismus, Migration. In der Belletristik gab es zwei Motive, die häufiger vorkamen – Autorinnen und Autoren, die sich mit der Welt ihrer Väter und Großväter, der Welt ihrer Eltern beschäftigen. Zum anderen wenden sich mehrere Romane und Erzählungen dem Thema „Radikalisierung“ zu.
An Literaturpreisen herrscht im deutschsprachigen Raum kein Mangel. Wo sehen Sie in diesem Feld den Preis der Leipziger Buchmesse, der in diesem Jahr zum 16. Mal vergeben wird?
Bisky: Er ist ohne jeden Zweifel einer der wichtigsten Literaturpreise in Deutschland. Und er hat den besonderen Charme, dass die Jury ihn nicht nur in drei Kategorien vergeben darf – sondern auch hinsichtlich der Genres alle Freiheiten hat. Bei den Auszeichnungen gibt es keine Limitierungen, buchstäblich alles ist möglich: In der Belletristik können wir Romane aufs Podest heben, aber auch Gedichte oder Erzählungsbände. Dazu Sachbuch- aber auch Belletristik-Übersetzungen aus den verschiedensten Sprachen. Schließlich in der Sachbuch-Kategorie ein Spektrum, das von der historischen Monografie über den schnellen Essay bis hin zur Familiengeschichte reicht. Diese ungeheure Freiheit ist ein besonderer Reiz des Preises.
Jens Bisky, geboren 1966 in Leipzig, studierte Kulturwissenschaften und Germanistik in Berlin. Er schrieb für die „Berliner Zeitung“ und ist seit 2001 Feuilletonredakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Zudem ist er Autor mehrerer vielbeachteter Bücher, darunter „Geboren am 13. August“ (2004), „Kleist. Eine Biographie“ (2007), „Unser König. Friedrich der Große und seine Zeit“ (2011) und zuletzt „Berlin. Biographie einer großen Stadt“ (2019). 2017 wurde Bisky von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay ausgezeichnet. Der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse gehörte er bereits in den Jahren 2010 – 2012 an; seit 2019 ist er Juryvorsitzender.