Autor: Nils Kahlefendt

Magische Orte
19. Dezember 2014
An mehr als 400 Spielstätten wird im März gelesen, diskutiert und gefeiert. Drei Messe-Hotspots im Porträt
Autor: Nils Kahlefendt

Magische Orte
19. Dezember 2014
An mehr als 400 Spielstätten wird im März gelesen, diskutiert und gefeiert. Drei Messe-Hotspots im Porträt

Im Westen was Neues! Auf der Georg-Schwarz-Straße, zwischen dem alten Arbeiterviertel Lindenau und dem angrenzenden Leutzsch, atmet fast jeder Pflasterstein Geschichte: Hier, wo die Tram-Linie 7 entlangrumpelt, erinnern Jugendstilfassaden und verblasste Schriftzüge an einst florierende Geschäfte, Gaststätten oder Kinos – weniger an die soziale Not der Gründerzeit oder aufmüpfige Jugend-Meuten, die gegen das NS-Regime opponierten. Nach 1989 drohte das unangepasste, zu DDR-Zeiten immer grauer gewordene Viertel jedoch endgültig den Anschluss zu verlieren. Längst hat die wundersame Wandlung des Leipziger Westens vom Problem-Kietz zum Trendquartier auch die Georg-Schwarz-Straße erreicht: Ein Biotop für Lebenskünstler, Studenten und junge Familien auf der Suche nach günstigem Wohnraum ist sie geworden. Vieles ist hier in Bewegung, fast alles möglich – sogar eine eigene Internetseite. Getragen werden die Aktivitäten von einem Netzwerk lokaler Akteure: Das Magistralenmanagement, dazu Bürgervereine oder sozio-kulturelle Initiativen, die alte Häuser selbst in Schuss bringen und neu beleben. Die urbane Ideenwerkstatt „kunZstoffe“, die Künstlern, Manufakturisten und Handwerkern Räume für kreatives Arbeiten zur Verfügung stellt. Das „hinZundkunZ“, das in einem selbst renovierten ehemaligen Uhren- und Schmuckgeschäft zu Konzerten, Lesebühnen und Filmabenden einlädt. Das Kinderbüro „Tüpfelhausen“, aus einem Familienportal entstanden. Der „Wollzirkel“ einer Modedesignerin oder die „Autodidaktische Initiative“, die auch Deutschkurse für Migrantenfamilien anbietet. Im Mai, wenn in den grünen Höfen, vor den Läden und Lokalen der wieder wachgeküssten Schönen das Georg-Schwarz-Straßenfest swingt, mit Live-Bands, Bratwurst und veganer Schoko-Tarte, trifft man sie alle. Mit der Reihe „westwärts“ hat seit 2012 auch „Leipzig liest“ den Sprung in das immer bunter werdende Viertel gewagt. Ob Krimis im Büro des Bürgervereins, junge Dichter im „Café Schwarz“ oder ein Abend über Leipzigs „Lost Places“ in einem der selbstverwalteten Projekte-Häuser – zu den mehr als ein Dutzend Veranstaltungen kommt das Publikum längst nicht mehr nur aus der Nachbarschaft. Einmal mehr erweisen sich die vier Tage im März als Inspirationsquelle und Mutmacher für neue, spannende Ideen. Davon haben am Ende alle etwas: Kietz-Akteure, Büchermacher – und neugierige Leser.

Das Foto von Karen Lemme ist dem wunderbaren Georg-Schwarz-Straßen-Blog entnommen, den die Studentin Helena Mohr von Juni 2012 bis November 2013 betrieb. www.georgschwarzstrasse.wordpress.com

