Herr Botschafter, Sie haben mehrfach das Bachfest in Leipzig besucht – offensichtlich ist Ihnen der Leipziger Thomaskantor wichtig…
Emil Hurezeanu: Anfang des 20. Jahrhunderts reiste unser berühmtester Dramatiker, Ion Luca Caragiale, jedes Wochenende aus seinem Berliner Exil ins Gewandhaus – nur wegen der Beethoven-Sinfonien, die von Nikisch im Blüthner-Saal dirigiert wurden. Ich befinde mich also in guter Gesellschaft (lacht). Und, ja: Es waren berührende Erfahrungen, die Thomaner, diese ewigen Kinder, singen zu hören, gerade an Bachs Wirkungsstätte, der Thomaskirche. Während des Konzerts ist mir die Stellung der Kirchenbänke aufgefallen: Die Zuhörer, egal ob Einheimische oder Fremde, Prominente oder ganz normale Leute, sitzen einander gegenüber – und sind so gezwungen, sich in die Augen zu schauen. Ich hatte das Gefühl, wir alle warten auf das Jüngste Gericht und sind dabei von einer Bach’schen Fuge gefesselt.
Welche Rolle spielt die deutsche Kultur darüber hinaus in Ihrem Leben?
Hureazeanu: Ich bin ihr sehr verbunden, sie ist ein Teil meiner Existenz. Ich bin in Siebenbürgen geboren, wo ich auch viele Jahre gelebt habe, in Klausenburg und Hermannstadt – Städte, die von den Deutschen, die vor 850 Jahren nach Siebenbürgen kamen, aufgebaut und geprägt worden sind. Wir nennen unsere Deutschen „Saxones“, auch wenn sie aus Luxembourg oder dem Moseltal stammen. Man kann bei Patrick Leigh Fermor, aber auch bei Goethe oder den Brüdern Grimm die alte Sage nachlesen, die uns glauben lässt, die Kinder aus dem niedersächsischen Hameln seien unter die Erde geführt worden und in Siebenbürgen wieder ans Licht gekommen, als deutsche Kolonisten aus dem 11. Jahrhundert. „Sè non è vero, è ben trovato …“
Leipzig gilt als Handelsmetropole, aber auch als Zentrum von Kunst und Kultur, eine Stadt, in der jahrhundertelang Merkur und die Musen regierten…
Hurezeanu: Auf meiner inneren Landkarte ist Leipzig fest verortet, das reicht bis in die Kindheit. Meine Eltern haben mir von einer DDR-Reise eine Ansichtskarte mit dem Leipziger Hauptbahnhof geschickt. Später habe ich erfahren, dass Leipzig über den größten Kopfbahnhof Europas verfügt, errichtet mitten in der ersten Globalisierungsphase Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Damals war der der Bahnhof ein Hub der Zivilisation, so wie der Flughafen Heathrow heute, vor dem Brexit.
Interessant, dass es in Berlin und Bukarest eine Achse, eine vitale Ader dieser Hauptstädte gibt, die den Namen Leipziger Straße trägt. In Bukarest heißt sie „Lipscani“. Es waren Kaufleute aus Deutschland, die im Mittelalter, unterwegs zwischen Leipzig und dem Orient, in Bukarest abstiegen. Die Lipscani-Straße war jahrhundertelang ein Synonym für Handel und Wandel im Viertel des alten Hofes der Walachei-Prinzen. Heute ist sie Treffpunkt der Touristen aus aller Welt – auf Ihrer Suche nach der Bukarester Seele. Auch auf Vorschlag von Oberbürgermeister Jung werden wir 2018 in Leipzig ein großes Handelstreffen mit kulturellem Rahmen organisieren; ich würde mir wünschen, dass es „Leipzig-Lipscani“ heißt. Sie sehen: Unsere Handelsbeziehungen gehen durch einen gemeinsamen historischen und kulturellen Filter.
„Wir haben eine sehr lebendige Literaturszene“
Sie sind als Diplomat auch ‚homme de lettres’, haben als Redakteur einer Literaturzeitschrift gearbeitet, Gedichte veröffentlicht – all das unter den Bedingungen der kommunistischen Herrschaft, mit Zensur und Beschneidung der freien Meinungsäußerung. Wie geht es dem literarischen Betrieb Rumäniens – Autoren, Verlegern, Buchhändlern – heute, unter demokratischen Rahmenbedingungen?
Hurezeanu: Wir haben eine blühende und sehr lebendige Literaturszene, mit Autoren, Verlagen und Literaturzeitschriften hoher Qualität. Die Schwierigkeiten erwachsen nicht aus der Kreativität des Literatur- und Kulturlebens, sondern, wie immer, aus ökonomischen und bürokratischen Hemmnissen. Die langfristige Planung eines Events mag nicht unbedingt unsere Stärke sein, aber am Ende gelingt es uns (lacht). Unsere Demokratie, auch wenn sie manchmal fragil ist, entwickelt auch ihre Antikörper. Der öffentliche Protest ist uns vertraut und manchmal sehr erfinderisch in seinen Ausdrucksmitteln, sowie auch die literarische Kühnheit. Man konnte das während der großen friedlichen Proteste sehen, die im Winter in Bukarest und anderen Großstädten hunderttausende junge Leute auf die Straße trieben – für Europa!
Die Schwierigkeiten der Schriftsteller und Kulturschaffenden, die sich mit zügellosen Wettbewerb den Risiken der Globalisierung konfrontiert sehen, haben auch mit der Fragilität unseres gemeinsamen „Haus Europa“ vor dem Hintergrund des antieuropäischen Populismus zu tun. Ein gemeinsames Europa bedeutet Meinungsfreiheit in einem Rechtsstaat – also eine Arena, die auch für die Kulturschaffenden angemessen ist! Der Populismus fördert letztlich Intoleranz, institutionelle Manipulation, Trivialisierung verbreitet – die ewigen Feinde der Kreativität.
