Frau Küçük, was hat Sie als studierte Politologin gereizt, ans Theater zu gehen?
Esra Küçük: Ich glaube, man muss in ungewöhnlichen Zeiten Mut für ungewöhnliche Dinge haben. In der Jungen Islam-Konferenz hatten wir den Ansatz: Da, wo Unwissenheit und Vorurteile herrschen, ist Wissen gefragt! Man muss aufklären und den Diskurs versachlichen. Das hat gut geklappt, wir sind jedoch oft an eine Grenze gestoßen, an der man mit Fakten allein nicht weiterkommt. Deshalb hat es mich gereizt, einen Bereich kennenzulernen, der mehr mit Emotionen arbeitet. Das Theater weiß, wie man Geschichten erzählt, die Menschen erreichen.
Am Gorki Forum arbeiten Sie, so kann man lesen, an der Schnittstelle zwischen Kultur, Wissenschaft und Politik an „einem produktiven Umgang mit gesellschaftlicher Heterogenität“. Was heißt das genau?
Küçük: Grundsätzlich ging es um die Idee, dass Theater noch mehr rein in die Stadt muss. Die Themen, die wir behandeln, haben so viel diskursive Stahlkraft, dass wir nicht nur notorische Theaterbesucher erreichen wollen. Wir öffnen unsere Bühne auch regelmäßig für Partner. Der Junge Berliner Rat ist ein gutes Beispiel für diesen Ansatz: Für ein Jahr kommen hier junge Kreative zusammen, die sich zwischen politischer und ästhetischer Praxis bewegen. Ein „Think Tank“, der intervenieren, reflektieren, beraten, Dinge infrage stellen und eigene Aktionen planen wird. Die große Klammer ist die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen eine junge Generation eigentlich gern leben würde. Wir haben das, vielleicht etwas vollmundig, „Junge Berliner postmigrantische Internationale“ genannt: Wie würden deren Songs, Plakate und Texte aussehen? Eigentlich geht es darum, Leute ans Haus zu holen, die uns selbst einen kritischen Spiegel vorhalten. Wir haben mit einem Durchschnittsalter von 45 Jahren in Berlin zwar das jüngste Publikum, aber wir haben auch unsere blinden Flecken…
Diskursive Formate wie „Streitraum“ an der Berliner Schaubühne oder Harald Welzers Projekt „Die offene Gesellschaft“ haben derzeit Konjunktur, häufig finden sie an Theatern statt. Erreicht man dort nicht immer die eh schon Aufgeschlossenen?
Küçük: Der Vorwurf ist nicht neu: Preaching to the already converted (lacht). Es bleibt eine Herausforderung. Wir versuchen zwar, uns für die ganze Stadt zu öffnen; für die hier Aufgewachsenen wie für alle, die in den letzten Jahrzehnten dazugekommen sind – egal, ob durch Flucht, Exil oder Einwanderung. Aber ein Theaterraum bleibt ein Theaterraum. Leute, die Dialogformaten grundsätzlich kritisch gegenüberstehen, wird man da nicht hin zwingen können. Aber den Raum für unsere Themen zu öffnen, die Auseinandersetzung offensiv zu führen, ist wichtig.
Die provokanten Lautsprecher, etwa jene der AfD, werden wahrgenommen – die saftlosen Liberalen nicht. Ein Problem für unsere Debattenkultur?
Küçük: Es gehört zur Strategie von Rechtspopulisten, erst mal mit steilen Thesen an die Rampe zu gehen – und dann, wenn die Aufregung groß ist, zurückzurudern: Sorry, war nicht so gemeint! Das hält ganz viele Leute in Atem, die eigentlich differenzieren, analysieren, Argumente in den faktischen Kontext rücken wollen. Die Frage ist: Wieso lassen wir uns eigentlich unsere Agenda so plump vorschreiben?
Sie stellen das Programm Europa21 im kommenden März unter das Motto „WIR in Europa – Wofür wollen wir einstehen?“. Haben wir es bislang versäumt, eine eigene, positive Narration in Umlauf zu setzen?
