„Wer die Zukunft kennenlernen will, muss 15-Jährige fragen, die alles per Smartphone erledigen“, ist Oliver Samwer, Vorstandsvorsitzender von Rocket Internet und einer der erfolgreichsten deutschen Netz-Unternehmer, überzeugt. In der Tat: Ohne Internet läuft bei Deutschlands Kindern und Jugendlichen nichts mehr. Es ist immer da – wie die Luft zum Atmen. Spätestens im Alter von zehn Jahren sind fast alle im Netz unterwegs – so das Fazit einer aktuellen Studie des Branchenverbands Bitkom. Der Bericht mit dem Titel „Jung und vernetzt – Kinder und Jugendliche in der digitalen Gesellschaft“ stellt fest, dass heute bereits 85 Prozent der 12- bis 13-Jährigen über ein eigenes Smartphone verfügen; die mobile Nutzung des Internets hat sich bei Kindern von 2011 bis 2013 auf 73 Prozent verdreifacht. Dienste wie Google, Wikipedia, YouTube, Facebook, WhatsApp oder Instagram gehören bereits bei den 10-Jährigen zum Alltag. Dreijährige „swypen“ mit den Fingern über Flachbildschirme oder die Cover von Hochglanzmagazinen, Dreikäsehochs hören ihre Lieblings-Tracks per Spotify-Streaming auf dem Schulweg, Jugendliche verabreden sich, von den Erwachsenen unbemerkt, via WhatsApp-Gruppenchats zu Leseaktionen. Oder verschicken über den seit 2014 zu Facebook gehörenden Chatdienst Sprachnachrichten, statt mühsam SMS zu tippen. „Jugendliche, die in ihren Klassenräumen auf interaktiven Whiteboards statt auf Kreidetafeln schreiben, Kleinkinder, die intuitiv Tablets bedienen können, bevor sie Bauklötze aufeinander stapeln, sind nicht mit den Käufergruppen zu vergleichen, die bisher den Buchmarkt bestimmten“, meint Kai Wels, Stabsleiter Digitale Medien und Produktentwicklung beim Berliner Beuth Verlag. Und: „Wer die nachfolgenden Generationen erreichen will, muss ihr mediales Nutzungsverhalten besser verstehen als diese selbst.“ Die „Generation Smartphone“, so Wels, differenziere Content nicht mehr nach den jeweiligen Containern: „Egal ob E-Book, Buch, Zeitung, Magazin, Social Network, Webseite, Blog oder App – für sie ist es am Ende nur ein weiteres Icon auf ihrem Homescreen.“
Neue Chancen für die Leseförderung?
In einer Welt, die uns immer mehr Mobilität und Flexibilität abverlangt, ist elektronisches Lesen zweifellos zukunftsfähig. Leseforscher beobachten indes einen Wandel des Leseverhaltens – es wird flüchtiger, fragmentarischer. Aufbruch in eine neue, aufregende Ära des multimedialen Geschichtenerzählens oder Ende der Gutenberg-Galaxis? „Produzenten und Vermittler sind derzeit gezwungen, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben“, meint Doris Breitmoser, Geschäftsführerin des Arbeitskreises für Jugendliteratur (AKJ), der die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Kinder- und Jugendliteratur schon häufiger in seinem traditionellen Frühjahrs-Symposium zur Leipziger Buchmesse in den Blick nahm. „Dabei herrschen Goldgräberstimmung und Unsicherheit gleichermaßen.“ Während die einen auf größere Freiheiten für die Urheber und neue Ausdrucksformen hofften, fürchteten andere die Aushöhlung des Urheberrechts und das Marktdiktat der großen Konzerne. Während auf der einen Seite neue Chancen für die Leseförderung in Sicht kommen, wird andernorts ums Kulturgut Buch, den Fortbestand von Bibliotheken und Buchhandel gezittert. Zeitgemäße Leseförderung muss die Vielfalt im alltäglichen Medienumgang von Kindern und Jugendlichen aufgreifen, um diese in ihrer Lebenswirklichkeit zu erreichen. Aus Sicht der Stiftung Lesenbergen digitale Medien – von der Kinderbuch-App bis zum enhanced E-Book – immense Chancen, fürs Lesen zu begeistern. Um ihre Potenziale für die Leseförderung besser zu nutzen, hat die Stiftung einen eigenen Entwicklungsbereich „Digitales Lesen“ aufgebaut. Er greift aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung auf, entwickelt neue Modell- und Forschungsprojekte rund um den Einsatz digitaler Medien in der Leseförderung und bietet allen hier Aktiven