Als Britta Jürgs 1997 ihren Verlag gründete, tat sie es wegen Büchern, die sie selbst vermisste: Texte von und über Autorinnen, Journalistinnen, bildenden Künstlerinnen oder Filmemacherinnen vor allem aus dem 1920er und 1930er Jahren, starke Frauen allesamt, nicht wenige davon jüdisch. Gut zwanzig Jahre war es da her, dass der Stern-Journalist Jürgen Serke mit einer achtteiligen Serie über „Die verbrannten Dichter“ in der alten Bundesrepublik Furore machte. Die damals 66jährige Irmgard Keun etwa spürte Serke in einer Bonner Dachkammer auf, es war der Beginn zahlreicher Wieder- und Neuentdeckungen. Dennoch waren, als Britta Jürgs begann, noch viele Schätze zu heben. Wieso der Blick zurück, wo junge Verlags-Startups heute oft aufs neueste vom Neuen fliegen? „Ich habe gemerkt“, so Jürgs, „dass diese Frauen absolut modern sind, gar nicht so weit von uns und unseren Erfahrungen entfernt, wie man vermuten könnte. Ich war überzeugt, dass sie auch anderen viel zu sagen haben.“ AvivA nennt sie ihren Verlag – wie Frühling auf Hebräisch und mit einer schönen Symmetrie aus großem „A“ vorn und hinten. „Viva, das Leben, steckt auch drin“, ergänzt Jürgs lachend.
In diesem Jahr feiern gleich mehrere der bei AvivA wiederentdeckten Frauen runde Geburtstage. Von der vor 120 Jahren in Berlin geborenen Ruth Landshoff-York, einer Nichte des Verlegers Samuel Fischer, die in Murnaus „Nosferatu“ mitwirkte und 1937 in die USA emigrieren musste, erschienen bislang sechs Bücher. Ebenfalls 120. Geburtstag würde die in Wien geborene Lili Grün feiern, die in den Roaring Twenties zur Berliner Kabarett-Szene gehörte und ihre Erlebnisse in dem Roman „Alles ist Jazz“ verarbeitete. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und sofort nach ihrer Ankunft im weißrussischen Maly Trostinec ermordet.
„Die Bräutigame der Babette Bomberling“, ein Roman von Alice Berend (1875-1938), 1915 bei S. Fischer erschienen, hatte es einst zu einiger Berühmtheit gebracht – Britta Jürgs fand das Buch in einem Antiquariat, las begeistert und begann, zur Autorin zu recherchieren: Die 1875 geborene Schwester der Malerin Charlotte Berend-Corinth veröffentlichte vor allem zwischen 1910 und 1920 zahlreiche Romane, die in Auflagen von mehreren hunderttausend Exemplaren erschienen und ihr den Ruf eines „weiblichen Fontane“ einbrachten. Auch Berend musste 1933 vor den Nazis fliehen und starb mittellos in Italien.
Romane, Biografien, Feuilletons, Reiseberichte: In 26 Jahren ist die Backlist des in einer parkettknarzenden Altbauwohnung in Moabit residierenden Verlags auf rund 120 Titel angewachsen, pro Jahr kommen rund acht neue dazu. So ist, wie es in der Jurybegründung zum Kurt Wolff Preis heißt, „quer durch die Epochen, Kontinente und Genres eine kleine Universalbibliothek entstanden“. Britta Jürgs ist, Hand in Hand mit großartigen Fachleuten fürs Übersetzen, Edieren und Nachwortschreiben, längt weiter durch Zeiten und Sprachräume geeilt. „Alle Frauen müssten gemeinsam Blumen auf Aphra Behns Grab streuen“, befand schon Virginia Woolf. Heute gilt die englische Autorin Aphra Behn (1640 – 1689) als Ikone der feministischen Literatur. Doch ihr Werk ist Geheimtipp geblieben. Mit Hilfe des Herausgebers und Übersetzers Tobias Schwartz hat AvivA das geändert. Ursprünglich war ein Band geplant, doch da Behns Werk quer durch alle Genres geht, hat sich Jürgs entschieden, die 620 Seiten auf zwei Bände aufzuteilen – und dem Ganzen einen schmucken Schuber zu spendieren, auch wenn der heute fast so teuer sein kann wie ein Buch. „Das ist meine große Freiheit“, sagt Britta Jürgs. Ihre älteste Autorin ist Christine de Pizan. Ihr „Buch von der Stadt der Frauen“, ein Beispiel früher feministischer Literaturkritik, erschien 1404 – noch vor dem Buchdruck!
Seit 2012 erscheint, zwei Mal im Jahr zu den Buchmessen, die 1986 gegründete Rezensionszeitschrift Virginia Frauenbuchkritik bei Aviva. Jürgs ist eine der Herausgeberinnen – und betreut unter anderem die Krimi-Rubrik. Was ihr Gelegenheit gibt, jenseits des eigenen Verlags-Kosmos’ zu lesen. Dort hat sich ihre Krimi-Leidenschaft noch nicht niedergeschlagen – nicht schlimm, findet Jürgs: „Ich lese ja auch zeitgenössische Literatur. Und, ja: Bücher von Autoren.“ Die Netzwerkerin und Aktivistin, die ihren Verlag zum 20. Geburtstag in zwanzig unabhängigen Buchhandlungen vorgestellt hat („Ein Kraftakt!“), setzt sich auch nach ihrer Zeit als Vorstandsvorsitzende der Kurt Wolff Stiftung für die Belange der Indies ein – derzeit etwa für eine strukturelle Verlagsförderung, die angesichts der aktuellen Geldsorgen der Ampel wieder einmal im Verschiebe-Modus gelandet ist. „Wir haben schon viel erreicht“, meint Britta Jürgs. „Aber es ist noch Luft nach oben.“