Autor: Juri Andruchowytsch

Dämonen
20. November 2015
Erstmals war ich in Leipzig zur Buchmesse 2004
Autor: Juri Andruchowytsch

Dämonen
20. November 2015
Erstmals war ich in Leipzig zur Buchmesse 2004

Von allen Episoden jenes unvergesslichen Besuchs ist dies die unvergesslichste: Suhrkamp hatte mich eingeladen, auf dem legendären Blauen Sofa zu lesen. Danach gab es einen Empfang mit Wein. Unter solchen Umständen vergesse ich oft die Zeit und so kommt es, dass ich üblicherweise fast der letzte Gast bin, der weggeht. Plötzlich finde ich mich also ganz allein im nächtlichen Leipzig wieder, zu mitternächtlicher Stunde, in mir rauscht der Wein, ich habe mich verlaufen, es weht ein starker Wind und bläht die Schöße meines damals noch langen Mantels. Irgendwo von der Seite, aus der Dunkelheit, erreicht mich die heisere Stimme eines obdachlosen Greises: „Gehen Sie ins Büro?“ Es kommt mir vor, als wolle er mich veräppeln, also antworte ich wütend: „Nein, in die Hölle!” Er verzieht sich ängstlich. Vielleicht sehe ich wirklich irgendwie dämonisch aus – die Schöße meines Mantels, der entschlossene Gang, die wirren Haare. Fehlen der Huf, die Hörner, die Aureole. Erst als mir einfällt, dass diese Straßenbahnschienen zum Hauptbahnhof führen müssen, gelingt es mir, das Hotel zu finden.

Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk, dem früheren galizischen Stanislau, gilt heute als Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Für seinen Roman „Zwölf Ringe“ (Suhrkamp 2005) wurde er 2006 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. 2014 erschien der von Andruchowytsch herausgegebene Band Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht“ (Suhrkamp).

Beitrag teilen

Weitere Beiträge, die Sie interessieren könnten

International Slider

Von Trakl bis Marwan

Gebrauchsanweisung für Österreich, Gast der Leipziger Buchmesse 2023, Folge 2: Der Salzburger Verlag Otto Müller gilt mit seinem ambitionierten Programm als einer der wichtigsten Literaturverlage der Alpenrepublik

Wir

Die Fünfte Jahreszeit 

Eigentlich arbeitet Maxi Zaumseil als Marketing-Assistentin bei der Leipziger Messe. Einmal im Jahr verwandelt sie sich in Macoco, das Maskottchen der Manga-Comic-Con.

International

Leben und Schreiben

Intelligent und unterhaltsam: Der Podcast „Literaturgespräche aus dem Rosa Salon“ mit Katja Gasser verkürzt die Zeit bis zum Gastlandauftritts Österreichs im Frühjahr.

Wir

Ideen Raum geben 

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es: Als Teamleiter bei der Leipziger Messe-Tochter FAIRNET kümmert sich Christian Merkel darum, tolle Ideen auf die Straße zu bringen.

Wir

Brücke zum Osten

März-Splitter (1): Statt Messe-Eröffnung feierte Leipzig die Verleihung des Buchpreises zur Europäischen Verständigung

Wir

Literatur-Flashmob

Lesezeichen (III): Ein Blick ins Buch, zwei ins Leben - wir empfehlen Ihnen unsere persönlichen Leipzig liest-Favoriten

Literarisches Leben Slider

„Mehrwert für alle“

Klaus Kowalke (Lessing und Kompanie, Chemnitz) spricht zum Start von „Your Place to read“, der Buchhandelstour der Leipziger Buchmesse, über Lesungen als Begegnungsraum von Autoren und Lesern – egal, ob klassisch mit Wasserglas oder experimentell

Leipzig liest

Hotel Leipzig

Daniela Seel wohnt zur Buchmesse in einem Leipziger Autoren-Haushalt. Wie aus der Verlegerin ein Stammgast wird