Şeyda Kurt, in Ihrem im März erscheinenden Buch „Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ führen Sie an Orte des Hasses wie Hanau oder Istanbul, Sie führen in die queere Community, Sie führen aber auch an den Küchentisch Ihrer Mutter. Die Frage, die Sie umtreibt: Wer darf hassen? Was macht diese Frage so zentral?
Şeyda Kurt: Das „Wer“ ist eine zentrale Frage für mich, weil es sehr viel über Herrschaftsverhältnisse, über Ohnmacht und Handlungsfähigkeit erzählt. Es gibt ja Begriffe und Themen, die auch in liberalen Gesellschaften sehr moralisch aufgeladen sind: Wenn etwa Politiker*innen nach rassistischen Anschlägen wie in Hanau sagen: „Hass hat bei uns keinen Platz!“ Wir wissen, dass das nicht stimmt. Außerdem sollte man innehalten und fragen: Um wessen Hass geht es eigentlich? Wir sehen oft die Tendenz, dass Opfer von Faschismus, Rassismus oder Misogynie abgesprochen wird, dass sie selbst auch hassende Subjekte sein können – einfach, weil sie Zielscheibe von Hass sind. Stattdessen müssen sie immer wieder beweisen, dass sie selbst nicht hassend sind. Um sich als Opfer eine Legitimation zu verschaffen, dem eigenen Leid, dem durchgemachten Trauma Gültigkeit zu verschaffen. Das passiert den „Samstagsmüttern“ in Istanbul, die wegen ihrer durch den Staat verschleppten Söhne und Männer demonstrieren, aber auch den Angehörigen der Opfer des Terroranschlags von Hanau.
Gibt es eine dunklen, einen hellen Hass?
Kurt: Mir geht es darum, den Hass aus der Versenkung herauszuholen, mir geht es um die Sichtbarmachung seines widerständigen Potentials. Letztendlich interessiert mich tatsächlich auch ein Hass, der Zärtlichkeit hervorbringen kann. So paradox das auch klingt.
Aber ist Hass nicht allgegenwärtig?
Kurt: Ja, wir haben in den letzten Jahren sehr viel über Hass gesprochen, von Pegida bis zur Reichsbürgerszene. Mich haben vor allem die Gefühle der Menschen interessiert, die zur Zielscheibe wurden, Menschen, über die nicht so oft gesprochen wird. Egal ob ihr Hass berechtigt ist – es gibt ihn. Ihre Geschichte möchte ich nachzeichnen. Wenn Menschen Gewalt geschieht, können sie oft nicht einfach abschließen. Sie sind traumatisiert, sitzen oft in einer Vergangenheit fest, die sich ständig wiederholt. Zu einer Aushandlung über die Konsequenzen auf Augenhöhe kommt es fast nie…
Es geht aber nicht um ein biblisches „Auge um Auge, Zahn um Zahn“?
Kurt: Der angeblich rachsüchtige Gott des Ersten Testaments… viele Theolog*innen legen das anders aus: Es soll nicht eine Gewalttat mit einer anderen vergolten werden. Aber den von Gewalt Betroffenen steht eine Aushandlung auf Augenhöhe zu, was jetzt auf die Gewalt folgen soll. Das hat nichts mit „vergeben und vergessen“ zu tun. Vergebung muss erst verdient werden.
Hier höre ich Ihre Erfahrung aus der Arbeit mit dem Hanau-Komplex mit heraus…
Kurt: Es ist das, was die Angehörigen nicht müde werden zu sagen: Ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben. Eine Gerechtigkeit, die die Perspektive der Betroffenen – und sei es mit ihrem Hass! – mit einbezieht.
Hass lässt sich nicht wegdiskutieren…
Kurt: Das ist die politische Ebene, die sich mit der biografischen verbindet. Im Buch schreibe ich auch sehr viel entlang meiner Biografie – etwa die Art und Weise, wie ich erzogen worden bin, wo Bestrafung eine große Rolle gespielt hat. Auch darauf habe ich als Kind mit einer gewissen Form von Hass reagiert.
