„Go West!“ lautet die Parole im Nachwende-Leipzig 1990. Ein junger Mann aber macht sich Hals über Kopf in die Gegenrichtung auf. Er landet im Kopfbahnhof der Messestadt, deren Revolutionsbilder eben noch um die Welt gingen. Und auch jetzt ist Leipzig im Ausnahmezustand: Montagsdemo und Karneval an einem Tag. Thorsten Palzhoff hat sich intensiv mit den turbulenten Wochen nach der Wende beschäftigt – entstanden ist jedoch kein Sachbuch, sondern ein Roman, der in opulenten Bildern von einem kurzen historischen Moment erzählt, in dem das Wörtchen „alternativlos“ noch nicht erfunden war. Felix, der Hauptprotagonist, und seine neue Freundin Nica lernen ein Leipzig der Revolutionäre, Untergrundzeitschriften-Herausgeber und Idealisten kennen. Auch eines der West-Manager auf der Suche nach Ost-Schnäppchen. Sie übernachten in besetzten Connewitzer Häusern und leeren Wohnungen. Und dann ist in Leipzig auch noch Buchmesse – im März 1990 ein letztes Mal als Teil der Frühjahrsmesse, damals noch im Messehaus am Markt.
Lange Reifezeit
Thorsten Palzhoff, 1974 in Wickede, im Herzen der alten Bundesrepublik geboren, war im Frühjahr 1990 gerade einmal 15 Jahre alt. Mitte der 1990er Jahre zog er nach Berlin, studierte Literatur- und Musikwissenschaften – die Liebe zur Literatur, zum Schreiben, hielt er im Stillen am Köcheln. Sein Outing war die Bewerbung für die Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquium Berlin (LCB), seit vielen Jahren Projektpartner der Leipziger Buchmesse. Er wurde angenommen, 2006 erschien sein Debüt, der Erzählband „Tasmon“ bei Steidl. Jede der drei langen Geschichten handelt vom Verschwinden, von Verlusten – und davon, wie mit Worten Leerstellen geschlossen werden können. Bereits die Titelerzählung kreist um die deutsch-deutsche Vergangenheit und das Drama einer Flucht aus der DDR. Die Kritik rühmte die sprachliche Präzision ebenso wie die Sorgfalt der Komposition und den getragenen, weit ausgreifenden Erzählton des damals 32-jährigen Autors. Attribute, die zweifellos auch auf Palzhoffs ersten Roman „Nebentage“ zutreffen, der nun – ein volles Jahrzehnt nach dem literarischen Debüt – erschienen ist. Eine ungewöhnliche lange Zeitspanne zwischen zwei Büchern, zumindest für unsere schnelllebige Zeit. Doch das Warten hat sich gelohnt.
Wie hat das gerochen?
Palzhoff zeichnet das Leipzig des Frühjahrs 1990 in ungemein dichten Bildern: Die Dunstglocke aus schwefligem Braunkohlerauch und den Abgasen der Zweitakter, die alten Fassadenaufschriften, tote Hauseingänge. Der Westfale hat sich das Terrain akribisch angeeignet: Durch Lektüre, eine bald ausufernde Materialsammlung, Streifzüge mit der eigenen Kamera. „Anfangs“, sagt Palzhoff, „habe ich einen wahrscheinlich klassischen Fehler, gerade für das zweite Buch, begangen: Ich habe zu viel recherchiert! Man hat das Setting im Kopf – und dann muss man vergessen lernen.“ Neben den nüchternen Fakten brauche es allerdings auch eine gehörige Prise Empathie: „Man muss als Schriftsteller ja probieren, sich auch vorzustellen: Wie hat das gerochen? Man schnappt kleine Details auf, etwa, dass alle öffentlichen Gebäude im Winter überheizt waren. Das speichert man irgendwo ab und kann es dann abrufen beim Schreiben. Solche Dinge sorgen für eine Grundatmosphäre, die irgendwann einfach da ist.“ Die mitunter überbordende Handlung seines Romans bändigt Palzhoff mit vollendetem Formbewusstsein. Er mag das Vexierspiel, doch hält er es weniger mit der Postmoderne als etwa mit den Erzählern der Frühromantik. „Ein Buch soll lesbar bleiben, bei allem, was an literarischen Techniken und Kniffen aufgewendet wird.“ Nabokov, den er erst relativ spät für sich entdeckt hat, schätzt Thorsten Palzhoff sehr. Und – überraschend für einen seiner Generation – den frühen Grass der „Danziger Trilogie“.
Leben und Literatur
Was dem Autor Thorsten Palzhoff auf dem langen Weg zum ersten Roman widerfuhr, trägt selbst schon romanhafte Züge. Mit einem Fragment von 100 Seiten hatte er sich 2013 in ein kleines münsterländisches Dorf zur Schreib-Klausur zurückgezogen. „Ich saß am Beginn des zweiten Teils, Rosenmontag in Leipzig, Montags-Demo, die beiden Hauptpersonen Felix und Nica werden ein Paar. Und es war zufällig Februar im Münsterland, Karneval also.“ Der Autor wollte seine Schreib-Höhle verlassen, um am dörflichen Karnevals-Umzug ein paar Eindrücke zu sammeln. „Am Ende des Tags war ich nicht mit Nica, aber mit Nina zusammen. Und plötzlich war der Roman ein bisschen Teil meines Lebens.“ Thorsten Palzhoff folgt seiner neuen Freundin, einer niederländischen Autorin und Zeichnerin, in deren Heimat, ans Meer. In den folgenden fünf Jahren erlebten die beiden sechs Ortswechsel. „Nina brachte zwei Söhne und einen Roman zur Welt, während mein Manuskript auf einen Umfang von 600 Seiten anschwoll.“
Ein neues Kapitel
Im Februar ist Thorsten Palzhoff mit seiner Frau und den beiden Söhnen von Groningen nach Berlin umgezogen. In der hellen Wohnung am Rand des Prenzlauer Bergs riecht es noch nach Farbe, die einzige deutsch-niederländische Kita ist nur einen Steinwurf entfernt. Ein neues Kapitel im Lebens-Roman. Wenige Wochen später fährt er mit seinen auf gut 300 Seiten abgespeckten „Nebentagen“ zur Buchmesse. Auftritt bei der „Langen Leipziger Lesenacht“ in der Moritzbastei, ein wenig Lampenfieber hat er nun doch. Zu DDR-Zeiten ging man auf die Buchmesse, um durch ein Fenster ins gelobte Land zu sehen. Doch im verstörend neuen Ãœberangebot des Frühjahrs 1990 wird für Palzhoffs Protagonisten das Ritual des Bücherklaus fade. Wenn selbst Freaks wie der bärtige Bürgerrechtler Dietrich aus Connewitz auf der Buchmesse keine Bücher mehr klauen, heißt es im Roman, „dann muss es wirklich schlecht um die DDR stehen“. Geschwächelt hat bis 1991 auch die zweite, kleinere deutsche Buchmesse. Doch 1992 lesen 100 Autoren an 150 Orten, von den kanonenofenbefeuerten Werkstatträumen der Galerie Eigen+Art in Connewitz bis zum ersten Bio-Laden der Noch-DDR. Es ist die Geburtsstunde von „Leipzig liest“, eine Erfolgsgeschichte, wie wir heute wissen. Vielleicht sollte einer wie Thorsten Palzhoff darüber einen Roman schreiben?