Autor: Nils Kahlefendt

„Wir brauchen das ernsthafte Gespräch“
26. Februar 2016
Ein Interview mit Insa Wilke, Kuratorin des Programmschwerpunkts „Europa21“ zur Leipziger Buchmesse 2016
Autor: Nils Kahlefendt

„Wir brauchen das ernsthafte Gespräch“
26. Februar 2016
Ein Interview mit Insa Wilke, Kuratorin des Programmschwerpunkts „Europa21“ zur Leipziger Buchmesse 2016

Zuwanderung und Integration sind die Themen der Stunde, gerade in Leipzig: Mit „Europa21“ kuratiert die Literaturkritikerin Insa Wilke für die Robert Bosch Stiftung und die Leipziger Buchmesse 2016 einen „Denk-Raum für die Gesellschaft von morgen“.

Gedruckte oder elektronische Medien, zahllose Podien quer durch die Republik: Zu den Themen Zuwanderung und Integration scheint einem manchmal schon alles gesagt, nur noch nicht von allen. Was hat Sie gereizt, das Programm „Europa21“ zu konzipieren?

Insa Wilke: Wir glauben, dass es bei sehr vielen Menschen ein Bedürfnis nach sachlicher, unaufgeregter Analyse gibt. In den Medien, den Politiker-Debatten und Talk-Shows überlagern sich momentan sehr viele Themen und Interessen. Unser Anliegen ist es, mit unseren Gästen und dem Publikum ein lautes Denken zu beginnen. Es kommt dabei darauf an, die Fragen präzise zu formulieren und Gäste einzuladen, denen es nicht um Positionen und Profilierung geht, sondern um ein gemeinsames Nachdenken darüber, was gerade passiert, welche Fragen sich stellen und wie mit ihnen umzugehen ist.

Sie haben Anfang 2015 mit dem Literaturhaus Stuttgart die Reihe „Flüchtlingsgespräche“ organisiert, die ziemliche Wellen geschlagen hat…

Wilke: Wir waren völlig überrascht und erfreut vom großen Zuspruch. Das meine ich mit dem Bedürfnis nach Sach-Informationen, einem gemeinsamen lauten Denken: Wir hatten zum Beispiel Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin von Lampedusa, eingeladen, die aus erster Hand berichten konnte. Solche Veranstaltungen bieten eine Form öffentlicher Auseinandersetzung, die manche Menschen im Bundestag und in den Talk-Shows vermissen.

Was ist Ihr konzeptioneller Ansatz für Leipzig?

Wilke: Das durch Wissen fundierte, ernsthafte Gespräch. Konkret wird es drei Elemente geben: Zum einen die sechs Diskussionsrunden im „Café Europa“, die uns wichtig erscheinende Fragen aufgreifen: zum Beispiel die nach der Flüchtlingspolitik in den einzelnen europäischen Ländern oder nach Hintergründen und Zusammenhängen des Bürgerkriegs in Syrien oder die nach der Rückkehr der Religion. Der zweite Baustein ist eine Abendveranstaltung mit Wissenschaftlern und Politikern im Neuen Rathaus. Hier ist uns wichtig, dass auch das Publikum mitspricht, darum ist die Frage offener gestellt. Außerdem war uns wichtig, diejenigen einzubeziehen, um die es ja auch geht, jene, die gerade ihre Heimat verlassen mussten und nun mit den Auseinandersetzungen konfrontiert sind, die wir in Deutschland und Europa führen. Um ihnen Stimme und Gesicht zu geben, wird es im Eingangsbereich der Glashalle Hörstationen geben, in denen Asylsuchende von ihrem Leben vor dem Krieg erzählen. So bekommt man eine Vorstellung von dem ganz normalen Alltag aus dem diese Menschen gerissen wurden.

Der triste Flüchtlings-Alltag findet wenige Meter vom Messetrubel statt: Bis vor wenigen Wochen diente die Messehalle 4 als Erstaufnahme, inzwischen leben noch mehrere hundert Asylsuchende in provisorischen Unterkünften auf dem Messegelände….

Wilke: Genau das war ein Anlass für dieses Projekt und die Kooperation von Robert Bosch Stiftung und Leipziger Buchmesse. Wichtig dabei ist – und daran muss man immer wieder erinnern –, niemanden zu instrumentalisieren und vor allem nicht zu gefährden. Wir haben unter unseren Gästen einige, die selbst aus ihrer Heimat fliehen mussten oder deren Familien ins Exil gehen mussten, die aber schon eine Weile in Deutschland leben.

Die „Grenzschließer unter den Intellektuellen“, wie sie Herfried Münkler kürzlich in der „Zeit“ nannte, werden nicht mitdiskutieren – warum?

Wilke: Ein Anliegen von „Europa21“ ist, ganz klar, Haltung zu zeigen. Die andere Frage ist: Was will man mit diesen Gesprächen erreichen? Wir glauben, dass eine inszenierte Konfrontation zu nichts führt. Bei solchen sogenannten Streit-Gesprächen, wie sie oft in Talk-Shows stattfinden, gibt es am Anfang zwei Positionen, die allen klar und bekannt sind, und am Ende gibt es diese Positionen ganz genauso. Uns geht es um eine sinnvolle Erörterung einer sehr komplexen Situation – nicht um eine Profilierung von Positionen. Wir haben unser Projekt „Denk-Raum“ genannt, weil diese Debatten um die Gesellschaft, in der wir in Zukunft leben wollen, ja nach vier Messetagen nicht abgeschlossen sein werden. Wir haben die Chance, einen Prozess mitzubestimmen und mitzugestalten, der uns alle betrifft. Und diesen Prozess, der eben auch ein internationaler, zumindest europäischer sein muss, wollen wir unterstützen.

Die Literaturkritik fordert gern mehr Gegenwärtigkeit von der Literatur; aktuell sind Flucht und Vertreibung, die Erfahrungen mit Exil und Fremde die Themen der Stunde. Welchen Büchern in diesem Kontext wünschen Sie besonders viele Leser?

Wilke: Es fällt mir schwer, einzelne Titel hervorzuheben. Sie haben recht, natürlich ist es ein aktuelles Thema. Andererseits ist es eines, das die Schriftstellerinnen und Schriftsteller schon lange Jahre beschäftigt: die Auseinandersetzung mit Exil, Emigration, den Schwierigkeiten, in einer anderen Gesellschaft anzukommen und aufgenommen zu werden. Das Thema gibt es nicht erst seit Sommer 2015. Gelesen habe ich gerade Michael Köhlmeiers Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ (Hanser). Dann bin ich gespannt auf den philosophischen und sprachkritischen Debütroman von Senthuran Varatharajah: „Vor der Zunahme der Zeichen“ (S. Fischer). Shida Bazyar („Nachts ist es leise in Teheran“, KiWi), die in Hildesheim Literarisches Schreiben studiert hat und heute in Berlin lebt, hat eine über vier Jahrzehnte reichende Familiengeschichte geschrieben, Abbas Khider erzählt in „Die Ohrfeige“ (Hanser) von der Konfrontation mit der deutschen Bürokratie. Sie sehen: Es gibt ganz unterschiedliche Formen, von diesem Thema zu erzählen.

Insa Wilke, geboren 1978 in Bremerhaven, lebt als Publizistin und Literaturkritikerin in Frankfurt am Main. Von 2010 bis 2012 war sie Programmleiterin am Literaturhaus Köln. 2014 wurde sie mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet.
www.insawilke.de

Das Interview mit Insa Wilke ist im Börsenblatt erschienen.

Foto: Frank Mädler

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