Autor: Wir

Illustration: Yvonne Kuschel (https://www.yvonne-kuschel.de) Fotos: Martin Jehnichen, Stefan Hoyer, Sandro Gärtner

Klang der Stille
6. März 2019
Lesezeichen (I): Ein Blick ins Buch, zwei ins Leben - wir empfehlen Ihnen unsere persönlichen Leipzig liest-Favoriten
Autor: Wir

Illustration: Yvonne Kuschel (https://www.yvonne-kuschel.de) Fotos: Martin Jehnichen, Stefan Hoyer, Sandro Gärtner

Klang der Stille
6. März 2019
Lesezeichen (I): Ein Blick ins Buch, zwei ins Leben - wir empfehlen Ihnen unsere persönlichen Leipzig liest-Favoriten

Einmal im Jahr, an vier Buchmessetagen im März, swingt die Stadt im Takt der Literatur: Seit 20 Jahren feiern Einheimische und ihre Gäste dann mit Leipzig liest ein hinreißendes Fest der Bücher. Tagsüber in den Hallen des Messegeländes, abends in Cafés und Bars, Museen und Szene-Clubs, im Rathaus, im Zoo. Ein wenig Ausnahmezustand, eine Art Woodstock der Literatur – und zugleich die vermutlich beste Chance, Leipzig und seine Potenziale zu erkunden. Bei Leipzig liest halten sich Vorfreude und Qual der Wahl regelmäßig die Waage – auch für uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Buchmesse-Teams. Wir haben deshalb in den letzten Tagen noch einmal Bücherstapel durchforstet, Tablets, Smartphones, Haftnotizen und Kladden gesichtet – und für Sie die spannendsten Veranstaltungen abseits des Mainstreams zusammengetragen. Ob Sockenfresser, Bauhaus, Insta-Lyrik, Ausflüge in die dunklen Winkel der Geschichte oder nach Kalmückien – Leipzig liest ist so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher. Wir sehen uns!

Zwischentöne | Von Gritt Philipp, Projektmanagerin Belletristik/Sachbuch, Independent-Verlage

Katharina Mevissen (*1991) erzählt in ihrem Debütroman „Ich kann dich hören“ (Wagenbach) vom Sound des Alltags und vom Zauber der Sprache. Sie überzeugt nicht nur mit sehr poetischen Beschreibungen für alles Akustische, sondern auch mit der sensiblen Zeichnung ihres Ich-Erzählers Osman, dem im Ruhrgebiet aufgewachsenen Sohn eines erfolgreichen Geigers mit türkischen Wurzeln. Um Osmans Migrationserfahrungen geht es jedoch nur am Rande. Im Vordergrund steht das Hören (und nicht hören können) – nicht zuletzt als Symbol für die Fähigkeit zu Dialog und gegenseitigem Verstehen. Katharina Mevissen ist unter anderem im Forum Die Unabhängigen in Halle 5 auf dem Messegelände und im Literaturhaus Leipzig zu erleben – ich empfehle ihren Auftritt in der Auftakt-Session der diesjährigen UV-Lesung, zusammen mit Daniel Faßbender und Dilek Güngör. (Katharina Mevissen: Ich kann dich hören. UV – Lesung der unabhängigen Verlage. 22. März, 20 Uhr, Lindenfels Westflügel).

