Wir leben in Zeiten digitaler Transformation, also frage ich mal provokant: Brauchen wir eigentlich noch Buchmessen? Oder können wir sie uns schenken?
Kristine Listau: Natürlich können wir sie uns ganz und gar nicht schenken! Vor allem die Leipziger und die Frankfurter Buchmesse, dazu eine ganze Anzahl kleiner, feiner Messen wie die „Buchlust“ in Hannover oder die „Kleinen Verlage am Großen Wannsee“ sind wahnsinnig gut für den Verkauf…
Jörg Sundermeier: Messen erhöhen die Sichtbarkeit, das berühmte Wort. Und es ist ja tatsächlich so: In Leipzig zahlen die Leute mehr als 20 Euro Eintritt, damit sie Bücher kaufen dürfen. Im März waren die Tagestickets an zwei Tagen ausverkauft! Eine völlig neue Erfahrung für uns…
KL: Dadurch, dass die Printmedien immer weniger Rezensionen bringen und auch weniger gelesen werden, funktioniert der klassische Weg der Wahrnehmung immer weniger – das leisten jetzt die Messen. In Zeiten, da der stationäre Buchhandel unsere Bücher nicht unbedingt stärker einkauft, sie dort nicht in breiter Front ausliegen, gehen Leute extra auf Buchmessen, um Indies wie uns zu finden.
JS: Dazu gibt es viele Buchhandlungen, die ihre Kundinnen und Kunden sehr gut erzogen haben: Da diskutierst du mit ihnen eine halbe Stunde über dieses und jenes Buch – wenn es aber zum Punkt kommt, heißt es: Das kaufe ich natürlich zu Hause bei meiner Buchhandlung. Respekt!
Gibt es überhaupt noch Buchhändlerinnen und Buchhändler in nennenswerter Zahl auf der Messe?
KL: In Leipzig deutlich mehr als in Frankfurt. Allerdings verfügen kleine Buchhandlungen auch nur über eine dünne Personaldecke – die müssen schlicht und einfach ihren Laden offenhalten.
JS: An den Wochenenden kommen dann doch viele. Jens Fleischer (Buchhandlung Hübener) aus Bremerhaven etwa, den treff’ ich öfter in Leipzig als irgendwo anders (lacht). Dazu kommen viele Jungbuchhändler:innen. Das darf man echt nicht unterschätzen. Etwa Leute wie Otto Ritter (Buchhandlung Ritter, Bad Belzig), der seit letztem Sommer Co-Sprecher des Zukunftsparlaments ist.
KL: Oder die Seiteneinsteiger Tina Kniep und Maximilian Gräber – die stammen eigentlich aus München und haben gerade in Chemnitz die Buchhandlung am Brühl übernommen. Die waren mit ihren langjährigen Vorgängern, Elke und Günther Ebert, hier – und haben quasi die Übergabe bei uns am Stand gemacht.
JS: Und, auch wichtig: Wir lernen auf der Messe Buchhandlungen kennen, von deren Existenz wir zum Teil gar nicht gewusst haben – zum Beispiel „Der Esel auf dem Dach“ aus Wittenberg. Die machen Modernes Antiquariat und Neubuch – und kümmern sich sehr stark um Indie-Verlage.
KL: Ich nehme zurzeit generell viele Seiteneinsteiger im Buchhandel wahr. Diese Leute kommen dann auf die Messe, um zu lernen…

… während ihr schon zu den alten Messe-Hasen gehört. Ihr habt die Zeiten des „Berliner Zimmers“ noch erlebt…
JS: Um 2000 waren wir das erste Mal mit unseren Büchern in Leipzig. Wir sind konkret wegen der „Leseinsel der Jungen Verlage“ nach Leipzig gekommen – Gritt Philipp von der Buchmesse hat uns damals angesprochen. Im „Berliner Zimmer“ haben wir 2014 den Kurt-Wolff-Preis bekommen. Dass die Bundesrepublik uns einmal für „Anarchismus und Sozialismus“ auszeichnet – damit war nicht zu rechnen (lacht). Mit dem wunderbaren Detlef Bluhm, dem langjährigen Geschäftsführer des Landesverbands Berlin-Brandenburg, haben wir im „Berliner Zimmer“ die letzten Luftballons zertanzt – damals gab es schon die Pläne für das Forum „Die Unabhängigen“.