Grenzüberschreitungen Die Geschichte der naTo handelt vom mutigen Ausloten kultureller Freiräume – und sie beginnt 1982 mit einer heute fast wundersam anmutenden freundlichen Ãœbernahme. Bis dahin hat der Geist der Ulbricht-Ära noch immer wie Mehltau über dem Saal des Kulturhauses „Nationale Front“ in der Leipziger Südvorstadt gelegen: Tanzstunden, Seniorennachmittage und Schachklub; einmal pro Woche hält der ABV, eine Art Stadtteilpolizist, seine Sprechstunde ab. Auch Reisepässe und Devisen werden im schummrigen Ambiente an westreisende Rentner ausgereicht, ein absurdes Ritual. Und nun? Fast über Nacht avanciert das Haus, von der Stasi misstrauisch beäugt, mit Lesungen, nächtlichem Jazz und genreübergreifenden Happenings zum Ort der Alternativkultur. Neben der offiziellen Bezeichnung kursiert in der Szene bald der Spitzname naTo. Ein Wortwitz, der sich nicht auf Anhieb erschließt – vermuten wir ein kleines Stück Anarchie in einem Land, das Mitglied im Warschauer Pakt ist. Die naTo wird zum Forum für junge Experimentalkünstler, Theaterprojekte, Dichter mit Auftrittsverbot, die Jazz-, Rock- und Punkszene. Unvergessen die mit Judy Lübke, dem Galeristen der Eigen+Art, eingefädelte, offiziell als „Faschingsveranstaltung“ deklarierte Verleihung des unabhängigen Kunstpreises „Prix de Jagot“. Grandios die Auftritte des „Front-Theaters“ mit Peter Turrinis „Rattenjagd“. Irrwitzig das Titanicfest, das am 30. Juni 1990 das monetäre Ende der DDR besiegelt. Der alte Schriftzug „Nationale Front“ ist von der Fassade verschwunden. Doch noch immer beweist die naTo, dass die Grenzen zwischen Musik und Theater, Profis und Amateuren, Avantgarde und Volksfest fließend sein können – ob mit den legendären Badewannen- und Seifenkisten-Rennen oder der Weltpremiere einer Band wie Rammstein. Neben Musik, Filmkunst und Off-Theater hat sich die naTo, gerade in Buchmesse-Zeiten, längst auch als wichtiger Literatur-Veranstaltungsort etabliert. Dabei blicken die Programm-Macher gern über den eigenen Tellerrand hinaus: Länder-Specials wie die Nordische Literaturnacht sind Highlights im „Leipzig liest“-Programm. Egal, ob Ost, West, Nord oder Süd: Die Mutter aller Kulturkneipen ist immer für eine literarische Weltreise gut. Immer geht es um spannende Autoren, um packende Geschichten. Wetten, dass das Licht in der naTo, wie vor 30 Jahren, erst gegen Morgen ausgeht?

Der Band „30 Jahre naTo“ (Passage Verlag, Leipzig 2012) bietet in persönlichen Erinnerungen, Anekdoten und hunderten Fotos und Fundstücken eine beeindruckende Zeitreise durch die Geschichte dieses besonderen Kulturortes.

naTo, Karl-Liebknecht-Straße 46

Im Schatzhaus der Bücher Martin Walser hat hier seinen Geburtstag gefeiert, Michael Krüger und Josef Haslinger lasen aus dem Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard. Ob intime Runden im Fürstenzimmer oder großes Kino mit Margret Atwood, Dave Eggers, Christian Kracht, Franz Xaver Kroetz – Abende in der Bibliotheca Albertina sind Sternstunden im an Höhepunkten nicht eben armen Programm von „Leipzig liest“. Wenn es in den prächtigen, bis auf den letzten Platz gefüllten Lesesälen, in denen tagsüber gelernt, geforscht, vielleicht auch geträumt wird, mucksmäuschenstill wird, wenn sich das Haus der Bücher in eine pulsierende Bühne der Literatur verwandelt – dann schlägt die Bibliothek lesende Autoren und Publikum gleichermaßen in Bann. Die Halbmillionenstadt Leipzig verfügt über eine lebendige Bibliothekslandschaft, um die sie mancher beneidet – doch die Albertina ist ein besonderer Glücksfall. Rund 64 Millionen Euro flossen von 1992 bis 2002 in den Wiederaufbau der Bibliothek. Nach zehn Jahren waren 31.000 Quadratmeter benutzbar gemacht, 750 moderne Arbeitsplätze geschaffen und 240.000 Werke in Freihand aufgestellt – auch dort, wo vorher Kohlen unter freiem Himmel lagerten. Und die Zeit steht nicht still: Mehr und mehr entwickeln sich wissenschaftliche Bibliotheken zu Lernorten, in denen weniger gelesen als konzentriert geschrieben wird. Die Nutzer erwarten heute lange Öffnungszeiten und unterschiedlichste Arbeitsplatzqualitäten – bis hin zum Eltern-Kind-Raum. Im Frühjahr eröffnen eine Lese-Lounge mit Café und ein neuer, großer Vortragsraum mit 250 Plätzen. Mit einem attraktiven Veranstaltungs-und Ausstellungsprogramm ist die Bibliotheca Albertina ein Kultur-Ort für alle Leipziger, nicht nur für Studierende und Wissenschaftler. Wer den Zauber des Hauses an einem Messeabend gespürt hat, kommt wieder.

