Autor: Nils Kahlefendt

Fortsetzung folgt!
28. Oktober 2016
Zur Leipziger Buchmesse 2017 zeigt sich das Schwerpunktland Litauen modern und selbstbewusst
Autor: Nils Kahlefendt

Fortsetzung folgt!
28. Oktober 2016
Zur Leipziger Buchmesse 2017 zeigt sich das Schwerpunktland Litauen modern und selbstbewusst

In der Literatur-Geschichte eines Landes sind 15 Jahre eine verhältnismäßig kurze Zeit, vielleicht ein Wimpernschlag. Blickt man auf den komplizierten Prozess der Neu- und Wiederentdeckung der litauischen Literaturlandschaft für den deutschsprachigen Raum, scheinen die Uhren langsamer zu ticken. Fast 15 Jahre ist es her, dass sich Litauen als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2002 mit großen Lettern auf die europäische Literaturlandkarte einschrieb. Wenn sich der südlichste der drei baltischen Staaten im März 2017 als Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse präsentiert, muss die Geschichte nicht mehr von Anfang an erzählt werden. Man kann an bestehende Netzwerke anknüpfen, auf- und anbauen: Nun, so erklärt Aušrinė ŽilinskienėDirektorin des litauischen Kulturinstituts und Kuratorin des Leipzig-Auftritts, geht es darum, „zu zeigen, wie genau wir anders sind im gemeinsamen Haus Europa“.

Differenzierung und Vielfalt

Während etwa in Deutschland aktuell die Flüchtlingskrise die gesellschaftliche Debatte bestimmt, leidet Litauen unter massiver Migration ins westliche Ausland: Seit der Unabhängigkeitserklärung von 1991 hat fast eine Million Litauer die Heimat verlassen – alarmierend für ein Land mit knapp drei Millionen Einwohnern. Nicht erste literarische Probebohrungen also, sondern Differenzierung und Vielfalt sind angesagt. Als Gastland in Leipzig will sich Litauen, das seit 2004 Mitglied der EU und der Nato ist und seit 2015 zum Schengen-Raum gehört, als moderner Staat mit 100jähriger Geschichte präsentieren. „Litauen. Fortsetzung folgt“ lautet konsequenterweise das Motto des Auftritts. 2018 begeht das baltische Land den 100. Jahrestag der Gründung der Republik Litauen – über 100 Jahre auf dem Weg in die Moderne wird eine eigens für Leipzig vorbereitete Messe-Anthologie berichten: 25 Autorinnen und Autoren beleuchten dort mit ganz individuellem Blick schlaglichtartig Entwicklungen in Kultur, Wirtschaft, Architektur und Wissenschaft. Spannende Lektüre.

Getrennte Welten rücken zusammen

Mit dem Tod zweier berühmter Schriftsteller – des Lyrikers Bernardas Brazdzionis und des Prosaisten Ricardas Gavelis – ging 2002, im Jahr des Frankfurter Gast-Auftritts, das 20. Jahrhundert in der litauischen Literatur zu Ende: Ein Jahrhundert, das von Exil, Unterdrückung, von der erzwungenen Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus und mehreren Neuanfängen geprägt war. Seither haben es Jahr für Jahr nur eine Handvoll litauischer Autoren auf den deutschsprachigen Buchmarkt geschafft. Das wird sich 2017 gründlich ändern: Rund 20 Autorinnen und Autoren werden mit neu übersetzten Titeln in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu entdecken sein. Die Liste der engagierten Verlage reicht von Aufbau bis Wieser, der thematische Zugriff von der Auseinandersetzung mit der litauischen Geschichte bis in die unmittelbare Gegenwart. Zu entdecken gilt es moderne Klassikern der litauischen Literatur – aber auch die „Jungen Wilden“. Auf einen besonders wichtigen Punkt macht Aušrinė Žilinskienė aufmerksam: Die neu übersetzten Bücher ermöglichen nun auch eine Gesamtschau der lange getrennten Welten litauischer Literatur aus Exil und Mutterland; dazu treten die einst von ihren Wurzeln abgeschnittenen Autoren, die im sowjetische Litauen schrieben oder jene, die vergessen im sibirischen Gulag schmorten.

