Autor: Nils Kahlefendt

©Sofia Helfrich

„Jedes Buch hat seine Geschichte“
30. Dezember 2021
Unerwartete Begegnungen (4): Der Übersetzer Michael Kegler brennt lichterloh für die portugiesischsprachige Literatur
Autor: Nils Kahlefendt

©Sofia Helfrich

„Jedes Buch hat seine Geschichte“
30. Dezember 2021
Unerwartete Begegnungen (4): Der Übersetzer Michael Kegler brennt lichterloh für die portugiesischsprachige Literatur

Dass Michael Kegler aus dem hessischen Hofheim hierzulande als einer der wichtigsten Transporteure portugiesischsprachiger Literatur gilt, wurde ihm nicht direkt in die Wiege gelegt – aber beinahe: 1967 in Gießen geboren, lebte er vom vierten bis zum zehnten Lebensjahr auf einer Eisenerzmine in Minas Gerais, dem größten Bergbauzentrum Brasiliens, wo sein Vater als Geologe arbeitete. Zuhause wurde Deutsch gesprochen, in der Grundschule, die er gemeinsam mit den Kindern der Minenarbeiter besuchte, Portugiesisch. Nach dem Abitur und zwei grandios gescheiterten Semestern Agrarwissenschaft geriet er an der Frankfurter Goethe-Universität in ein Seminar von Ray-Güde Mertin (1943 – 2007), die als Literaturagentin und Übersetzerin von Größen wie António Lobo Antunes oder José Saramago eine weithin strahlende Instanz war. Kegler fing Feuer und schrieb sich für Romanistik, Anglistik und Germanistik ein. Er ist allerdings auch gleich in diesem ersten Seminar gewarnt worden: „Leute“, sagte Mertin damals, „wenn ihr Literatur übersetzen wollt – sucht euch lieber auch noch einen Zweitjob!“

©Andreas Winter

Michael Kegler ließ sich das nicht zweimal sagen – und heuerte während des Studiums beim portugiesischen Buchladen TFM „Centro do Livro“ an, den Teo Ferrer de Mesquita 1980 noch an der Frankfurter Konstablerwache gegründet hatte. Auch dieser Laden war eine Legende: Teo, mit 19 aus Mosambik geflohen, studierter Elektroingenieur, der aus politischen Gründen von Portugal nach Deutschland gekommen war, hatte ihn sechs Jahre nach der Nelkenrevolution gegründet. Heute – Teo lebt längst wieder in Lissabon – wird TFM, die inzwischen in Bockenheim residierende Spezialbuchhandlung für Literatur und Musik aus den portugiesischsprachigen Ländern, von Petra Noack geführt, die 1998 als Praktikantin eingestiegen war.

©Andreas Winter

Michael Kegler, der bis zu diesem Zeitpunkt relativ fest im Laden arbeitete, hilft heute im Schnitt einmal die Woche aus. Er braucht diesen lebendigen Kontakt mit Literatur und Menschen, die hier eine ganz andere Qualität haben als in den Weiten des Internets. „Du merkst an der Kasse, wo überall Portugiesisch gesprochen wird: Von Brasilien und Portugal über Angola, Mosambik, Kap Verde, Guinea-Bissau bis zu São Tomé und Príncipe und Macau.“ Häufig läuft afrikanische Musik, aber auch Bossa Nova, Fado und Jazz. Natürlich werden auch viele Päckchen für den Versand gepackt; Buchhandel hat auch eine körperliche Seite. „Wer je einen Büchertisch im aufzuglosen dritten Stock der Hamburger Uni aufgebaut hat, weiß, was ich meine.“ 2020 wurde das „Centro do Livro“ bereits zum zweiten Mal mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

©TFM

Im ebenfalls von Teo Ferrer de Mesquita gegründeten, neben der Buchhandlung betriebenen Verlag TFM hat Kegler 1999 sein Gesellenstück als Literaturübersetzer herausgebracht – Manuel Tiagos (das Pseudonym von Alvaro Cunhal, dem langjährigen Generalsekretär der portugiesischen KP) Novelle „Fünf Tage, fünf Nächte“. Zuletzt erschien bei TFM in diesem Jahr der von Kegler besorgte zweisprachige Band des Angolaners Ondjaki „Blaue Träume in jedem Winkel“. Insgesamt sind es wohl wenig mehr als „vier Hände voll“ von Kolleginnen und Kollegen, die als professionelle Literaturtransporteure mit dem Portugiesischen arbeiten, schätzt Kegler. Man kennt sich, tauscht sich aus, wirft sich Bälle zu. 2013, als Brasilien Gastland in Frankfurt war, hat sich dieser Kreis einmal getroffen. Die meisten haben noch ein oder zwei weitere Sprachen in petto. „Es gibt zwei, drei Wahnsinnige, die sich ausschließlich aufs Portugiesische werfen“, lacht Michael Kegler. „Einer davon bin ich.“

©Hanser

Wird Kegler in Portugal nach den Chancen auf dem deutschen Markt gefragt, wiegte der Literaturvermittler meist nachdenklich den Kopf: „Es gibt keinen Markt – jedes Buch hat seine eigene Geschichte.“ Im Vorfeld des Portugal-Schwerpunkts zur Leipziger Buchmesse änderte sich das, etwa durch wiederholte Einladung deutscher Verlegerinnen und Verleger, die dem Zufall gewisser Maßen auf die Sprünge helfen sollten. Auf diese Weise etwa entdeckte Hanser-Lektor Piero Salabè den Autor Afonso Reis Cabral. Salabè und Kegler kannten sich bereits durch die gemeinsame Übersetzung der Gedichte von Ana Luísa Amaral, die letzten März unter dem Titel „Was ist ein Name“ in der Edition Lyrikkabinett bei Hanser erschienen sind. „Mir war klar, dass es ein Wagnis ist, wenn zwei Kerle mit ausgeprägtem Ego eine Dichterin übersetzen“, erinnert sich Kegler. „Rückblickend war es eine sehr bereichernde Erfahrung“. Die gemeinsame Lyrik-Arbeit sollte für ihn das Ticket für die Übersetzung von Reis Cabral werden; dessen Roman „Aber wir lieben dich“ erschien letzten März ebenfalls bei Hanser.