Universitätsbibliothek Leipzig, Bibliotheca Albertina, Beethovenstraße 6

Bildquelle: Karen Lemme, Nato, Universitätsbibliothek Leipzig

Beitrag teilen

Weitere Beiträge, die Sie interessieren könnten

International Slider

Der Dauerglücksfall

Norwegen, das Gastland der kommenden Leipziger Buchmesse, wirft kräftige Schatten voraus: Gerade wurde in Sachsen der erste Norwegische Lesekreis gegründet – ein Beispiel, das Schule machen soll.

Literarisches Leben Slider

„Gute Bücher übersetzen ist leicht!“ 

20 Jahre Preis der Leipziger Buchmesse (4): 2018 ging der Preis in der Sparte Übersetzung an Sabine Stöhr und Jurij Durkot für ihre Übertragung von Serhij Zhadans Roman „Internat“. Inzwischen hat der Ukrainer, der lange mit Worten und Musik für die Sache seines Landes gekämpft hat, zur Waffe gegriffen.

Slider Wir

Back to the Roots 

Von der klassischen ‚PK’ bis ‚unter drei’: Der Thüringer Felix Wisotzki, Pressesprecher der Leipziger Buchmesse, organisiert die Kommunikation des Branchen-Großereignisses. Mit der Arbeit fürs Buch ist der studierte Amerikanist zu einer frühen Leidenschaft zurückgekehrt

Leipzig liest Slider

Fest des freien Wortes 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 4: Mit Leipzig liest swingte eine ganze Stadt vier Tage lang im Takt der Literatur. Die heißgeliebte fünfte Jahreszeit – sie war zurück!

Literarisches Leben Slider

Fortüne & Phantasie 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 3: In Zeiten zunehmender Markt-Konzentration stehen Independent-Verlage für eine bunte, vielfältige Bücherlandschaft. In Leipzig kommen auch die Kleinen groß raus

International Slider

Wahres Wunder Freundschaft

Buchmesse-Nachschlag, Teil 1: Die Buchmesse eröffnete mit Bundeskanzler Olaf Scholz und der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung an Omri Boehm. Der Gaza-Konflikt platzte in einen Festakt hinein, in dem es um Identitätspolitik und ihre Überwindung ging

Leipzig liest Slider

„Vor allem Frauen“ 

Alles außer flach (3): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Die flämische Schriftstellerin Annelies Verbeke

Leipzig liest Slider

Und dann hat’s BUMM! gemacht

Alles außer flach (4): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Matthijs de Ridder, der die flämische Avantgarde-Ikone Paul van Ostaijen an die Pleiße holt

Leipzig liest Slider

Please look at the Basement! 

Alles außer flach (2): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Der flämische Schriftsteller und Bildende Künstler Maarten Inghels

Leipzig liest Slider

Digitale Literaturwelten 

Alles außer flach (1): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Poetische VR und eine Geschichten-Erzählmaschine

Literarisches Leben Slider

Starke Frauen

Kurt Wolff Preis für den AvivA Verlag: Seit einem Vierteljahrhundert bringt Britta Jürgs mit Energie und Spürsinn die weiblichen Stimmen der Weltliteratur zur Geltung 

Leipzig liest Slider

Endlich! Wieder! 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 1: Die erste Gewandhaus-Eröffnung seit vier Jahren wurde mit überschäumender Freude gefeiert – überschattet vom Angriffskrieg auf die Ukraine. Aufmerksamkeitsdusche, reloaded.