Ich würde mit der ersten Frage gern Ihre „Meaoiswiamia“-Podcast-Methode aufnehmen, getreu dem schönen Motto: Warum allgemein reden, wenn’s auch persönlich geht? Österreich ist seit 2001 mit einem größeren Auftritt in Leipzig präsent – was verbindet die Literaturjournalistin Katja Gasser mit Leipzig? Haben Sie Freunde hier?
Katja Gasser: Ich kenne Leipzig und die Buchmesse im Wesentlichen aus der Perspektive meines Kamerateams und der Produktionsfirma, mit der ich arbeite. Ein Buchmesse-Auftritt gestaltet sich für eine TV-Journalistin so, dass man vier Tage lang im Grunde mit dem Kamerateam zusammenklebt. Das Team, mit dem ich viele Jahre zusammengearbeitet habe, zählt für mich zu den liebenswürdigsten und patentesten Teams, mit denen ich je zu tun gehabt habe. Meine Empfindungen für Leipzig sind also wesentlich von diesen Leuten geprägt: Beide haben die DDR erlebt, sie haben mir ihre Umbruchs-Geschichten und die ihrer Familien erzählt. Was weiter zurückliegt als meine ersten Leipzig-Erfahrungen: Ich habe schon immer empfunden, dass das österreichische Gemüt – was immer das auch ist! – näher am ostdeutschen als am westdeutschen Gemüt ist: ich weiß, wie prekär es ist, so etwas zu sagen (lacht).
Können Sie das erklären?
Gasser: Das Nicht-endgültig-zu-Erklärende ist vielleicht wichtiger Bestandteil dieses Empfindens. Ich glaube, es hat wesentlich damit zu tun, dass die sogenannte „Ost-Erfahrung“ – ich bezeichne das jetzt behelfsmäßig so – näher an der österreichischen Erfahrung ist: auch wenn ‚wir‘, also Österreich, den Eisernen Vorhang nicht quer durchs Land gezogen hatten. Aber wir sind in der historischen, politischen und geographischen Prägung durch den Osten, den Südosten Europas viel stärker gezeichnet als etwa Norddeutschland. Es ist also auch kein Zufall, dass viele Autorinnen und Autoren aus dem südosteuropäischen Raum ihre ersten Publikations-Schritte auf dem deutschsprachigen Buchmarkt in kleineren österreichischen Verlagen gemacht haben – um dann nicht selten einen größeren deutschen Verlag zu finden.
Haben Sie eigentlich Leipziger Lieblingsorte?
Gasser: Lieblingsorte? Schwer zu sagen. Ich kann mit einem Bild aufwarten: es war ein windiger, regnerischer, wenig freundlicher Tag während einer der Leipziger Buchmessen, und das Kamerateam und ich waren auf der Suche nach Bildern von der Stadt. Und da trafen wir auf dem zentralen Marktplatz Leipzigs einen Pianisten an, der gegen alle Wetter-Widrigkeiten anspielte – und das sehr intensiv, schön. Dieses Bild hat sich in mir abgelegt: als ein Symbol für Würde und Widerständigkeit. Dieses Bild grundiert meinen Leipzig-Eindruck. Im Grunde bin ich aber eine klassische Leipzig-Touristin, die sich kaum über die üblichen Orte hinaus wirklich auskennt. Durch meine Fernseharbeit, meine Interviews bin ich natürlich auch an Orte gekommen, über die man als regulärer Tourist nicht stolpert – aber die könnte ich jetzt nicht benennen. Als TV-Journalistin bin ich ein Orientierungs-Dummie, weil ich immer an die Leute vor Ort gebunden bin, die mit mir arbeiten: die sind in der Regel so freundlich, mich mit dem Auto abzuholen und herumzulotsen. Was dazu führt, dass ich mich geografisch ausklinke. Meine Tendenz zum Lemming ist diesbezüglich sehr ausgeprägt. Als visueller Mensch bin ich nicht zufällig beim Fernsehen gelandet; ich könnte Ihnen Details in den Outskirts von Leipzig beschreiben – aber nicht sagen, wo genau das gewesen war.
Wie gefällt Ihnen Ihr künftiges Gastland-Hauptquartier, die Schaubühne Lindenfels?