Unterstützung und Hilfestellung an, etwa in Form von Webinaren, Leseund Medienempfehlungen. Ob es um Wikipedia-Recherchen oder die neuesten Statusmeldungen auf Facebook geht – für die Stiftung ist Lesen im digitalen Zeitalter eine Schlüsselkompetenz, um an Bildung teilzuhaben, Informationen zu bewerten, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Nur konsequent, dass sich auch der „Leipziger Lesekompass“, mit dem die Stiftung Lesen und die Leipziger Buchmesse seit 2012 Orientierungshilfen für Lehrer, Erzieher und Eltern geben, nicht auf Gedrucktes beschränkt: „Wir finden, dass andere Trägermedien teilweise enormes pädagogisches und motivatorisches Potenzial bergen“, meint Sabine Uehlein, Programm-Geschäftsführerin der Stiftung. „Wenn Kinder neben einer guten Geschichte auch etwas über den bewussten Umgang mit neuen Technologien lernen können – umso besser!“
Technologie-Revolution als Chance
Angesichts des sich rasant verändernden Mediennutzungsverhaltens der jungen Zielgruppe tun auch Verlage gut daran, die gegenwärtige Technologierevolution als Chance zu begreifen – und in die Zukunft zu investieren. Dabei lässt sich sogar die Klischeefalle umgehen, digitale Produkte als Sargnagel des gedruckten Buchs zu betrachten. Mit seiner Multimediabibliothek LeYo! hat Carlsen die Brücke zwischen beiden Welten geschlagen: Zu jedem Buch der Reihe gibt es eine kostenlos herunterladbare App, mit der Kinder ab drei Jahren Buchinhalte akustisch, visuell und spielerisch erschließen können. „Mit einer guten Idee“, so Stefan von Holtzbrinck, „kann man auch heute noch sehr, sehr schnell wachsen“. Unterm Dach der Holtzbrinck Holding loten Start-ups neue Ge-schäftsmodelle im digitalen Umfeld aus: Der Flatrate-Dienst skoobe etwa, über den sich zu einem festen monatlichen Preis E-Books ausleihen lassen, oder die Plattform LovelyBooks. skoobe (was rückwärts gelesen das Wort E-Books ergibt), wurde 2010 gegründet, ging zwei Jahre später online und bietet heute mehr als 130.000 Bücher aus rund 1.600 Verlagen an. LovelyBooks setzt auf Lesen als Gemeinschaftserlebnis, den Austausch über Bücher – direkt im E-Book, über Widgets, in Apps oder im Social Web. Das kommt an: Derzeit hat die Plattform rund 165.000 registrierte Mitglieder. Die grenzenlosen digitalen Möglichkeiten im Blick, scheint die Branche von einem regelrechten Experimentierfieber erfasst zu sein. Aber: Wird sich der digitale Markt mittel- und langfristig von rein bestsellergetriebenen Umsätzen emanzipieren, lassen sich auch neue, anspruchsvolle literarische Formate durchsetzen, von denen wir heute noch nichts ahnen?
Experimentierfeld Digitalisierung
Genau dieser Fragestellung geht der 2013 von Matthias Gatza, Ingo Niermann und Henriette Gallus gegründete „Modellverlag“ Fiktion nach. Das von der Bundeskulturstiftung geförderte Projekt will die sich durch die Digitalisierung eröffnenden Chancen für die Wahrnehmung und Verbreitung anspruchsvoller Literatur weiterentwickeln. Dabei setzt Fiktion auf mehreren Ebenen an: Simultan werden deutsch- und englischsprachige E-Books publiziert, die sich nicht nur inhaltlich gängigen Marktkriterien verweigern – die Bücher werden auch kostenlos angeboten. Parallel arbeitet man am Aufbau eines internationalen Autoren-Netzwerks, dem inzwischen so illustre Namen wie Elfriede Jelinek, Douglas Coupland oder Tom McCarthy angehören. Mit Workshops und Kongressen für Autoren, Juristen und Verlagsprofis will Fiktion zudem die Debatte übers Urheberrecht vorantreiben. Für Mitgründer Matthias Gatza, Autor, Lektor und im früheren Leben Print-Verleger, eröffnet die Digitalisierung ein spannendes Experimentierfeld: „Als ich mit 26 Jahren meinen eigenen Verlag hatte, musste ich für jedes Buch 10.000 bis 20.000 Mark ausgeben und dazu noch den Vertrieb finanzieren. Jetzt die Chance zu haben, ästhetischen Übermut ohne diese Kosten in eine lesende Gesellschaft zu spielen, finde ich aufregend.“