Ob Migration und Flucht, Rechtsextremismus, die drohende Klimakatastrophe, das Erstarken von Populismus und alternativen Fakten: Immer mehr deutschsprachige Autoren haben sich in den letzten Jahren literarisch zu politischen Themen zu Wort gemeldet – eine Entwicklung, die sich offenbar auch in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur vollzieht. Bereits zur letzten Leipziger Buchmesse nahm der Trendbericht Kinder- und Jugendbuch, den der Arbeitskreis für Jugendliteratur (AKJ), die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (avj), der Börsenverein und die Stiftung Lesen regelmäßig vorlegen, das Thema in den Fokus; dazu veröffentlichten die Buch- und Leseförderer einen gemeinsamen Appell („Demokratie braucht Nachwuchs – Junge Menschen mit Büchern für Politik begeistern“). Auch die letztjährige Arbeitstagung der Gesellschaft für Jugendliteraturforschung in Bad Urach lotete „Politische Dimensionen und ideologische Interferenzen von Kinder- und Jugendliteratur/-medien“ aus.
Zur kommenden Leipziger Buchmesse hebt nun auch das traditionelle AKJ-Symposium auf dem Plan: Unter dem Motto „Politisch positioniert! Engagement und Zeitbezug in aktueller Kinder- und Jugendliteratur“ soll etwa diskutiert werden, welche literarischen Aspekte auf eine engagierte Haltung verweisen – und welche politischen Themen und Erzählformate auf dem Buchmarkt ganz vorn rangieren. „Andererseits kommt niemand, der zum Geburtstag ein Buch verschenken will, mit der Frage ‚Haben Sie was Politisches?‘ in den Laden“, sagt AKJ-Vorsitzender Ralf Schweikart. „Wir wollen mit unserem Symposium noch vorhandene Berührungsängste nehmen und zur Horizonterweiterung beitragen.“ Erreichen möchte man Multiplikatoren wie Buchhändler, Bibliothekare und Lehrer – dass gerade Schulbibliothek oft einen leicht angestaubten „musealen Touch“ haben, ist Schweikart, der die Kinderbuchlandschaft seit vielen Jahren bestens kennt, nur zu bewusst.
Caroline Roeder, die an der PH Ludwigsburg lehrt und das Konzept des Symposiums mit dem AKJ entwickelt hat, verweist darauf, dass politische Positionierungen im Kinder- und Jugendbuch eine längere Geschichte haben: „In der Folge der Studentenbewegung gab es in der Bundesrepublik der 70-er Jahre einen Paradigmenwechsel hin zu ‚problemorientierten’ Titeln; Autoren wie Peter Härtling begannen, sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, seien es Familienprobleme, Arbeitslosigkeit oder die Armut in der (damals noch so genannten) 3. Welt.“ Phantastische Texte wie Michael Endes „Momo“ galten linken Lehrern als eher suspekt. Mit dem von „Harry Potter“ entfachten Fantasy-Boom gab es später die Gegenbewegung. Inzwischen, so meint Roeder, beackerten auch nachwachsende Autorinnen und Autoren im Kinder- und Jugendbuch Themen wie Nationalsozialismus, Erinnerungskultur oder ökologische Probleme, nicht selten mit experimentellem Ansatz. Das gilt auch für Comic-Zeichner wie Reinhard Kleist oder Birgit Weyhe: In seiner Graphic Novel „Der Boxer“ (Carlsen) beschäftigt sich Kleist mit der Geschichte des ins KZ deportierten Juden Hertzko Haft; Birgit Weyhe nähert sich in „Madgermanes“ (avant) den Biographien von mosambikanischen Vertragsarbeitern in der DDR. Und auch in der Fantastik werden längst nicht mehr nur „schöne neue Welten“ ausgemalt – Dystopien sind auf dem Vormarsch. Wenn Themen, die wie die Flüchtlingsproblematik viele bewegen, auch auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt eine veritable Titel-Flut auslösen, stellt sich zudem die Qualitätsfrage […] „ob nicht manches Buch auf der Verkaufswelle mitschwimmen will.“
Das Programm des Leipziger Symposiums reicht vom klassischen Vortrag über eine Lesung und Gespräch mit der Autorin und Sängerin Manja Präkels („Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“) bis zum Blick in die Werkstatt der Comic-Zeichnerin Birgit Weyhe. Spannend dürfte auch die Runde mit den 14- bis 19-jährigen Juroren der Leipziger Jugend-Literatur-Jury werden, die über Tomi Adeyemis Buch „Children of Blood and Bone“ (S. Fischer) diskutieren, eine Fantasy-Geschichte mit ausschließlich schwarzen Protagonisten. „An diesem Format haben wir lange gebastelt“, sagt Roeder. „Es sollten auf jeden Fall Jugendliche dabei sein.“
Abgerundet wird das Symposium mit einer Diskussionsrunde, die nachfragt, inwieweit Engagement und kritischer Zeitbezug auf dem Buchmarkt durchdringen. Erwartet werden neben Johann Ulrich, Gründer des avant-Verlags, der 3sat-Redakteur Michael Schmitt und die Kulturwissenschaftlerin Manuela Kalbermatten, die als Kinder- und Jugendliteraturkritikerin unter anderem für die „Neue Zürcher Zeitung“ arbeitet.
Was erhoffen sich die Organisatoren vom Symposium im März? „Zum einen eine größere Aufmerksamkeit für die Kinder- und Jugendliteratur insgesamt“, sagt Caroline Roeder. „Sie ist zwar längst ein wichtiges Marktsegment – fristet aber in den Diskursen der Medien und im Feuilleton noch immer ein Nischendasein. Und das, obwohl inzwischen immer mehr Erwachsene zu Jugend-Sachbüchern und Fantasy greifen! Zum anderen wünscht sich die Wissenschaftlerin „einen differenzierteren Blick auf Bücher, die, in welcher Form auch immer, Position beziehen. Über manche Themen kann man 2019 eben nicht mehr so schreiben wie noch 1970.“
Fotos: (1) Die Geschichte „Bestimmt wird alles gut“ (Klett Kinderbuch) von Kirsten Boie, übersetzt von Mahmoud Hassanein, und Illustrator Jan Birck ist auf Deutsch und Arabisch erschienen, damit viele Flüchtlingskinder sie auch in ihrer eigenen Sprache lesen können (2) AKJ-Vorsitzender Ralf Schweikart (Foto: AKJ/Sebastian Kissel) (3) Tagungsleiterin Caroline Roeder (Foto: Nelly Rau) (4) Cover der Bücher von Reinhard Kleist (avant) und Tomi Adeyemi (S. Fischer) (5) In der Graphic Novel „Madgermanes“ (avant) nähert sich Birgit Weyhe den Biographien von mosambikanischen Vertragsarbeitern in der DDR (6) Ein All-Age-Bestseller aus dem Verbrecher Verlag: Manja Präkels (Foto: Nane Diehl) und ihr preisgekrönter Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“.