Im Westen was Neues! Auf der Georg-Schwarz-Straße, zwischen dem alten Arbeiterviertel Lindenau und dem angrenzenden Leutzsch, atmet fast jeder Pflasterstein Geschichte: Hier, wo die Tram-Linie 7 entlangrumpelt, erinnern Jugendstilfassaden und verblasste Schriftzüge an einst florierende Geschäfte, Gaststätten oder Kinos – weniger an die soziale Not der Gründerzeit oder aufmüpfige Jugend-Meuten, die gegen das NS-Regime opponierten. Nach 1989 drohte das unangepasste, zu DDR-Zeiten immer grauer gewordene Viertel jedoch endgültig den Anschluss zu verlieren. Längst hat die wundersame Wandlung des Leipziger Westens vom Problem-Kietz zum Trendquartier auch die Georg-Schwarz-Straße erreicht: Ein Biotop für Lebenskünstler, Studenten und junge Familien auf der Suche nach günstigem Wohnraum ist sie geworden. Vieles ist hier in Bewegung, fast alles möglich – sogar eine eigene Internetseite. Getragen werden die Aktivitäten von einem Netzwerk lokaler Akteure: Das Magistralenmanagement, dazu Bürgervereine oder sozio-kulturelle Initiativen, die alte Häuser selbst in Schuss bringen und neu beleben. Die urbane Ideenwerkstatt „kunZstoffe“, die Künstlern, Manufakturisten und Handwerkern Räume für kreatives Arbeiten zur Verfügung stellt. Das „hinZundkunZ“, das in einem selbst renovierten ehemaligen Uhren- und Schmuckgeschäft zu Konzerten, Lesebühnen und Filmabenden einlädt. Das Kinderbüro „Tüpfelhausen“, aus einem Familienportal entstanden. Der „Wollzirkel“ einer Modedesignerin oder die „Autodidaktische Initiative“, die auch Deutschkurse für Migrantenfamilien anbietet. Im Mai, wenn in den grünen Höfen, vor den Läden und Lokalen der wieder wachgeküssten Schönen das Georg-Schwarz-Straßenfest swingt, mit Live-Bands, Bratwurst und veganer Schoko-Tarte, trifft man sie alle. Mit der Reihe „westwärts“ hat seit 2012 auch „Leipzig liest“ den Sprung in das immer bunter werdende Viertel gewagt. Ob Krimis im Büro des Bürgervereins, junge Dichter im „Café Schwarz“ oder ein Abend über Leipzigs „Lost Places“ in einem der selbstverwalteten Projekte-Häuser – zu den mehr als ein Dutzend Veranstaltungen kommt das Publikum längst nicht mehr nur aus der Nachbarschaft. Einmal mehr erweisen sich die vier Tage im März als Inspirationsquelle und Mutmacher für neue, spannende Ideen. Davon haben am Ende alle etwas: Kietz-Akteure, Büchermacher – und neugierige Leser.
Das Foto von Karen Lemme ist dem wunderbaren Georg-Schwarz-Straßen-Blog entnommen, den die Studentin Helena Mohr von Juni 2012 bis November 2013 betrieb. www.georgschwarzstrasse.wordpress.com
Grenzüberschreitungen Die Geschichte der naTo handelt vom mutigen Ausloten kultureller Freiräume – und sie beginnt 1982 mit einer heute fast wundersam anmutenden freundlichen Übernahme. Bis dahin hat der Geist der Ulbricht-Ära noch immer wie Mehltau über dem Saal des Kulturhauses „Nationale Front“ in der Leipziger Südvorstadt gelegen: Tanzstunden, Seniorennachmittage und Schachklub; einmal pro Woche hält der ABV, eine Art Stadtteilpolizist, seine Sprechstunde ab. Auch Reisepässe und Devisen werden im schummrigen Ambiente an westreisende Rentner ausgereicht, ein absurdes Ritual. Und nun? Fast über Nacht avanciert das Haus, von der Stasi misstrauisch beäugt, mit Lesungen, nächtlichem Jazz und genreübergreifenden Happenings zum Ort der Alternativkultur. Neben der offiziellen Bezeichnung kursiert in der Szene bald der Spitzname naTo. Ein Wortwitz, der sich nicht auf Anhieb erschließt – vermuten wir ein kleines Stück Anarchie in einem Land, das Mitglied im Warschauer Pakt ist. Die naTo wird zum Forum für junge