Vaterland | Von Anna-Lena Schmidt, Praktikantin

Der junge Äthiopier, der im Hochsommer 2010 plötzlich bei Ilaria Profeti läutet, ist ein Flüchtling, der es in seiner Heimat knapp aus einem Foltergefängnis geschafft hat. Bald aber wird der römischen Lehrerin klar, dass der Junge auch ihr Neffe ist, der Sohn ihres ältesten Bruders. Ihr Vater, längst über 90, hat seinen afrikanischen Sohn stets verschwiegen. Es ist ein Paukenschlag, mit dem dieser Roman beginnt, der die letzten 120 Jahre italienischer Geschichte in den Blick nimmt. Die Verwicklungen zwischen Libyen und Italien unter Berlusconi kommen ebenso vor wie Mussolinis martialischer äthiopischer Eroberungskrieg mit Giftgas von 1935. Nach „Eva schläft“ und „Über Meereshöhe“ bildet „Alle, außer mir“ (Wagenbach) den Abschluss ihrer „Trilogie der Väter“ über die italienische Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Feder von Francesca Melandri (*1964). In Leipzig wird Melandri von der Kritikerin Maike Albath, einer der profundesten Kennerinnen der modernen italienischen Literatur, vorgestellt. Es muss nicht immer Elena Ferrante sein! Melandris Familiengeschichten erklären besser als jedes Politik-Oberseminar, was die sogenannte „Flüchtlingskrise“ mit europäischer Geschichte zu tun hat. (Trilogie der Väter. Francesca Melandri im Gespräch mit Maike Albath. 22. März, 19 Uhr, Kunstkraftwerk)

Quo vadis, Europa? | Von Martin Buhl-Wagner, Geschäftsführer der Leipziger Messe und Sprecher der Geschäftsführung

„Die friedlichen Revolutionen“, so das vernichtende Urteil des jüdischen ungarischen Philosophen Gáspár Miklós Tamás, „sind ganz und gar gescheitert“. Als Zeitzeuge der Friedlichen Revolution möchte ich dieser These widersprechen. Die Revolution und ihre Gestalter haben in den vergangenen 30 Jahren das Verständnis von Demokratie in Deutschland und anderen europäischen Ländern nachhaltig geprägt und gestärkt. Dennoch kam es zu Fehlentwicklungen, müssen Korrekturen durchgeführt werden, um die Demokratie gegen nationalistische und populistische Angriffe zu verteidigen, wie sie zum Beispiel Tamás erlebte. Der Philosoph konnte in den Achtzigern nur im Untergrund publizieren. In den Nullerjahren begründete er die ungarische Attac-Bewegung mit und wurde schließlich 2011 von der Orbán-Regierung aus der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gedrängt. Mit Spannung erwarte ich daher die Diskussion mit ihm und dem polnischen Journalisten und Autor Piotr Buras sowie Jáchym Topol, einem der bedeutendsten Schriftsteller Tschechiens vor der Samtenen Revolution. Die Diskussion über die Bedeutung Europas für Polen, Ungarn und Tschechien sowie die Lehren aus den Revolutionen kann aus meiner Sicht einen wichtigen Beitrag zur zukünftigen Ausgestaltung unserer Länder leisten. Ähnliches erhoffe ich mir von den weiteren Veranstaltungen im Rahmen unseres neuen Programmschwerpunkts „The Years of Change 1989 – 1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“, den wir gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung veranstalten. (Am Ende – Europa! Die Bedeutung Europas für Polen, Ungarn und Tschechien. 22. März, 13 Uhr, Café Europa, Halle 4).

Geht ein Schriftsteller zum Arbeitsamt | Von Ruth Justen, Presseteam Leipziger Buchmesse

Kommt ein Schriftsteller zum Arbeitsamt und will sich arbeitslos melden. Doch wie soll das gehen, wenn man gar keinen Beruf ausübt – weil der Sachbearbeiter auf der anderen Seite des Schreibtischs überzeugt ist: „So einen Beruf gibt es nicht, Schriftsteller.“ Da bleibt dem Autor nur, den Beamten vom Gegenteil zu überzeugen – und quasi um seinen „Lebensunterhalt“ zu erzählen. Ein Witz? Nein: Ein Roman. Ein ziemlich witziger und kluger. Tomer Gardi, 1974 im Kibbuz Dan in Galiläa geboren und inzwischen in Berlin lebend, hat mit „Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück“ (Droschl) eine moderne Scheherezade-Geschichte im heutigen Israel geschrieben. Seit ich vor einigen Jahren den Israel-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse als Pressesprecherin begleitet habe, verfolge ich die literarische Entwicklung dort mit wachen Augen. Tomer Gardi, der mit einem Auszug aus seinem Debütroman „Broken German“ beim 40. Bachmannpreis in Klagenfurt aufgetreten war, ist ohne Zweifel eine der eigenwilligsten zeitgenössischen hebräischen Stimmen. Ich wünsche ihm viele neue Leserinnen und Leser. (Tomer Gardi: Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück. 22. März, 15 Uhr, Forum Die Unabhängigen).