Sie gelten als sehr meinungsfreudige Publizistin – wie schätzen Sie den Stand der Debattenkultur im Deutschland des Jahres 2023 ein?
Kurt: Allein der Umstand, dass ich nach Leipzig eingeladen wurde, zeigt, dass aus meiner perspektive viele Sachen ganz gut laufen. Dass es eine gewisse Öffnung, eine Pluralität der Stimmen gibt. Auf der anderen Seite wird in den Medien noch immer sehr stark in Binaritäten gedacht, etwa in den Reaktionen auf Putins Angriffskrieg. Emanzipatorische, feministische und zugleich konsequent anti-militaristische Perspektiven, die für Rechte nicht anschlussfähig sind, kommen nicht vor. Die Pandemie hat vieles noch verschärft: Sie hat viele Menschen isoliert, vereinzelt. Viele haben – jenseits ihrer Internet-Bubbles – oft einfach verlernt zu debattieren. Es ist etwas anderes, einem konkreten Menschen in die Augen zu schauen, als sich auf einer Internet-Plattform anzuschreien.
Auf Twitter geht es ordentlich zur Sache…
Kurt: Deswegen bin ich dort nicht mehr so gern unterwegs (lacht). Natürlich habe ich mir über Twitter eine gewisse Reichweite aufgebaut. Aber eigentlich bin ich diese verkürzenden Ping-Pong-Debatten leid.
Gibt es Alternativen? Den Mikroblogging-Dienst Mastodon?
Kurt: Ich finde, Instagram funktioniert schon ein bisschen anders als Twitter. Man kann – ich mache das ganz gern – auch längere Texte schreiben. Obwohl das vom Algorithmus noch nicht belohnt wird… Ich konzentriere mich inzwischen wieder sehr stark auf persönliche Gespräche, in meinem Kiez zum Beispiel. Mit Menschen, mit denen ich mich vor Ort organisiere. Ich merke, dass mich das sehr erdet.
Welche Rolle können Räume wie Leipziger Buchmesse und dort das Forum offene Gesellschaft spielen?
Kurt: Die große Chance bei Debatten, die sich um Literatur herum entspinnen, ist, dass sie die Geschwindigkeit von uns allen etwas herunterbremst, uns zu uns selbst kommen lässt.
Das Forum offene Gesellschaft ist ja eher als gesellschaftspolitischer Resonanzraum gebaut…
Kurt: Alexander Kluge hat mal sinngemäß in einem Radiointerview gesagt, dass es darum gehen müsse, die Debatte aus der Horizontalen herauszuholen – und in die Vertikale zu bringen. Also nicht sich nur an der Oberfläche bewegen und in denselben Floskeln und Reaktionen verharren. Sondern bei einer Sache bleiben und die so gründlich erforschen, wie man irgend kann. In Gespräche zu gehen, die auch mal wehtun. Ich bin gespannt, was im April passiert!
Sehen Sie die Gefahr, immer in der eigenen Bubble zu bleiben? Lässt sich das irgendwie aufbrechen?
Kurt: Letztlich bringt das grundsätzliche Fragen nach sozialer Gerechtigkeit ein Innehalten mit sich: Wer kann sich denn eigentlich Bücher leisten? Wer nimmt sich tatsächlich Zeit, auf Messen zu gehen, und die Gespräche zu verfolgen? Vielleicht sogar mitzudiskutieren, in so einem Forum.
Können Bücher die Welt verändern?
Kurt: Für mich verändern Menschen die Welt. Aber Bücher können Menschen dabei motivieren, sie mobilisieren und ihnen Kraft geben.
Zur Person:
Şeyda Kurt, geboren 1992 in Köln, studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. Als freie Journalistin und Kolumnistin schreibt sie für unterschiedliche Print- und Onlinemedien, darunter Zeit Online. Als Redakteurin arbeitete sie an dem Spotify-Originalpodcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“, der 2021 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr zählte das Medium Magazin das Redaktionsteam zu den Journalistinnen des Jahres. In ihrem Buch „Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist“ (2021) untersuchte sie Liebe im Kraftfeld von Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus. Mitte März erscheint ihr neues Buch „Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ bei HarperCollins.