Experimentalkünstler, Theaterprojekte, Dichter mit Auftrittsverbot, die Jazz-, Rock- und Punkszene. Unvergessen die mit Judy Lübke, dem Galeristen der Eigen+Art, eingefädelte, offiziell als „Faschingsveranstaltung“ deklarierte Verleihung des unabhängigen Kunstpreises „Prix de Jagot“. Grandios die Auftritte des „Front-Theaters“ mit Peter Turrinis „Rattenjagd“. Irrwitzig das Titanicfest, das am 30. Juni 1990 das monetäre Ende der DDR besiegelt. Der alte Schriftzug „Nationale Front“ ist von der Fassade verschwunden. Doch noch immer beweist die naTo, dass die Grenzen zwischen Musik und Theater, Profis und Amateuren, Avantgarde und Volksfest fließend sein können – ob mit den legendären Badewannen- und Seifenkisten-Rennen oder der Weltpremiere einer Band wie Rammstein. Neben Musik, Filmkunst und Off-Theater hat sich die naTo, gerade in Buchmesse-Zeiten, längst auch als wichtiger Literatur-Veranstaltungsort etabliert. Dabei blicken die Programm-Macher gern über den eigenen Tellerrand hinaus: Länder-Specials wie die Nordische Literaturnacht sind Highlights im „Leipzig liest“-Programm. Egal, ob Ost, West, Nord oder Süd: Die Mutter aller Kulturkneipen ist immer für eine literarische Weltreise gut. Immer geht es um spannende Autoren, um packende Geschichten. Wetten, dass das Licht in der naTo, wie vor 30 Jahren, erst gegen Morgen ausgeht?
Der Band „30 Jahre naTo“ (Passage Verlag, Leipzig 2012) bietet in persönlichen Erinnerungen, Anekdoten und hunderten Fotos und Fundstücken eine beeindruckende Zeitreise durch die Geschichte dieses besonderen Kulturortes.
naTo, Karl-Liebknecht-Straße 46
Im Schatzhaus der Bücher Martin Walser hat hier seinen Geburtstag gefeiert, Michael Krüger und Josef Haslinger lasen aus dem Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard. Ob intime Runden im Fürstenzimmer oder großes Kino mit Margret Atwood, Dave Eggers, Christian Kracht, Franz Xaver Kroetz – Abende in der Bibliotheca Albertina sind Sternstunden im an Höhepunkten nicht eben armen Programm von „Leipzig liest“. Wenn es in den prächtigen, bis auf den letzten Platz gefüllten Lesesälen, in denen tagsüber gelernt, geforscht, vielleicht auch geträumt wird, mucksmäuschenstill wird, wenn sich das Haus der Bücher in eine pulsierende Bühne der Literatur verwandelt – dann schlägt die Bibliothek lesende Autoren und Publikum gleichermaßen in Bann. Die Halbmillionenstadt Leipzig verfügt über eine lebendige Bibliothekslandschaft, um die sie mancher beneidet – doch die Albertina ist ein besonderer Glücksfall. Rund 64 Millionen Euro flossen von 1992 bis 2002 in den Wiederaufbau der Bibliothek. Nach zehn Jahren waren 31.000 Quadratmeter benutzbar gemacht, 750 moderne Arbeitsplätze geschaffen und 240.000 Werke in Freihand aufgestellt – auch dort, wo vorher Kohlen unter freiem Himmel lagerten. Und die Zeit steht nicht still: Mehr und mehr entwickeln sich wissenschaftliche Bibliotheken zu Lernorten, in denen weniger gelesen als konzentriert geschrieben wird. Die Nutzer erwarten heute lange Öffnungszeiten und unterschiedlichste Arbeitsplatzqualitäten – bis hin zum Eltern-Kind-Raum. Im Frühjahr eröffnen eine Lese-Lounge mit Café und ein neuer, großer Vortragsraum mit 250 Plätzen. Mit einem attraktiven Veranstaltungs-und Ausstellungsprogramm ist die Bibliotheca Albertina ein Kultur-Ort für alle Leipziger, nicht nur für Studierende und Wissenschaftler. Wer den Zauber des Hauses an einem Messeabend gespürt hat, kommt wieder.
Universitätsbibliothek Leipzig, Bibliotheca Albertina, Beethovenstraße 6
Bildquelle: Karen Lemme, Nato, Universitätsbibliothek Leipzig