Gasser: Es ist kein Zufall, dass sich auch Gastländer vor uns diesen Ort gewünscht und dann auch bespielt haben. Er verbindet ein niederschwelliges Kunst- und Kulturverständnis mit sehr hoher Professionalität auf diesem Gebiet. Man spürt dem Ort an, dass er offen ist für viele – und zugleich sehr präzise in dem, was dort geboten wird. Genau in dieser Kombination sehe ich auch den Österreich-Auftritt in Leipzig angelegt.
Normalerweise haben staatstragende Veranstaltungen wie Gastlandauftritte eineindeutige, leicht eingängige Slogans…
Gasser: Das war auch ein hartes Ringen, das durchzusetzen…
Das kann ich mir vorstellen. Mit „Meaoiswiamia“ referieren Sie auf Avantgardistisches von Ernst Jandl bis zur Band Attwenger. Wie ist es zu dieser Sprachskulptur gekommen – und was wollen Sie mit ihr transportieren?
Gasser: Mir war es einerseits wichtig, dass wir mit diesem Claim zeigen: Wir sind eine KUNST-Veranstaltung, eine literarische Veranstaltung – und zwar nicht irgendeine, sondern eine, die einen sehr expliziten Bezug zu Avantgarde-Traditionen hat, für die ja die österreichische Literatur in Deutschland immer wieder gerühmt wird.
Wir wollen uns als Land zeigen, das die Kapazitäten hat, sich über ein enges Wir-Verständnis hinaus als kulturell, literarisch, sprachlich, religiös vielgestaltig zu zeigen.
Katja Gasser
Gleichzeitig war mir bewusst, dass wir auch eine politische Setzung brauchen. „Meaoiswiamia“ ermöglicht, dass sich ein Land auch mit einem Fragezeichen präsentiert. Wir erleben ja im Moment identitätspolitische Verschärfungen auf sehr unterschiedlichen Ebenen – und mir war ganz wichtig, dass wir im Claim selbst mit einem offenen „Wir“-Wort auftreten. Im Bewusstsein, dass jede Konstruktion von „Wir“ eine sehr schwierige, mitunter auch gefährliche Geschichte ist. Wir wollen uns als Land zeigen, das die Kapazitäten hat, sich über ein enges Wir-Verständnis hinaus als kulturell, literarisch, sprachlich, religiös vielgestaltig zu zeigen.
Sie setzen stark auf Vielfalt: Sind Mehrsprachigkeit und Multikulturalität die richtigen Assoziationen?
Gasser: Ja, und zwar nicht in einem propagandistischen Sinn, sondern im Sinne einer großen Selbstverständlichkeit: es ist einfach so, dass Österreich ein multikulturelles und mehrsprachiges Land ist, das ist Fakt. Und das aus unterschiedlichsten Gründen, nicht zuletzt historisch bedingt.
Für mich ist es zentral, im Kontext des Gastlandauftritts auch die Frage virulent zu halten, wer ‚wir‘ sein wollen. Welche Konzepte bilden die Grundlage unsers Verständnisses davon, was Gesellschaft sein soll? Und daran gebunden die Frage, welche Rolle bei all dem die Literatur, die Kunst spielt.
Wir wollen als Gastland 2023 kein Nischenprogramm haben, keine Sparten, wo wir etwa österreichische Migranten-Literatur zeigen. Sondern dass wir im Herzen unseres Programms diese Vielgestaltigkeit erzählen!
Sie selbst sind, in Klagenfurt geboren, mehrsprachig aufgewachsen…?
Gasser: Das ist sicher eine Grundschärfung meines Bewusstseins, dass ich aus einer zweisprachigen Region komme. Es gibt ja in Österreich mehrere anerkannte Volksgruppen, eine der autochthonen Minderheiten Österreichs sind die Kärntner Slowenen – und ich komme aus einer Familie, die slowenischsprachig geprägt ist. Diese Prägung hat sicher mit dazu geführt, dass ich mich unter anderem in meiner Arbeit als TV-Journalistin sehr auf die südosteuropäischen Literaturen spezialisiert, Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum vorgestellt habe. Der Zufall der Biografie spielt also sicher mit, mein kämpferisches Naturell hat wohl auch darin seine Wurzeln. Ich bin aber auch unabhängig von der eigenen Lebensgeschichte politisch davon überzeugt, dass wir gar keine andere realistische Lösung haben, als zu versuchen, dieses „Viele“ im Zentrum anzuerkennen – und daraus so etwas wie Gesellschaft zu zimmern. Immer unter der Voraussetzung von Ideen wie Gerechtigkeit und Solidarität. Ich habe in einem der Texte, die ich rund ums Gastland geschrieben habe, festgehalten, dass für mich die Anerkennung dieser Vielfalt die einzig nicht-ideologische Setzung ist! Alles, was dieses Faktum nicht anerkennen möchte, ist Ideologie.
