Autor: Nils Kahlefendt

Foto: Jamie Stoker

Identität ohne Bindestrich
28. April 2021
Am Ort der friedlichen Revolution: Johny Pitts wird mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt
Autor: Nils Kahlefendt

Foto: Jamie Stoker

Identität ohne Bindestrich
28. April 2021
Am Ort der friedlichen Revolution: Johny Pitts wird mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt

Eine dokumentarische Sequenz am Beginn von Peter Catteanos Filmkomödie „The Full Monty“ („Ganz oder gar nicht“, 1997) zeigt das nordenglische Sheffield der frühen 70er Jahre als wirtschaftlich potente, blühende Stahlarbeiterstadt. 25 Jahre später – die Stahlwerke rosten vor sich hin, die Industrie ist zu großen Teilen stillgelegt – sieht man Gary „Gaz“ Schoefield und Dave Osborne, zwei der Protagonisten des Films, beim verzweifelten Versuch, Geld zu verdienen, indem sie Stahlträger aus den maroden Werken stehlen. Im Stadtviertel Firth Park, in dem Johny Pitts aufgewachsen ist, verloren durch die neoliberale Politik Margaret Thatchers besonders viele Arbeiter aus früheren Kolonien, aus Afrika, der Karibik oder dem Jemen ihre Jobs. Dieser Teil Sheffields kommt in den offiziellen Darstellungen der Stadt kaum vor; auch Catteanos Filmdebüt zeigt nur die weiße Arbeiterklasse. Pitts’ Community, zu der Jamaikaner, Somalis, Pakistanis oder Inder gehören, wird quasi aus der Geschichte herausgeschnitten. Kein Wunder also, dass Johny Pitts’ große Reise durch das schwarze Europa aus einer existenziellen „Einsamkeit“ heraus entstanden ist, sich über Jahre in einer intellektuellen, kulturellen und geografischen Peripherie vorbereitet hat.

Johny Pitts, geboren 1987 in Sheffield, ist im Stadtviertel Firth Park als Kind eines afroamerikanischen Jazzmusikers und einer weißen Arbeiterin aufgewachsen. Nach seinem College-Abschluss war er zunächst in der Jugendarbeit tätig; im Multiple Heritage Service, einem Pilotprojekt der Stadt Sheffield, betreute er multiethnisch aufwachsende Kinder und Jugendliche an verschiedenen Schulen in Nordengland. In den folgenden Jahren arbeitete Pitts vor allem als Autor und Moderator für Sender wie MTV, Sky One, Discovery Channel und die BBC. 2010 startete Johny Pitts auf Facebook die Seite Afropean Culture, die sich an Menschen mit einer spezifisch schwarzen europäischen Erfahrung wandte und rasch populär wurde. 2013 entwickelte sich daraus das Online-Journal Afropean. Adventures in Black Europe, das noch im selben Jahr von der ENAR Foundation (European Network Against Racism) ausgezeichnet wurde. Die erste größere Ausstellung von Pitts’ fotografischen Arbeiten fand 2020 unter dem Titel „Afropean. Travels in Black Europe“ im AmsterdamerFOAM statt. Sein Buch „Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa“, 2019 in Großbritannien erschienen, ist in mehrere Sprachen übersetzt und mit dem Jhalak Prize 2020 und dem Bread & Roses Award for Radical Publishing 2020 ausgezeichnet worden. Nun wird Johny Pitts für „Afropäisch“ mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt.

„Johny Pitts ist ein Bricoleur, ein erleuchteter, menschenfreundlicher Bastler im Lévi-Strauss’schen Sinne, einer, dessen Wahrnehmung nicht von Auftrag und Ideologie geprägt ist, einer, der im besten Sinne kontinuierlich an seinem Weltbild bastelt“, heißt es in der Begründung der Jury. „Mit wenig Geld und einem Interrail-Ticket hat er sich aus den industriellen Brachen Nordenglands auf den Weg gemacht, um in den Metropolen Europas jener Lebenserfahrung nachzuspüren, die er gleichsam versuchsweise als ‚afropäisch‘ bezeichnet. Es ist eine Reise in die schwarze Diaspora, eine Reise ins ‚inoffizielle‘ Europa, unter Menschen, deren unsicherer, harter Alltag meist unbemerkt bleibt.“

Die afropäische Erfahrung sei nicht monolithisch, sie sei vielfältig, widersprüchlich und schwer zu greifen, sie sei stets unsichtbar und unklar, ein notdürftig mit Bindestrichen zusammengehaltenes postkoloniales Phänomen. „Johny Pitts‘ Versuch, aus dem Disparaten ein kohärentes Bild zusammenzusetzen, ist eine von Hoffnung und Melancholie getragene Bricolage. Der Blick, mit dem er die Menschen und ihre Lebensgeschichten aufnimmt, macht sie sichtbar und schenkt ihnen Würde. ‚Afropäisch‘ ist ein großes, auf fruchtbare Weise unfertiges Werk, das sein Autor, so ist es zu hoffen, fortsetzen wird. Es wäre uns allen, und Europa, zu wünschen“, schreibt die Jury weiter.

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wird am 26. Mai um 19 Uhr in der Nikolaikirche verliehen. Eine Besonderheit des Abends ist neben der Wahl des Veranstaltungsortes die Ehrung gleich zweier Preisträger: Neben Johny Pitts wird nachträglich auch László F. Földényi, Preisträger des Jahres 2020, ausgezeichnet. Die Laudatio hält die Lektorin, Verlegerin und Literaturagentin Elisabeth Ruge. Um ein trotz anhaltender Pandemie ein möglichst breites Publikum zu erreichen, wird die Veranstaltung live im Internet unter www.leipziger-buchmesse.de übertragen.

Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.

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Die Stadt Leipzig, der Freistaat Sachsen, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Leipziger Messe GmbH verleihen den mit 20.000 Euro dotierten Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung seit 1994. Inzwischen gilt er als einer der wichtigsten Literaturpreise im deutschsprachigen Raum. Im Rahmen der Verleihung an Johny Pitts, Preisträger des Jahres 2021, am 26. Mai in der Leipziger Nikolaikirche, wird pandemiebedingt auch László Földényi, Preisträger des Jahres 2020, geehrt. Die Verleihung in der Nikolaikirche findet im Rahmen des Lesefests Leipzig liest extra statt, das die Leipziger Buchmesse veranstaltet.

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