20 Jahre nach dem ersten größeren Auftritt zur Leipziger Buchmesse wird sich Rumänien als Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse präsentieren – in einer innenpolitisch wie wirtschaftlich durchaus angespannten, schwierigen Phase. Mit welcher Projektion wird das „Literaturland“ Rumänien hier antreten, welche Botschaft soll beim deutschen Lesepublikum ankommen?
Hurezenau: Unsere Autoren sind in einer langen europäischen Kultur- und Literatur-Tradition verwurzelt, mit sukzessiven französischen und deutschen „Komplexen“ in der institutionellen Geschichte der Modernität – so hat es unser großer Ästhetiker, Tudor Vianu (1898-1964) einmal formuliert, der übrigens in Tübingen promovierte. Die rumänischen Autoren der jüngeren Generation sind europäische, ja eigentlich globale Autoren, die auf Rumänisch schreiben. Die Postmoderne kam sehr früh bei uns an, denken Sie an den Surrealismus oder das absurde Theater Ionescos. Wir sind ein Land der geographischen, geopolitischen, religiösen, kulturellen Kreuzungen – manchmal auch paradox, „ein Geheimnis und ein Wunder“, wie ein wichtiger Autor zwischen den zwei Weltkriegen es nannte. Aber sind Geheimnis und Wunder nicht auch Essenz allen künstlerischen Ausdrucks?
„Teil der Lösung, nicht des Problems“
Sie sind mit Autoren wie Hertha Müller oder Ernest Wichner befreundet – welche Rolle spielen die Rumäniendeutschen in der kulturellen Vermittlungsarbeit zwischen den beiden Ländern?
Hurezeanu: Meine Vertrautheit mit deutschen Schriftstellern aus mehreren Generationen hat mir zuallererst die Augen für die Rolle der Gegenkulturen im Kommunismus geöffnet. Wir, die „Dichter der 80er Generation“, haben vom ästhetischen und zivilgesellschaftlichen Mut unserer „Brüder“ aus der Aktionsgruppe Banat sehr profitiert. Als Herta Müller, Richard Wagner, William Totok oder Helmuth Frauendorfer Ende der 1980er Jahre in die Bundesrepublik kamen, habe ich sie sofort für Radio Free Europe interviewt. Bis heute sind sie für mich ein Beispiel für Zivilcourage. Damals stand durchaus viel auf dem Spiel, wir alle wurden von der Securitate bedroht. So gesehen, sind die deutschen Schriftsteller und Historiker aus Rumänien nicht nur eine Brücke zwischen den zwei Ländern, wie man es oft hört – sondern der intellektuelle Pfeiler, der die Tragfähigkeit dieser Brücke garantiert.
Welche Rolle kann Rumänien in einem Europa spielen, das sich, wie Sie selbst formulierten, gerade in „einem Prozess der Neudefinition“ befindet?
Hurezeanu: Rumänien ist ein Land, das von Zentraleuropa im Nordwesten bis zum Schwarzen Meer im Südosten reicht, dem Tor zum Orient. Unsere Erfahrungen haben uns gelehrt, im Sinn des nationalstaatlichen Überlebens auf Ausgleich und Versöhnung zu setzen, und dabei ausdauern und geduldig zu sein. Die Gesellschaft trägt noch immer schwer an der Hypothek der kommunistischen Herrschaft – was das Streben nach Werten wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht eben einfacher macht. Dennoch könnte unsere historisch gewachsene Mittlerrolle für das auseinanderdriftende Europa wertvoll sein. Wir stehen zum europäischen Projekt! Wir sind ein Land mit 20 Millionen Einwohnern, nach Polen das zweitgrößte im Osten der EU, mit einer hellwachen jungen Generation, die durch ihre Ressourcen und Anpassungsfähigkeit beeindruckt. 1918 ist für uns nicht nur wegen des Leipziger Gastland-Auftritts ein besonderes Jahr: Wir feiern die 100. Wiederkehr der Gründung des modernen rumänischen Staates. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 wird Rumänien dann die Präsidentschaft der EU innehaben. Wir sind ein Teil der Lösung, nicht des Problems.
Emil Hurezeanu, geboren am 26. August 1955 in Sibiu, studierte von 1975 bis 1979 Rechtswissenschaften an der Universität Cluj; zeitgleich begann er, in der Redaktion des Magazins „Echinox“ zu arbeiten, wo er Gedichte und literarische Kritiken veröffentlichte. Für seine Gedichtesammlung „Lecția de anatomie“ („Die Anatomielektion“) erhielt er 1979 den Preis des Schriftstellerverbands für das beste Debüt. Mit einem von Ana Blandiana vergebenen Auslandsstipendium konnte Hurezeanu 1982 nach Wien ausreisen; 1983 erhielt er politisches Asyl in der Bundesrepublik. 1991 erwarb er den Masterabschluss für Internationale Beziehungen an der Universität Boston. Seit 1983 machte er sich als kritischer Journalist bei Radio Free Europe (München) und der Deutschen Welle (Köln) einen Namen. 2002 kehrte Hurezeanu nach Rumänien zurück, wo er als einer der profiliertesten TV- und Rundfunkjournalisten für ein demokratisches und modernes Rumänien wirkte. Im Mai 2015 wurde Emil Hurezeanu von Präsident Klaus Johannis zum rumänischen Botschafter in Berlin ernannt.
Fotos: Bernhard Schurian