Gibt es denn aus Ihrer Sicht in Deutschland Klischees, die österreichische Literatur betreffend, die Sie ärgerlich finden und die Sie mit Ihrem Programm aufbrechen, wenn nicht gar in die Rumpelkammer verbannen möchten?
Gasser: Zuviel der Ehre. Ich finde es grundsätzlich unvernünftig, gegen Klischees auftreten zu wollen. Vielleicht sogar etwas infantil (lacht). Klischees haben auch etwas Gutes. Ich mache zum Beispiel jetzt die Erfahrung, dass das immer etwas verniedlichende Bild des Österreichers uns durchaus gut bekommt: Man mag uns! Das kommt unserem Projekt auch zugute (lacht). Ich will weniger gegen Klischees auftreten, als mit einem Selbstverständnis – das auch nicht auftrumpfend ist! – zu zeigen, was dieses Land literarisch zu bieten hat. Und das ist viel mehr, als man kennt.
Mehr als Thomas Bernhard…
Gasser: Absolut. Einer unserer Programmhöhepunkte im April 2023 wird die Show „Werdet Österreicher!“ in der Schaubühne Lindenfels sein. Dort werden zwei der bekanntesten Kabarettisten Österreichs, Stermann & Grissemann, mit diversen Autorinnen und Autoren einen Abend gestalten. Vorausgehen wird diesem Abend ein Literaturwettbewerb der schule für dichtung in wien in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Gesucht wird da der österreichischste Text der Gegenwart. Wir fordern also dazu auf, Bernhard, Jandl & Co. zu übertrumpfen.
Ich entnehme Ihren Worten eine gewisse Fähigkeit zur Selbstironie…
Gasser: Das ist natürlich eine Grundvoraussetzung, um das Leben generell zu überstehen (lacht). Ironiefähigkeit empfiehlt sich auch bei der Leitung eines Gastland-Auftritts. Auf dem Terrain der Kunst haben wir – Gottseidank! – die Möglichkeit, Dinge, die sonst in die Katastrophe führen, anders anzugehen.
Lassen Sie uns darüber sprechen, was uns bis zum April 2023 erwartet. Die erste Raketenstufe ist ja bereits gezündet: Sie haben Mitte Mai in Berlin eine Literaturhaus-Tour eröffnet. Was haben Sie in den nächsten Monaten vor?
Gasser: In den letzten Monaten waren wir damit beschäftigt, die Projekte und unseren Claim zu entwickeln, der Startschuss fiel im letzten März in Leipzig. Die Fortsetzung fand das im Mai in Berlin. Es gab jetzt im LCB wieder einen „Langen Abend der Österreichischen Literatur“. Im September wird „Literatur on Tour“ richtig Fahrt aufnehmen. Wir haben insgesamt mehr als 30 Veranstaltungen in Deutschland und der Schweiz, wo wir – meist mit musikalischen Acts – die ganze Vielfalt der österreichischen Literatur zeigen wollen. Meist in Konstellationen, die so in Literatur-Institutionen sonst nicht stattgefunden hätten. Begleitet wird das von unserem Podcast-Projekt und weiteren Aktivitäten in den Sozialen Medien. Anfang 2023 richtet sich unser Fokus dann verstärkt nach Leipzig. Unsere Präsenz 2023 startet, so der Plan, mit einer Ausstellung des zeichnerischen Werks von einer der interessantesten und bekanntesten österreichischen Künstlerinnen des 20.Jahrhundersts, die ein ausgeprägtes Naheverhältnis zur österreichischen Literaturszene hatte: Maria Lassnig. Rund um Maria Lassnig, zu der es spannende Buchpublikationen gibt in unterschiedlichen österreichischen Verlagen, sind mehrere Aktivitäten geplant. Darüber hinaus: Im Literaturhaus Leipzig wird es eine Nicolas-Mahler-Ausstellung geben, in der Schaubühne eine Woche mit österreichischen Literaturverfilmungen. Nikolaus Habjan wird ein ganzes Wochenende lang auftreten mit einem Kult-Stück von Werner Schwab, „Die Präsidentinnen“, das Burgtheater wird Leipzig mit einem herausragenden Gastspiel beehren: darüber und darauf freue ich mich sehr: Details möchte ich noch keine verraten.
