Als Orte, an denen das literarische Feld summt und brummt, sind Literaturhäuser einst erfunden worden. Nun liegen sie meist im Dornröschenschlaf. Auch am Literarischen Colloquium Berlin (LCB) wird dieser Tage, pandemiebedingt, wieder zwangsentschleunigt im Homeoffice gearbeitet, findet Programm vor allem digital statt. An einem Freitag im März tut sich jedoch etwas im großen Veranstaltungssaal, in dem man durchs weit geöffnete Fenster den Wannsee im Blick hat: An sieben weit entfernt voneinander stehenden Tischen sitzen sieben Damen und Herren vor Kalt- und Heißgetränken, in Griffweite Notizkladden, Tabletts, Bücherstapel und ein wenig Knabberei gegen Unterzuckerung. Ein Gesprächsballett, eine Performance? Alles falsch. Es ist die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse, die hier tagt – nicht als virtuelle Gruppe von Talking Heads am Bildschirm, sondern ganz real, physisch, im richtigen Leben. Ein wunderbarer Moment; analog haben sich die meisten Kritikerkolleginnen und –kollegen über Monate nicht mehr gesehen. Allerdings: „Keiner von uns konnte sich vorstellen, wie man eine zehnstündige Jurydiskussion online stattfinden lassen kann“, sagt Jury-Vorsitzender Jens Bisky. „Wir halten alle Maßnahmen ein, die empfohlen werden und vernünftig sind – von Distanz und Dauerlüftung bis zu vorherigen Tests. Trotz der großen Abstände zwischen den Tischen ist es wie immer: spannend und anstrengend“. Und am Ende, lacht Bisky „gibt’s ein Ergebnis!“
In diesen Tagen ist die Live-Sitzung eher die Ausnahme. Fast alle Mitglieder der Leipziger Buchpreis-Jury sind auch in anderen Preis-Gremien engagiert. Andreas Platthaus hat in den letzten zwölf Monaten analoge wie virtuelle Formate erlebt. Für den F.A.Z.-Literaturchef ist es keine Frage, „dass die Präsenz-Jurysitzungen die weit angenehmeren, informativeren und spannenderen“ sind. Dass die „Sehnsucht nach echten Begegnungen“ wächst, bestätigt auch Anne-Dore Krohn, Literaturredakteurin bei RBB Kultur. „Beim Walter Serner Preis für Kurzgeschichten haben wir unsere Gastjurorin Kathrin Passig aus Schottland zugeschaltet“, erzählt Krohn. „Auch die Preisverleihung hat im Netz stattgefunden, inklusive Barmusik und gemeinsamem Bier.“ Für Katrin Schumacher, Literaturchefin von MDR Kultur, ist die physische Jurysitzung konkurrenzlos: „Irgendwann kommt der Punkt, wo man sich mit Haut und Haar ins Zeug werfen muss für das, was man gut findet und nominiert sehen möchte.“ Für Schumacher, die der Leipziger Buchpreis-Jury zum dritten Mal angehört, ist die gemeinsame Arbeit ein schönes „Trainingscamp“, eine „Schule des Lesens und der Kritik“ auf sehr hohem Niveau, die sie nicht missen möchte. Auch Jury-Arbeit ist vor allem: Arbeit. Doch es ist eine, die alle sieben Jurorinnen und Juroren partout nicht missen wollen: „Sich aussetzen. Kopfüber hineintauchen. Lesen, bis einem die Sätze aus den Ohren rauskommen. So tief wie es nur geht in die Gegenwartsliteratur hineinspringen“ – plastischer als Anne-Dore Krohn kann man es kaum beschreiben: „Bücher sind wie Lebensabschnittsgefährten, man verbringt sehr intensive Stunden miteinander. Durch die Juryarbeit fühle ich mich literarisch gerade so promisk wie lange nicht.“
Ohne Frage hat die seit über einem Jahr währende Pandemie auch die Arbeit der Literaturredakteure und –kritikerinnen verändert. Als die Leipziger Buchmesse im März 2020 abgesagt werden musste, hat etwa MDR Kultur sein gesamtes Bühnenprogramm innerhalb einer Woche in ein digitales Studioprogramm für die gesamte ARD umgeplant: „Wir haben zum allerersten Mal Livestream-Bewegtbild aus einem Radiostudio produziert“, erinnert sich Katrin Schumacher, die damals Non-stop durchmoderierte. Doch als am 15. März alles vorbei war, hörte sie fast schlagartig auf zu lesen; für eine Frau mit ihrem Job eine Grenzerfahrung. „Viele haben im ersten Lockdown gemerkt, dass Lektüre ein Schutzraum sein kann. Bei mir war es genau andersrum: Ich war so beschäftigt mit dem, was da gerade passierte – auch mit mir passierte! – dass ich mich partout nicht auf Bücher fokussieren konnte. Die Zeit, in der alles heruntergefahren wurde, war bei mir eine quasi lesefreie Zeit.“ Längst liegt die hinter ihr. Als im Dezember letzten Jahres die Liste der fast 400 für den Preis der Leipziger Buchmesse eingereichten Titel aufschlug, war die Lust am Lesen so groß wie eh und je.
