Mehr Understatement geht nicht: In Warmbronn, in der schwäbischen Provinz, eine halbe Stunde von Stuttgart entfernt, wo um 1900 der Dichter Christian Wagner lebte und schrieb, findet sich in einem unscheinbaren Bauernhaus mit Scheune der Verlag von Ulrich Keicher. Hier ist alles handgemacht, lange Zeit in Bleisatz und Buchdruck, seit 1996 mit Computersatz und Laserdrucker. Die Verarbeitung – Schneiden, Falzen, Binden – erfolgt seit fast vier Jahrzehnten in der eigenen Werkstatt. Wie wird einer, der in kleinen Verhältnissen aufwuchs („Außer Bibel und Gesangbuch gab es keine Bücher“), zum leidenschaftlichen Bücher-Mensch? Alles Zufall? Oder gibt es so etwas wie bibliophiles Schicksal?
Als junger Sortimenter in der Albert’schen Buchhandlung in Freiburg liefen ihm Größen wie Heidegger, Marie Luise Kaschnitz oder der von Potsdam in die Nähe von Staufen gezogene Peter Huchel über den Weg – für Keicher, Jahrgang 1943, öffnete sich ein literarischer Raum, den er so nicht gekannt hatte. 1973 machte er sich in Warmbronn als Antiquar selbstständig. Den Grundstock bildete eine tolle Expressionismus-Bibliothek, einige tausend Bände, die er im Renault R 4 von Straßburg herüberspedierte. Den eigenen Verlag gründete er im Herbst 1983 auf Schloss Scheer an der Donau, los ging’s mit Herbert Heckmann, Werner Dürrson, Hannelies Taschau und Johannes Poethen.
1986, kurz nach der Rückkehr ins Warmbronner Gehäus’, startete Keicher die legendäre Reihe „Roter Faden“: Schwarze Büchlein im Schulheft-Format, rotes Titelschild, gebunden mit dem titelgebenden roten Faden – Wagenbachs „Quarthefte“ oder Kurt Wolffs Reihe „Der jüngste Tag“ lassen grüßen. Nach 44 Bänden war 1996 mit Matthias Politycki („Der böse Einfluss der Bifi-Wurst“) Schluss. Für Keicher begann die anfangs „ungeliebte Computerzeit“, doch der Qualität seiner Produktion tut das keinen Abbruch. Jedes der zwischen 24 und 40 Seiten starken Hefte hat seine eigene Typografie, dazwischen sind Fotos oder Grafiken einmontiert. Oft gibt es ein farbiges Fontispitz, dass der „Künstler-Verleger“ (Dieter Henrich) selbst einklebt.
Wulf Kirsten, den der Schriftsteller Hermann Lenz (1913 – 1998) persönlich nach Warmbronn empfahl, wurde zum wichtigen Vermittler für viele kritische Geister aus der DDR – vom jungen Lutz Seiler bis zu Volker Braun oder Wolfgang Hilbig. Nachdem Keicher – wie hat er das nur geschafft? – in manchen Jahren an die 20 Titel herausbrachte, sind es heute vier. Mit Bänden von Michael Krüger, Erdmut Wizisla und Heinrich von Berenberg hat eine neue Reihe begonnen, in der Matthias Bormuth Autoren und Verleger ins Gespräch zieht – unter dem Titel „Die Straße ist nicht meine Welt“ erschien hier 2019 auch ein tiefenbohrender Dialog mit Ulrich Keicher. Eine von ihm 2003 bei Wallstein herausgegebene Werkausgabe setzt dem literarischen Außenseiter Christian Wagner ein Denkmal. Im eigenen Haus sorgen derweil immer wieder ungeplante Bücher dafür, dass man dem Verleger seine bald 80 Jahre nicht anmerkt. „Eigentlich wollte ich ja schon aufhören“, sagt er lachend. „Aber nach diesem tollen Preis kann ich das doch nicht bringen.“ In Warmbronn wird also weiter gedruckt, geschnitten, gefalzt und gebunden. Eine Broschur mit Texten des ganz, ganz frühen Kurt Wolff hat die Werkstatt eben verlassen.
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Fotos: © Gerd Schroff (Porträt Ulrich Keicher), Rudi Deuble, Verlag Ulrich Keicher
Das Forum Die Unabhängigen, in normalen Zeiten Messe-Magnet mit halbstündig getaktetem Programm, verlegt die Kurt Wolff Stiftung für Leipzig liest extra in den digitalen Raum; aus dem Lindenfels Westflügel wird gestreamt. Am Samstag, 29. Mai wird die Premiere von „Die Unabhängigen – Spätausgabe“ ab 19.30 Uhr live im Garten des Leipziger Literaturhauses stattfinden: Mit Martina Hefter, Ally Klein, Nastasja Penzar, Amanda Lasker-Berlin, John Sauter und Tilman Spengler lesen sechs Autorinnen und Autoren aus ihren neuen Romanen, Erzählungen und Lyrikbänden. Musik macht die Leipziger Swingband Hot Club d´Allemagne. Der Eintritt ist frei, Anmeldung unter tickets@literaturhaus-leipzig.de.