Sockenanarchie | Von Constanze Hilsebein, Referentin Werbung

Das oberste Sockenfresser-Gesetz scheint weltweit zu gelten: Es ist nicht die Waschmaschine, sondern es sind die Sockenfresser, die immer nur eine Socke eines Paars verspeisen. Der Autor Pavel Srut (1940 – 2018) und die Illustratorin Galina Miklínová erhielten für „Lichozrouti“ („Die Sockenfresser“) 2009 den bedeutendsten tschechischen Buchpreis Magnesia Litera in der Kategorie Kinder- und Jugendliteratur. Nun ist die Cartoon- und Animationszeichnerin Miklinová, die auch bei der filmischen Umsetzung des Bestsellers mit Hand anlegte, im Rahmen von Ahoj Leipzig für einige seltene Workshops bei uns zu Gast. Unter ihrer fachkundigen Anleitung können Jungs und Mädchen einen eigenen Sockenfresser basteln – nötig sind dazu nur ein paar Knöpfe, Zwirn und, klar doch: eine gefräßige Socke. Am Ende kann man sich sogar noch eine Geburtsurkunde für seinen Sockenfresser signieren lassen. Wenn das Professor Krausekopf wüsste! (Galina Miklínová: Sockenfresser. Ein Workshop. 22. März, 10 Uhr, Bibliothek Reudnitz).

Das Vergangene ist nicht tot | Von Katharina Wilhelm, Praktikantin

In ihrem zweiten Roman „Schwedenreiter“ (Otto Müller Verlag) behandelt Hanna Sukare die Ereignisse um den sogenannten „Goldegger Sturm“ in Salzburg im Jahr 1944 – damals machte die SS Jagd auf Wehrmachtsdeserteure, insgesamt 14 Menschen wurden umgebracht. Aufgearbeitet ist die Geschichte bis heute nicht, im Gegenteil: In der Goldegger Ortschronik werden die Deserteure bis heute als „gefährliche Landplage“ bezeichnet. Im Roman wehrt sich die fiktive Figur Paul Schwedenreiter, dessen Großvater einer der Deserteure war und dessen Großmutter deshalb ins KZ kam, gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit – er will Rehabilitation für seine Familie und Frieden für sich selbst. Heilt die Zeit doch nicht alle Wunden? Hanna Sukare lässt ihre Leser spüren, wie nahe uns der Krieg auch nach 70 Jahren noch ist. Erschreckend: Kurz nach Erscheinen des Romans im letzten Jahr wurde das Goldegger Deserteursdenkmal von Unbekannten geschändet. (Hanna Sukare: Schwedenreiter. 23. März, 19 Uhr, Galerie Stritz).

Auf nach Kalmückien! | Von Laura Büching, Projektmanagerin autoren@leipzig, Hörfunk/Fernsehen, Zeitungen/Zeitschriften, Branchen-Dienstleister

Die Touristik-Branche boomt, China überholt Deutschland als Reiseweltmeister, und immer mehr Menschen fahren immer häufiger zu immer weiter entfernteren Orten. Ist es da nicht faszinierend, in diesen Zeiten einen weißen Fleck auf der Landkarte zu entdecken? Zugegeben, als ich das erste Mal von „Kalmückien“ las, habe ich kurz an „Molwanîen“, das „Land des schadhaften Lächelns“ denken müssen, diese Reiseführer-Parodie, die zum internationalen Bestseller wurde. Vielleicht ist es eine Bildungslücke, aber ich persönlich habe noch nie etwas von dem Land gehört, das nun in der „Bibliothek der unbekannten Länder“ (Achter Verlag) vorgestellt wird. Und ich bin sehr neugierig, welche kulturellen, naturellen, gesellschaftlichen und kulinarischen Abenteuer es im einzigen buddhistischen Land Europas zu entdecken gibt. Die Autoren Wolfgang Orians und Andreas Salewski stellen das unbekannte Land Kalmückien mit Bildern, Filmen und Texten aus ihrem neuen Buch vor (Bibliothek der unbekannten Länder: Kalmückien. 23. März, 19.30 Uhr, First Reisebüro).