KL: Die Café-Bar im Forum „Die Unabhängigen“ – auch das ist Sichtbarkeit! Wir machen manchmal sogar Termine da. Der Espresso ist klasse, die Kolleg:innen sind nett. Und, ja: Dieser lebendige Austausch, das ist der andere große Grund, warum wir auf die Buchmesse kommen. Wir alle stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Wir geben uns gegenseitig Tipps, lachen viel – und heulen auch mal zusammen, wenn’s sein muss.
Gibt es Wünsche, die bislang offen blieben?
JS: Wir stehen super, haben einen mega-guten Platz an der Leseinsel der Jungen Verlage in Halle 5. Unsere Weinempfänge am Messefreitag mit Bahoe Books, Ventil und Voland & Quist sind legendär.
KL: Wenn unser größtes Problem ist, dass wir morgens auch mal mit dem Fachbesucher-Ausweis eine halbe Stunde anstehen müssen, dann haben wir keine Probleme…
Am Anfang wart ihr mit dem kleinstmöglichen Stand in Leipzig…
JS: Inzwischen sind wir bei acht Quadratmeter. Wenn der Stand größer ist, passen mehr Leute rein. Das merkt man an den Verkäufen, den Gesprächen, generell der Atmosphäre. Die Überlegungen mancher Kolleg:innen, eine der beiden großen Messen sausen zu lassen, haben wir nicht. Und: Wir nehmen alle mit, das ist uns wichtig. Wir haben im März schon Schaufenster klargemacht für die 30-Jahre-Aktion – da hatten wir noch nicht mal ein Plakat vorzuzeigen. So etwas funktioniert hier, Leipzig ist ein super Kommunikations-Faktor.
KL: Wir müssen an allen Ecken und Enden sparen. Aber nicht an den Messen!

Kristine Listau ist in der Sowjetunion und im Rheinland aufgewachsen, studierte in Frankfurt am Main und arbeitete dort im Kulturamt, wo sie insbesondere für die Organisation und Öffentlichkeitsarbeit von Literaturfestivals und Stadtjubiläen verantwortlich war. In Berlin leitete sie kurz den Veranstaltungsbereich der Stiftung Stadtmuseum Berlin, bevor sie 2014 zunächst Geschäftsführerin und 2016, zusammen mit Jörg Sundermeier, Mitinhaberin und Verlegerin des Verbrecher Verlags wurde.
Jörg Sundermeier, 1970 in Gütersloh geboren, lebt in Berlin. Er betreibt mit Kristine Listau den Verbrecher Verlag (den er 1995 mit Werner Labisch gegründet hat) und ist Autor für diverse Zeitungen und Magazine. Sundermeier war 2015 bis 2021 Vorstand der Kurt-Wolff-Stiftung und 2014 bis 2024 Mitglied im Vorstand des Börsenvereins, Landesverband Berlin Brandenburg. Er ist Gründungsmitglied des PEN Berlin, dessen Board er 2022 bis 2024 angehörte. Zuletzt erschienen von ihm „11 Berliner Friedhöfe, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt“ (2017) und das Kinderbuch „Eine verbogene Geschichte“, illustriert von Katrin Funcke (Bahoe Books 2024).
Verbrecher Verlag forever and ever and ever: Im August 2025 wird der Berliner Verbrecher Verlag, dessen Autorin Anke Stelling 2019 mit dem Roman „Schäfchen im Trockenen“ den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, 30 Jahre alt. Getanzt wird auf unterschiedlichsten Hochzeiten: Im August erscheint unter dem Titel „Verbrecher Verlag Geschichte“ eine bebilderte Verlagschronik. Am 26. September findet ein großes Verlagsfest im Literaturforum im Brecht-Haus statt; weitere Verlagsfeste werden u.a. in Leipzig, Frankfurt am Main oder München stattfinden. Auf seinen Social-Media-Kanälen macht der Verlag – mit dem Hashtag #30jahreverbrecherei versehen – derzeit eine Reel-Aktion mit bekannten Akteur:innen aus dem Kulturbetrieb: Von Simone Buchholz und Klaus Lederer bis Eva Menasse, Sven Regener oder Hengameh Yaghoobifarah.