Keine Kompromisse mit der Macht

Viele litauische Schriftsteller von Rang, die das Inferno des 2. Weltkrieges überlebten, gingen in den Westen. Antanas Škėma etwa emigrierte 1949 in die USA; sein berühmter Roman „Das weiße Laken“ („Balta Drobule“), in Litauen Schullektüre, wird nun von dem auf literarische Wiederentdeckungen spezialisierten Guggolz Verlag zwischen Buchdeckel gebracht. Bei Suhrkamp erscheint 2017 ein neues Buch des in Klaipéda geborenen Lyrikers und Essayisten Tomas Venclova, der Litauen 1977 verließ. Venclova lehrt seither in Yale slawische Literaturen und hat sich mit seinen engen Kontakten zu den Nobelpreisträgern Joseph Brodsky und Czeslaw Milosz in eine übernationale osteuropäische Kultur eingebürgert. Der 2002 gestorbene Jurgis Kunčinas war in Litauen geblieben: Er studierte Germanistik an der Universität Vilnius, wurde aber 1968 zwangsexmatrikuliert, als er sich weigerte, am obligatorischen Wehrkundeunterricht teilzunehmen. Später arbeitete er als Übersetzer aus dem Deutschen, Erzieher, Transportarbeiter und Krankenpfleger. Sein in den frühen 90ern erschienener Roman „Tula“ ist die autobiografische Geschichte eines jungen Literaten, der keine Kompromisse mit den Mächtigen eingehen will – und ein großartiger Vilnius-Roman, der nun endlich bei Corso zu entdecken sein wird.

Entdeckungen für deutschsprachige Leser

Mit seinem bewegenden Roman „Mein Name ist Maryte (Mitteldeutscher Verlag 2015), der das lange in Vergessenheit geratene Schicksal der ostpreußischen „Wolfskinder“ nach dem Einmarsch der Roten Armee aufgreift, hat der 1966 geborene Autor und Regisseur Alvydas Šlepikas bereits zahlreiche deutsche Leser gefunden. Von Šlepikas, der zu den im Ausland derzeit gefragtesten litauischen Autoren gehört, legt der Mitteldeutsche Verlag 2017 den Erzählband „Der Regengott“ („Lietaus dievas“) nach. Einen herausgehobenen Platz in der litauischen Gegenwartsliteratur nimmt, nicht zuletzt aufgrund ihres an Charms und Woody Allen geschulten Witzes, die 1967 geborene Undinė Radzevičiūtė ein, die nach ihrem Kunststudium in Vilnius zunächst in die Werbung ging und für Weltkonzerne wie Saatchi & Saatchi und Leo Burnett arbeitete. Nun hat sich der Salzburger Residenz Verlag die Rechte an ihrem bislang besten Roman „Fische und Drachen“ („Žuvys ir drakonai“) gesichert, der 2015 den Literaturpreis der EU gewann.

Buchmarkt im Umbruch

Dass die Rolle Litauens im zusammenwachsenden Europa im kommenden März in zahlreichen gesellschaftspolitischen Debatten thematisiert werden wird, steht außer Frage. Literaturbegeisterte können aber auch auf junge Kinderbuch-Illustratoren treffen – oder sich gleich Anregungen für den nächsten Urlaub holen: Als modernes Kulturreiseland hat Litauen mehr zu bieten als das Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nida auf der Kurischen Nehrung. Der litauische Buchmarkt, der sich vom mit der Weltwirtschaftskrise 2008 einhergehenden Einbruch noch nicht vollends erholt hat, erwartet sich einiges vom „Schaufenster“ Leipzig – noch haben gerade kleine, unabhängige Verlage einen schweren Stand gegen Konzerne wie Alma Littera – die größte Verlagsgruppe des Baltikums betreibt zugleich Litauens größte Buchhandels-Kette und einen Buch-Club.

Ein Hauch Brooklyn in Vilnius

Zu den Indie-Buchhändlern, die trotz Gegenwind neu gestartet sind, gehören die Karl-May-Fans von Mint Vinetu (http://www.mintvinetu.com) in der Altstadt von Vilnius: Gute Musik, starker Kaffee, kostenloses W-Lan, neue und gebrauchte einheimische und fremdsprachige Bücher, Schallplatten, an den Wänden stimmungsvolle Schwarz-Weiß-Fotos von Leserinnen und Lesern – dieses Bücherparadies könnte so auch in Berlin oder Brooklyn zu finden sein. Für ihre Print-Kampagne „Become Someone Else!“ wurden die Karl- May-Schwärmer sogar auf internationalen Werbe-Blogs gefeiert. Ganz gleich, ob man der Legende trauen kann, nach der im Paradies Litauisch gesprochen wird: Fürs neugierige Lesepublikum, das im Spiegel des Fremden mehr über sich selbst erfahren will, brechen im März 2017 paradiesische Zeiten an.

Fotos: Algimantas Aleksandravicius, Litauisches Kulturinstitut, Vladas Braziunas, Anika Matzke

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Litauen meets Leipzig: Die Leipziger Buchmesse präsentiert vom 23. bis 26. März 2017 Verlage und Autoren aus Litauen. Mit ihrem Schwerpunktlandkonzept fördert die Messe insbesondere die Verknüpfung von Büchermachern aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa mit ihren Kollegen in den deutschsprachigen Buchmärkten.

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