Kein Messe-Trubel, keine Publikumstrauben auf der umlaufenden Galerie, dafür eine Durchsage: „Während der Veranstaltung kommt eine Filmdrohne zum Einsatz. Diese wird nicht über Menschen fliegen.“ Es ist das erste Mal seit März 2019, dass sich der Literaturbetrieb live unterm Rund der Glashalle trifft. „Danke, dass Sie trotz anhaltender Pandemie in Leipzig sind – und ein starkes Zeichen für die Literatur, das Lesen und die Zukunft der Leipziger Buchmesse setzen“, ruft Buchmesse-Direktor Oliver Zille den rund 200 geladenen Gästen zu. Die Preisverleihung fällt in unruhige Zeiten. Europa ist schwer gezeichnet vom Angriffskrieg, den Putins Russland gegen sein Nachbarland führt. Gleich nebenan, in Messehalle 4, in der 2015 schon Asylbewerber und dann 2020/21 das Leipziger Impfzentrum untergebracht waren, sind derzeit Schutzsuchende aus der Ukraine einquartiert. Zille zitiert zu Beginn der Buchpreis-Verleihung ein Gedicht der jungen Lyrikerin Jelena Saslawskaja aus Luhansk.
Wenn Juryvorsitzende Insa Wilke nach den Kriterien für preiswürdige Bücher gefragt wird, fällt oft das Leitwort „herausragend“. Die 15 Nominierten sind das, die drei Sieger-Titel erst recht. Die Literaturkritikerin erinnert an ihren ewig zurückliegenden Besuch beim georgischen Schriftsteller und Philosophen Giwi Margwelaschwili. Der sprach mit ihr in seiner Zweiraum-Plattenbauwohnung zwischen Prenzlauer Berg und Wedding über die Beschreibung der Welt als geschlossenen Text – für Wilke eine klaustrophobische Vorstellung. Wie, bitte, soll man da noch handeln? „Schau mal nach, wo die Lücken sind, Mädchen“, sagte der Berliner Georgier trocken, „immer in die Pünktchen rein!“ Auch für Insa Wilke und ihre Jury-Kollegen und Kolleginnen dreht sich vieles um die „Lücke im Text“. Die preisgekrönten Titel, erstmals alle aus Independent-Verlagen, gehen genau dahin, mit ihren je eigenen Fragen, „verletzlich und offen“ und auf den ersten Blick nicht unbedingt passgerecht für die jeweilige Kategorie. Da werden Genres ausgetestet, spielerisch und doch formbewusst; das Lesepublikum kann tatsächlich noch Entdeckungen machen.
Die prominenteste Preisträgerin ist wohl Anne Weber; mit ihr hat in der Kategorie Übersetzung jene Autorin die Nase vorn, die 2020 für ihr Buch „Annette, ein Heldinnenepos“ den Deutschen Buchpreis gewann – die in Versform verfasste Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir (1923-2022). Indem die Leipziger Jury nun Webers Übersetzung von Cécile Wajsbrots Roman „Nevermore“ (Wallstein) auszeichnet, würdigt sie die Kunst des Übersetzens an sich: Weber hat hier die kunstvolle Geschichte einer Übersetzerin übersetzt, die dabei ist, Virginia Woolfs „To the Lighthouse“ zu übertragen. Meta-Fiction vom Feinsten. „Das Übersetzen ist geradezu das Gegenteil von Nevermore, von Nie wieder, sagt Anne Weber auf der Glashallen-Bühne. „Es ist ein again und again und again – der Inbegriff des Unvollendbaren.“
Im Sachbuch-Bereich votiert die Jury für Uljana Wolfs autobiografischen Essay-und-Reden-Band „Etymologischer Gossip“ (kookbooks) – den sich Juror Andreas Platthaus auch in den beiden anderen Kategorien als würdigen Sieger hätte vorstellen können: „Ein Sachbuch über das Übersetzen von Lyrik!“ Wolf, bislang als Lyrikerin und Übersetzerin bekannt, verschmilzt das klassische Sachbuchwort „Essay“ mit der englischen Vokabel für „vermuten“ (to guess) zum „Guessay“ – weil sie eine Zweifelnde, eine stets Suchende ist. Unzweifelhaft ist auch diese „fröhliche Sprachwissenschaft“ vom langjährigen Kookbooks-Gestalter Andreas Töpfer in eine großartige Form gebracht worden – „ein Kunststück additiver Ästhetik“, lobt Platthaus. Für Uljana Wolf, der Jubel entgegenbrandet, als ihr Name aus dem Umschlag gezogen wird, ist Lyrik stets „Hören auf das Nachbarwort“, das immer – aber besonders in Kriegszeiten – „auf der eigenen Zunge liegt“.
Als Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung den 1974 in Israel geborenen, seit 2012 in Berlin lebenden Tomer Gardi und dessen Roman „Eine runde Sache“ als Gewinner der Belletristik-Kategorie verkündet, ist der Autor – buntes, weit aufgeknöpftes Hemd und breites Lachen – immerhin für einen Moment perplex. Auch dieses Buch ist ein Hybrid: Ein Teil erzählt in einer gebrochenen deutschen Kunstsprache („broken german“) davon, wie ein jüdischer Autor durch einen deutschen Wald gejagt wird. Der andere, auf Hebräisch geschriebene, von Anne Birkenhauer übersetzte handelt vom Leben des indonesischen Malers Raden Saleh (1811-1880) und wie es diesen im 19. Jahrhundert von Java nach Europa und retour verschlägt. „Alles, was ich zu sagen habe, steht in dem Buch“, meint Gardi. Um dann doch noch ein „Wort der Solidarität“ in die Ukraine zu schicken: „Und, ich sage das als israelischer Staatsbürger, ich richte es auch an die Menschen in Palästina, die unter Besatzung leiden. Und an die Menschen woanders in der Welt, die von Staatsterror betroffen sind.“ Unvergesslich ist der Moment auch für Gardis Verlegerin Annette Knoch vom Droschl Verlag. 2020 saß sie in Graz vorm Computer und sah aus der Ferne, wie das schreckstaunende Gesicht der Gewinnerin Iris Hanika („Echos Kammern“) als Social-Media-Meme viral ging. Nun, bei der gänzlich unerwarteten „Titelverteidigung“, kann sie ihren Autor live herzen.
Insa Wilke verneigt sich, mehr als eine schöne Geste, im Namen ihrer Jury-Kolleginnen und Kollegen vor der „Klugheit und Herzensstärke“ aller Nominierten – und bedankt sich für deren Bücher. „Lesen Sie!“ wird sie dem Publikum in der Glashalle und allen Lauschenden im Livestream später zurufen. Leipzig und die Literatur sind höchst lebendig. Man sieht sich – zur 18. Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse im März 2023.
Ausführliche Informationen zu Tomer Gardi, Anne Weber und Uljana Wolf sowie ein Video der Preisverleihung am 17. März 2022 finden Sie hier.