Autor: Ruth Justen

Spiel mit den Codes: Comic Romane als literarische Erzählform
14. März 2016
Interview mit Professor Dr. Bernd Dolle-Weinkauff, Institut für Jugendbuchforschung Johann Wolfgang Goethe-Universität
Autor: Ruth Justen

Spiel mit den Codes: Comic Romane als literarische Erzählform
14. März 2016
Interview mit Professor Dr. Bernd Dolle-Weinkauff, Institut für Jugendbuchforschung Johann Wolfgang Goethe-Universität

Comics wurden im Land der Dichter und Denker lange verpönt oder zumindest belächelt. Mittlerweile gibt es kaum eine Buchhandlung in Deutschland ohne Comics, Manga oder Graphic Novels im Sortiment. Wie erwachsen sind gezeichnete Geschichten heute? Welches erzählerische Potenzial bieten Comic-Romane? Wo steht die deutsche Comic-Szene heute? Diese und weitere Fragen stellten wir Professor Dr. Bernd Dolle-Weinkauff vom Institut für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Sind Comics und Graphic Novels erwachsen geworden oder hat sich nur die mediale Wahrnehmung verändert?

Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Tatsächlich erschienen die ersten Comics Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen nordamerikanischen Tageszeitungen. Sie richteten sich an Erwachsene und einige der ersten, wie Winsor McCays „Little Nemo in Slumberland“ (1905), waren ausgesprochen kunstvoll gestaltet. Bereits aus der Sicht der Zeitgenossen bahnte sich hier etwas Neues und Großes an, das mit der bis dahin erschienenen konventionellen Literatur mindestens mithalten konnte. Erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts folgten dann die Comic-Hefte, in den USA comic books genannt, die auf das junge Publikum zielten und Seriengeschichten präsentierten. Angeführt wurden sie von den Superhelden-Comics, die den Ruf des Comics als Kinder- und Jugendbuch begründeten. Ende der 60er Jahre kamen die ersten französischen und italienischen Comics für Erwachsene in deutscher Übersetzung bei uns auf den Markt. Es sind diese romanhaften Erzählungen in Schrift und Bild, die in der Gegenwart das Bild des ambitionierten Comic für alle Generationen prägen. Spezielle Comic-Hefte für Kinder- und Jugendliche sind dagegen in der Bedeutung in den Hintergrund getreten.

Wie definieren Sie Graphic Novels im Unterschied zum Comic?

Der Begriff Graphic Novel taucht nicht erstmals bei Will Eisner auf, aber er hat ihn popularisiert. Der berühmte amerikanische Zeichner veröffentlichte 1978 ein Buch mit vier Kurzgeschichten über das Leben der Menschen in der Bronx als ein abgeschlossenes Werk unter dem Titel „A Contract with God. A Graphic Novel“. Die Bezeichnung war eher eine Verlegenheitslösung, es ging gar nicht um eine präzise Beschreibung der Gattung, sondern um das Neue: das abgeschlossene, stilistisch und erzählerisch originelle Werk in Buchform. Comic Book wäre also für Will Eisners Buch passender gewesen, aber so hießen ja schon die Comic-Hefte. Heute benutzen Kritiker, Verleger und Autoren den Begriff Graphic Novel, um einen Comic als ein ambitioniertes Werk kenntlich zu machen und diesem ein Qualitätssiegel zu verleihen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich dann erst, ob es sich um einen Comic-Roman oder eine andere Form von graphischer Literatur handelt.

Wie unterscheidet sich die literarische Erzählform gezeichneter Geschichten wiederum von einem traditionellen Roman oder von Novellen?

Das Zusammenwirken von Bild und Schrift schafft natürlich Besonderheiten. Die Geschichten operieren simultan mit verbalen und piktoralen Codes, mit Wörtern und mit Bildern. Dies bietet Raum für das Spielen mit den Codes: Mal treibt eher das Bild die Geschichte voran, mal die Schrift. Dabei müssen Schrift und Bild nicht zwangsläufig die gleiche Geschichte erzählen: Interessant wird es ja gerade dann, wenn absichtsvoll Brechungen entstehen, wenn Raum bleibt für unterschiedliche Deutungen, Rätsel, Ironie und dergleichen. In ihrer engen Verzahnung sind jedoch beide Komponenten unverzichtbar für das Verständnis der Erzählung. Über die Visualisierung wird eine Anschaulichkeit und Suggestionskraft erreicht, die in der auf rein sprachliche Mittel beschränkten Literatur nicht möglich ist.

Was ist das Besondere an der deutschen Comic-Szene?

Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Comic-Import-Land. Die meisten hierzulande veröffentlichten Comics liegen als Übersetzung vor. Das hat den Vorteil, dass Leser Anregungen aus aller Welt bekommen und aus einer reichen Auswahl schöpfen können. Insbesondere die Bedeutung der Manga ist seit 20 Jahren gewaltig. Die internationalen Zeichner haben einen dementsprechend großen Einfluss auf deutsche Künstler. Diese müssen sich wiederum dem internationalen Wettbewerb mit seinem hohen Niveau stellen, um mitzuhalten. Das hat zum heute exzellenten Niveau deutscher Zeichner und Autoren beigetragen. Seit 10 bis 15 Jahren erfahren immer mehr Künstler wie etwa Ralf König, Reinhard Kleist, Felix Görmann (Flix), Isabel Kreitz unter anderem auch internationale Anerkennung. Wobei sich für meine Begriffe die jungen Künstler in Deutschland, insbesondere die Mangaka, manchmal zu sehr an internationalen Vorbildern orientieren. Ich würde mir noch mehr Eigenständigkeit von ihren Werken wünschen, das ist oft aber bloß eine Frage der Entwicklung.

Autobiografisches Erzählen liegt weltweit im Trend, es ist geradezu eine typische Begleiterscheinung des Phänomens Graphic Novel. Diesen Trend greifen in Deutschland besonders viele – vor allem junge – Künstler auf. Mit Mitte zwanzig einen Blick zurück auf das Leben zu werfen, ist auf den ersten Blick verwunderlich. Andererseits haben diese Künstler gerade erst die sehr schwierige Übergangszeit der Pubertät und Adoleszenz gemeistert. Sie reflektieren daher diese Phase ihres Lebens und stellen sie in den Mittelpunkt ihres Erzählens.

Wagen Sie eine Prognose zur Entwicklung der Comic-Szene in Deutschland?

Wir haben in den letzten Jahrzehnten die ersten Grundlagen für eine lebendige deutschsprachige Comic-Szene gelegt, um in Zukunft international eine immer größere Rolle spielen zu können. Es haben sich sowohl Verlage als auch Künstler herauskristallisiert, die zunehmend Beachtung in der Comic-Welt finden. Hinzu kommt die Nachwuchsförderung, wobei es sehr wichtig geworden ist, dass arrivierte Künstlerinnen und Künstler wie Anke Feuchtenberger, ATAK, alias Georg Barber, Hendrik Dorgathen, Ute Helmbold oder Henning Wagenbreth unter anderem an Hochschulen unterrichten, um ihr Wissen und Können weiter zu geben.

Nicht nur die Comic-Szene fragt sich, wohin die Reise geht. Der gesamte Buchmarkt wünscht sich neue Leser. Gibt es Erkenntnisse, ob jugendliche Fans von Manga, Comics und Graphic Novels über die gezeichneten Geschichten an traditionelle Literatur herangeführt werden?

Das ist schwierig zu beantworten – jedenfalls sind wir in der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft ganz überwiegend der Meinung, dass Literaturangebote aufgrund ihrer ihnen jeweils inne wohnenden Qualität beurteilt werden sollten und nicht danach, ob sie zu anderen Texten, die von anderen vielleicht mehr geschätzt werden, ‚hinführen’. Die noch in der Literaturpädagogik der 50er/60er Jahre sehr verbreitete Vorstellung vom „Hinauflesen“ zur „eigentlichen“ Literatur haben wir weitgehend ad acta gelegt. Ich vermute aber sehr stark, dass die beträchtliche Horizonterweiterung durch die neuen Strömungen des Comic nicht ohne Folgen für die Ausdifferenzierung der Leseinteressen des Publikums bleibt: wer einmal, sei es durch Manga oder Comics, sei es durch Bilderbücher, Filme oder andere Medien, durch die Vielfalt des Angebots ‚infiziert’ wurde, den wird es so schnell nicht wieder los lassen …

Warum ist Ihre Stelle am Institut für Jugendbuchforschung angesiedelt?

Das hat einen einfachen historischen Hintergrund. Anfang der 60er Jahre richteten sich Comics noch überwiegend an Kinder- und Jugendliche. In dieser Zeit fing das Institut für Jugendbuchforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität an, ein Comic-Archiv aufzubauen. Das Comic-Archiv beherbergt mittlerweile circa 60.000 überwiegend deutschsprachige Comics, Manga und Graphic Novels aus den Jahren 1945 bis heute. Auch als der Trend zum Erwachsenencomic aufkam, haben wir hier keine künstliche Grenze gesetzt, gesammelt wurden und werden Comics für alle Generationen. Die Sammlung ist mit Abstand die umfangreichste wissenschaftliche Sammlung dieser Art im deutschsprachigen Raum. Als Kurator dieser Sammlung setze ich mich seit Jahrzehnten mit deren Inhalt wissenschaftlich auseinander. Zu den Sammlungen des Instituts gehört zudem die Bibliothek für Jugendbuchforschung mit rund 200.000 Kinder- und Jugendbüchern vom 16. Jahrhundert bis heute, in deren Bestand sich zahlreiche Bilderbücher und Bildgeschichten, der Vorläufer der Comics also, aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert finden.

Herr Prof. Dolle-Weinkauff, vielen Dank für das Interview.

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