©Edition Korrespondenzen

Reto Ziegler von der Wiener Edition Korrespondenzen, der am Stand der Botschaft von Portugal auf den zehnbändigen Zyklus „Das Viertel“ („O Bairro“) gestoßen war, ist nicht der erste Verleger, dem Kegler und seine Übersetzer-Kollegen die Seniores von Gonçalo M. Tavares schmackhaft machen wollten. Tavares hat einen ganzen Stadtteil erschaffen und diesen mit illustren Herrschaften bevölkert – von Brecht und Breton bis Valéry oder T. S. Eliot. Jeder von ihnen ist Bewohner eines der zehn Bändchen. Tavares selbst bezeichnet das Ensemble als „ein Asterix’sches Dorf“, als einen Ort, „an dem man versucht, dem Eintritt der Barbarei zu widerstehen“. Reto Ziegler war rasch überzeugt, „Das Viertel“ in Gänze zu bringen; seit 2020 sind fünf Bände in Michael Keglers Übersetzung erschienen, im kommenden März folgt der sechste Streich, „Herr Calvino und der Spaziergang“.

©Xrisovalantis Symeonides

Es fällt auf, dass viele portugiesischsprachige Neuerscheinungen, die im Zusammenhang mit dem Leipziger Gastlandauftritt entstanden, von kleineren, unabhängigen Verlagen gestemmt werden. Besonders die Österreicher erwiesen sich als mutig. Im Insbrucker Haymon Verlag wird im März 2022 in Michael Keglers Ãœbersetzung „Schwerkraft der Tränen“ erscheinen, der aufregende Debütroman der portugiesischen Autorin Yara Nakahanda Monteiro. Im Buch geht es nach der Suche einer jungen Portugiesin mit angolanischen Wurzeln nach ihrer Mutter – und ihrer eigenen Identität. Kegler war im letzten Sommer eigentlich bei der Suche des Verlags nach einer passenden Ãœbersetzerin um Rat gefragt worden – war von dem Projekt am Ende jedoch so begeistert, dass er den Auftrag selbst annahm. „Ich hatte für den Unionsverlag ‚Die Frauen meines Vaters’ von José Eduardo Agualusa übersetzt, der die Suche einer portugiesischen Frau nach ihrem Vater, einem angolanischen Musiker, und ihren afrikanischen Wurzeln behandelt. Beide Bücher stehen ohne Zweifel in Dialog miteinander.“ Wenn es darum geht, Verlagstüren für Autorinnen und Autoren zu öffnen, spielen Ãœbersetzer wie Michael Kegler eine kaum zu unterschätzende Rolle. Eines seiner „lustigsten Verkaufsgespräche“ führte er an einem Buchmesse-Sonntag mit dem Verleger Stefan Weidle: „Als eigentlich im Wortsinn alle Messen gesungen waren, begeisterte ich ihn für das schmale, aber ungemein tolle Buch eines portugiesischen Autors, was eigentlich ein als Novelle getarntes Theaterstück ist.“ Rui Zinks „Die Installation der Angst“ erschien 2016 bei Weidle; im letzten Jahr wurde sie von der Volksbühne am Kaulenberg in Halle/Saale als Hörspiel adaptiert.

Im Rahmen des Gastlandauftritts von Portugal auf der Leipziger Buchmesse 2022 erscheinen 2021 rund 50 neue portugiesischsprachige Bücher in deutscher Übersetzung, weitere Novitäten sind fürs kommende Jahr geplant. Gefördert wurden sie mit dem Sonderprogramm der Direção-Geral do Livro, dos Arquivos e das Bibliotecas (DGLAB) und des Instituts Camões zur Übersetzung und Veröffentlichung portugiesischsprachiger Literatur ins Deutsche. Wird dieser pandemiebedingt „verlängerte“ Auftritt unsere Sicht auf portugiesischsprachige Literatur auf lange Sicht beeinflussen – und auch das Agieren von Verlagen und Buchhandel nachhaltig verändern? Michael Kegler ist zuversichtlich. „1997 hat etwa die ‚Jungle World’ ihre Buchmesse-Beilage zu Portugal noch mit Rucksackträgern in Sandalen aufgemacht. Für mich war das emblematisch: Mehr ist denen zu Portugal nicht eingefallen? Ich glaube, dass die Vielfalt der portugiesischsprachigen Literatur verschiedenster Kontinente inzwischen auf offene Hirne und Herzen der Leserinnen und Leser hierzulande trifft. Und dass auch die Verlage und der Buchhandel am Ball bleiben – über die Boosterpräsenz im März 2022 hinaus. Ich werde weiter gut zu tun haben. In Hofheim geht das Licht nicht aus.“

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„Unerwartete Begegnungen des Verschiedenartigen“ wird das Motto des Gastland-Auftritts von Portugal auf der kommenden Leipziger Buchmesse (17. – 20. März 2022) lauten. Bereits in diesem Jahr erscheinen in Deutschland, Österreich und der Schweiz mehr als 50 neue Bücher. In unserer kleinen Serie stellen wir ausgewählte Literatur-Multiplikatoren und Verlage vor, die sich um portugiesischsprachige Autorinnen und Autoren verdient machen – von Klassikern bis zu preisgekrönten Newcomern.

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