Egal, ob die Kritikerinnen und Kritiker nun für elektronische oder Printmedien arbeiten – sie haben kaum weniger, eher mehr zu tun als vorher. Andreas Platthaus redigiert die Literaturseiten der F.A.Z. in der Regel vom heimischen Schreibtisch aus, mit der Redaktionsmannschaft über tägliche Videokonferenzen verbunden. Auch Anne-Dore Krohn sendet und arbeitet meistens von zuhause: „Ein Vorteil des Radios ist ja, dass man nicht hört, ob jemand gerade eine Schlafanzughose trägt und das Kind drei Meter daneben mit Kopfhörern ‚Checker Tobi’ guckt. Es ist alles kreativer und lockerer geworden durch die Pandemie, auch bei unseren Konferenzen quaken halt ab und zu Kinder dazwischen oder man geht zur Tür, um ein Paket anzunehmen.“ Als überall im Land Lesereisen gestrichen wurden, hat RBB Kultur eine Kooperation mit dem LCB begonnen, „weiter lesen“ heißt die Sendung. „Das war erst nur als vorübergehende Ersatz-Lesebühne gedacht“, erzählt Krohn, „ist inzwischen aber ein regelmäßiger Podcast geworden. „Hier führen wir jede Woche Gespräche mit Autorinnen und Autoren über ihre aktuellen Bücher, zuletzt mit T.C. Boyle, Ursula Krechel, Dmitrij Kapitelman oder Bernardine Evaristo.“ Was fehlt, ist das „unmittelbare Gespräch“ mit Freunden oder Kollegen, für Andreas Platthaus „eines der zentralen Elemente der Wahrnehmung von Literatur“. Doch auch, wenn er sich in diesen Tagen am Schreibtisch „ein wenig einsamer als nötig“ fühlt, sieht Jens Bisky keinen Grund zur Klage: „Kritikerinnen und Kritiker haben in dieser Pandemie wohl die geringsten Probleme. Da gibt es andere, die vor viel größeren Herausforderungen stehen.“
Während gerade die ersten Mund-Nase-Bedeckungen in TV-Krimis auftauchen, fragt man sich natürlich: Hat sich Corona auch in die allerneueste Literatur eingeschrieben, in die Bücher, die der Leipziger Jury vorliegen? Immerhin bilden sie eine spannende Momentaufnahme des literarischen Lebens der Republik. Über konkrete Titel darf, logisch, kein Sterbenswörtchen verlauten. Doch es ist kein Geheimnis: Ein paar Antworten auf die Pandemie gibt es, vor allem im Sachbuchbereich. Und auch in der Belletristik haben einige Autorinnen und Autoren das Thema beackert. „Wir sind allerdings noch viel zu sehr mitten im Geschehen, um richtig zu begreifen, was vor sich geht“, sagt Jens Bisky. „Auf den großen ‚Wende-Roman’ hat man auch lange gewartet“, ergänzt Katrin Schumacher. „Literatur darf sich Zeit nehmen.“ Das findet auch Anne-Dore Krohn: Den besten Roman über die Napoleonischen Kriege hat wohl Tolstoi geschrieben, mit ‚Krieg und Frieden’. Und das war 30 Jahre später.“