Küçük: In Deutschland wissen wir immer sehr schnell, was wir nicht sind: Wir sind kein Einwanderungsland, Multikulti ist tot… Da werden Scheindebatten geführt, und alle machen mit! Deshalb habe ich versucht, für Europa21 die Perspektive etwas zu verschieben: Schauen wir einfach mal, was uns in Europa eigentlich noch zusammenhält – und in wie weit sich unser Selbstbild, das oft mit den Attributen „demokratisch“, „offen“, „sozial“ und „tolerant“ beschrieben wird, mit den Realitäten deckt. Es ist viel schwieriger, eine eigene Vision zu formulieren, als Kritik zu üben.
Geredet wird in den gängigen Talkshowformaten ohne Ende. Was wollen Sie anders, wo möglich besser machen?
Küçük: All diese Talk-Runden zu Migration, Flucht, Integration, Identität und so weiter funktionieren nach denselben Schemata: Es wird nach bestimmten Rollen besetzt, und schon dieses Casting gefällt mir nicht. Richtig ärgerlich wird es, wenn man bedenkt, dass diese Formate Millionen Zuschauer erreichen. Das prägt unsere Debattenkultur viel stärker als eine Saison im Gorki. Wenn es wirklich um Dialog und Verständigung geht, muss man zusammen, gewissermaßen ‚live’, denken. Es kann nicht nur darum gehen, Positionen durchzubringen.
Dringen differenzierte Argumente in postfaktischen Zeiten überhaupt noch durch?
Küçük: Gerade in Wahlkampfzeiten sehen wir, dass Differenzierung auf der Strecke bleibt. Stattdessen ist „Fake-News“ das neue Buzzword. Deshalb ist es mir so wichtig, die Diskurskultur qualitativ aufrecht zu erhalten. Wir müssen neue Rhetoriken entwickeln, differenzierte Meinungen auch sexy zu machen. Wie das genau funktionieren soll, weiß momentan niemand.
Welche Erfahrungen aus Ihrer Arbeit fließen in die Vorbereitung von Europa21 in Leipzig ein?
Esra Küçük: Wir werden versuchen, die Diskurse performativer zu gestalten. Und dadurch auch Emotionen stärker ins Spiel zu bringen. Wir wollen mit Akteuren aus Kultur, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik zusammenkommen, um die verschiedenen Reaktionen auf die aktuellen Herausforderungen in Europa zu beleuchten. Gemeinsam mit dem Neuen Institut für Dramatisches Schreiben (NIDS) laden wir Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichsten europäischen Regionen ein, Texte zu lesen, die vor dem Hintergrund von Flucht, Vertreibung und Migration entstanden sind – und mit dem Publikum über ihre Erfahrungen zu sprechen. So werden komplexe, globale Zusammenhänge auf ganz konkrete Geschichten heruntergebrochen – und bekommen eine persönlich erlebbare Nähe. Die Frage nach dem „Wir“ ist letztlich eine Einladung, uns selbst zu begegnen und uns über unsere Rolle im Hier und Jetzt zu verständigen.
Welches Buch liegt gerade bei Ihnen auf dem Nachttisch, dem Sie besonders viele Leser wünschen?
Küçük: (lacht) Das Buch, das mich gerade beschäftigt, hat glücklicher Weise schon viele begeisterte Leserinnen und Leser – es ist Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ (Suhrkamp). Ein soziologischer Essay, der sich so fesselnd liest wie ein Roman.
Esra Küçük ist gebürtige Hamburgerin und Diplom-Sozialwissenschaftlerin. Sie absolvierte ein deutsch-französisches Doppeldiplom an der WWU Münster und am Institut d’Études Politiques (Sciences Po) in Frankreich. Nach Stationen bei der Stiftung Mercator, dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration sowie der Humboldt-Universität zu Berlin leitete sie das von ihr initiierte deutschlandweite Bildungsprogramm Junge Islam Konferenz. Seit März 2016 leitet Esra Kücüc das Gorki Forum, einen neuen Ort für Diskurs und Vermittlung am vielfach ausgezeichneten Maxim Gorki Theater in Berlin.