Follow me! | Von Luise Neubert, Projektassistentin Leipzig liest

„Ich lass dich in mein Herz, aber streif dir vor der Tür die Füße ab.“ Mit seiner Ehrlichkeit und seinem Blick für das Wesentliche hat sich Atticus auf seinem Instagram-Account @atticuspoetry in die Herzen von mehr als 900.000 Followern geschrieben. Für seinen ersten Fotogedichtband hat der Singer-Songwriter Kilian Unger alias Liann die Texte des gebürtigen Kanadiers, der heute in Kalifornien lebt, ins Deutsche übersetzt. Erschienen ist „Love. Her. Wild.“ bei bold, dem neuen jungen Label von dtv, was sich an Digital Natives ab 20 aufwärts wendet. Unter dem Titel #boldbooksandbeer lädt der Verlag die Generation Y zur Buchparty mit InstaPoet Atticus und Kilian Unger an die Karli: „Chase your stars fool, life is short!“ (#boldbooksandbeer. 22. März, 20 Uhr, Café Puschkin)

Rumble in the Jungle | Von Silvana Deckwerth, Referentin Werbung

Die Schwarz-Weiß-Bilder im TV, Ali gegen Foreman, 30. Oktober 1974, morgens um vier Uhr Ortszeit in Kinshasa. Später der Wiederstand gegen die Startbahn West… Freddy Wohn, 51, blickt am Tag seiner Haftentlassung Jahrzehnte zurück – in eine Zeit, in der Freundschaften, Konflikte, freie Liebe und der Hunger nach Anerkennung sein Leben bestimmten. Mit dem Roman „Alleingang“, für den der Autor mit dem Martha-Saalfeld-Preis 2018 ausgezeichnet wurde, gelingt Stefan Moster (*1964) das Porträt einer Generation, einer Freundschaft, eines Außenseiters, der seinen Platz im links-alternativen Spektrum sucht. Einer, der lieber handelt als redet – und schließlich bereit ist, aus Freundschaft das Äußerste zu tun. (Stefan Moster: Alleingang. 23. März, 19 Uhr, Café Puschkin).

Moderne in Sachsen | Von Elisabeth Buschmann-Berthold, Projektmanagerin Hörbuch, Gemeinschaftsstände kleinere Verlage

Alle reden vom Bauhaus? Ich auch. Schließlich war das Bauhaus eins der Schwerpunktthemen meiner Abschlussprüfung in Kunstgeschichte. Deshalb empfehle ich euch auch die Vorstellung des Bands „Modernes Sachsen. Gestaltung in der experimentellen Tradition des Bauhauses“ (Spector Books). Normalerweise ist Sachsen ja nicht besonders bekannt für avantgardistische Modernität. Dass sich das Hinschauen aber lohnt und man nicht nur im Urbanen fündig wird, zeigt der toll gestaltete Bild-Text-Band sehr gut: Orte der Moderne sind die Fabriken, in denen nach den Vorgaben von Bauhäuslern seriell produziert wurde und wird: Leuchten aus Leipzig, Gläser aus Weißwasser, Möbel aus Hellerau, Textilien aus dem Erzgebirge. Dann natürlich auch die Kunstvereine und Museen in Dresden, Leipzig, Chemnitz oder Zwickau, die mit Ausstellungen von Bauhaus-Künstlern die kulturellen Milieus ihrer Städte mitprägten. Und, natürlich, die Stadtarchitekturen, die – wie in der Leipziger Kolonnadenstraße – in den 60er und 70er Jahren Bezüge zu den Formexperimenten der 20er herstellten. Und sagen wir so: Die Hochschulbibliothek der HTWK, in der das Ganze stattfindet, ist architektonisch durchaus ansprechend geraten (Annette Menting, Walter Prigge, Anne König (Moderation): Modernes Sachsen. 21. März, 20 Uhr, HTWK, Hochschulbibliothek).

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