Wir versuchen, unseren Gastlandauftritt im Vorfeld auf sehr unterschiedlichen Ebenen anzukündigen und mitzuzählen – nicht nur auf dem Feld des Literarischen.
Katja Gasser
Wir versuchen, unseren Gastlandauftritt im Vorfeld also auf sehr unterschiedlichen Ebenen anzukündigen und mitzuzählen – nicht nur auf dem Feld des Literarischen. So wird es auch während der Buchmesse weitergehen: Mit einer großen Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek („50 Jahre österreichische Literatur“) in der DNB Leipzig, im Leipziger Theater der Jungen Welt werden wir während der Buchmesse einen Tag lang Workshops mit österreichischen Kinder- und Jugendbuch-Illustratoren abhalten. Dazu wird das ‚Dschungel Wien‘ – eines der herausragendsten Kinder- und Jugendtheater Österreichs – ein Gastspiel am TdJW haben. Und so weiter, und so weiter… Wir versuchen, an sehr unterschiedlichen Stellen die unterschiedlichsten Kunstsparten sichtbar zu machen – auch mit dem Wunsch, über diesen Moment der Leipziger Buchmesse hinaus Netzwerke zu schaffen, die dann über den April 2023 weit hinaustragen.
Wenn man sich auf das Projekt, Österreicher zu werden, ordentlich vorbereiten will – welche Bücher sollte man dann in den Sommer mitnehmen? Und: Was lesen Sie gerade?
Gasser: Ich lese gerade ein Buch, das nicht direkt mit unserem Auftritt zu tun hat, aber von einem Autor stammt, den ich für einen der relevantesten der Gegenwart halte: „Mesopotamien“ von Serhij Zhadan. Was österreichische Novitäten betrifft, tue ich mich schwer, ein Buch besonders hervorzuheben. Vielleicht so viel: Der Claim „Meaoiswiamia“ ist ja nicht bei mir am Schreibtisch entstanden. Ich habe mehrere Autorinnen und Autoren darum gebeten, darüber nachzudenken, wie wir als Gastland heißen könnten. „Meaoiswiamia“ ist eine Erfindung von Thomas Stangl, der zuletzt gemeinsam mit Anne Weber ein Buch über „Gute und böse Literatur“ bei Matthes & Seitz veröffentlicht hat. Das liegt mir sehr am Herzen, wie überhaupt Thomas Stangl – ein Leuchtstern der österreichischen Gegenwartsliteratur, der in Deutschland noch viel zu wenig bekannt ist. Im August kommt sein neuer großer Roman „Quecksilberlicht“ (Matthes & Seitz Berlin) heraus, dazu ein Erzählband in seinem ‚Herkunftsverlag‘, dem österreichischen Droschl-Verlag. Das andere Buch, das ich erwähnen möchte, kommt aus einem tollen, jungen österreichischen Verlag – Alexander Lippmanns Roman „Innere Gewalt“ ist bei Bahoe Books erschienen; eine Geschichte darüber, was es heißt, einer mehr oder minder sinnlosen Arbeit nachzugehen. Insgesamt kann ich nur sagen: liebe Leserinnen: schaut Euch auf dem österreichischen Buchmarkt um: es gibt Hochkarätiges zu entdecken!
Katja Gasser ist Literaturkritikerin und Kulturjournalistin, 2019 wurde sie mit dem Österreichischer Staatspreis für Literaturkritik ausgezeichnet. Seit 2008 leitet sie das ORF-TV-Literaturressort; in dieser Funktion ist sie zur Zeit freigestellt, weil sie die künstlerische Leitung des Gastlandprojekts ,Österreich bei der Leipziger Buchmesse 23’ übernommen hat.