Autor: Nils Kahlefendt

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Fernes, nahes Land
14. März 2017
Litauen steht im Fokus der Leipziger Buchmesse 2017 – Impressionen einer Pressereise nach Vilnius und Kaunas
Autor: Nils Kahlefendt

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Fernes, nahes Land
14. März 2017
Litauen steht im Fokus der Leipziger Buchmesse 2017 – Impressionen einer Pressereise nach Vilnius und Kaunas

Der Himmel über Vilnius: „Greetings from snowy Vilnius“, schrieben die supernetten Mitarbeiterinnen des Litauischen Kulturinstituts unter ihre Mails, zuletzt sogar „please wear your warm clothes“. Nun sind wir da, und beim Blick in den Winterhimmel über Vilnius fallen einem gleich Zeilen aus einem Gedicht von H. C. Artmann ein, mit dem Cornelius Hells literarischer Reise-Begleiter aus dem Wieser Verlag beginnt: „habt ihr keine augen im / kopf ihr europäer schaut / ein bernsteinlöffelchen / spiegelt sich im himmel / es rührt in der wolke um / den tee ohne zuckerstück“ (Aus eine fenster des hotels lietuva).

© Foto: Nils Kahlefendt

Hashtag Freiheit: Wer sich, wie die Litauer, lange mit Unterdrückung und Totalitarismus auseinanderzusetzen hatte, für den ist Freiheit ein hohes Gut. Am materialisierten Hashtag vor dem Präsidentenpalast am Simonas-Daukantas-Platz wird am 16. Februar regelmäßig die erste Unabhängigkeit Litauens gefeiert. Er erinnert aber auch daran, dass man in der Balten-Republik stolz auf die hohe WLAN-Abdeckung ist.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Die Gelehrtenrepublik: Der von Pranciškus Smuglevičius und seinem Bruder Antanas ausgemalte Saal ist der prächtigste der Vilniuser Universitätsbibliothek. Während uns der Dichter, Essayist und Übersetzer Laurynas Katkus auf einen fulminanten Crash-Kurs durch die litauische Literaturgeschichte mitnimmt, blicken Pindar, Sokrates, Plutarch & Co. stumm auf uns herab.

© Foto: Ramūnas Danisevičius

Der Jongleur: Für den zu Sowjetzeiten in einem Vilniuser Plattenbauviertel aufgewachsenen Laurynas Katkus kam der Fall des Eisernen Vorhangs zur rechten Zeit. Hölderlins „Hyperion“ hat er ebenso ins Litauische gebracht wie Bücher von Walter Benjamin, Octavio Paz oder Jan Wagner. Neben den Übersetzungen schreibt er seine eigenen Bücher. „Es funktioniert“, sagt er, „aber man jongliert mit sehr vielen Bällen“. Katkus’ Lieblingsbuchhandlung Eureka! befindet sich im Zentrum von Vilnius, nahe der Uni. „Dort gibt es neben neuen Büchern auch ein Modernes Antiquariat mit Titeln aus der SU-Zeit oder den 90er Jahren, man kann wunderbar stöbern.“

© Foto Nils Kahlefendt

Magischer Ort: Gute Musik, starker Kaffee, kostenloses WLAN, neue und gebrauchte einheimische und fremdsprachige Bücher, Schallplatten – Mint Vinetu könnte so auch in Helsinki, Berlin oder Brooklyn zu finden sein. Selbst die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė, die in der Altstadt von Vilnius zur Schule ging, brachte schon ein paar ausgelesene Lieblingsbücher mit, um sie gegen neuen Lesestoff einzutauschen. Und was bedeutet der seltsame Name? Jonas Valonis, der den Laden mit ein paar Freunden vor sieben Jahren aufmachte, muss die Frage vermutlich mehrmals am Tag beantworten: „Die Bücher von Karl May, vor allem natürlich ‚Winnetou’, waren die Bücher unserer Kindheit, heute erinnern sie uns an den Zauber selbstvergessenen Lesens. Das ‚Mint’ steht ganz allgemein für Tee und Frische.“

© Foto Nils Kahlefendt

Gekommen, um zu bleiben: Die Mietpreise im Herzen der Altstadt klettern, doch noch hält sich „Mint Vinetu“ tapfer gegen den Mainstream. „Wenn du in Vilnius eine Bar aufmachst, hast du zwei Jahre, um zu überleben – oder zu scheitern“, sagt Jonas Valonis. „Wir sind jetzt seit sieben Jahren hier.“

© Foto Nils Kahlefendt

Bildnis des Künstlers als junger Mann: Die Bücher des litauischen Kinderbuchautors und Illustrators Kęstutis Kasparavičius sind in knapp 30 Sprachen rund um den Erdball übersetzt worden. Gemessen an diesem Erfolg ist der Mann, der uns in seinem Atelier in der Vilniuser Altstadt – genau dort, wo sich ehedem das jüdische Ghetto befand – mit Chrysanthemen-Tee und selbstgebackenem Kuchen bewirtet, extrem bescheiden und freundlich. An den Atelier-Wänden hängen auch die Originale der Illustrationen, die Kasparavičius einst zu Limericks von Edward Lear schuf. Und siehe da: Der skurrile Brite mit Schnurrbart und Nickelbrille trägt die Züge des Künstlers als junger Mann.

© Foto Nils Kahlefendt

Vilnius erlesen: Ob Napoleon, Dostojewski, Theodor Herzl, Alfred Döblin oder Joseph Brodsky – sie alle haben Vilnius besucht. Der in Kanada aufgewachsene Litauer Laimonas Briedis hat aus ihren Aufzeichnungen eine wunderbare Kulturgeschichte dieser west-östlichen Multikulti-Metropole zusammengestellt, die im März bei Wieser erscheint. Einen Vorgeschmack aufs Buch gab Briedis mit einer spannenden Stadtführung.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Moment der Muße: Der österreichische Kritiker, Essayist und Übersetzer Cornelius Hell gehört zu den wichtigsten Transporteuren der litauischen Literatur ins Deutsche; ein halbes Dutzend der 2017 erscheinenden Titel hat er übertragen. Als kundiger Literatur-Führer und Dolmetscher hatte er wesentlichen Anteil am Gelingen der Reise.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Speed-Dating: Unter den Autorinnen und Autoren, die wir in der Nationalbibliothek treffen, ist auch Undinė Radzevičiūtė. Die 1967 geborene Schriftstellerin ging nach ihrem Kunststudium in Vilnius zunächst in die Werbung und arbeitete als Art Director für Weltkonzerne wie Saatchi & Saatchi und Leo Burnett. Im Salzburger Residenz Verlag wird nun ihr bislang bester Roman, „Fische und Drachen“, erscheinen, der 2015 den Literaturpreis der EU gewann.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Kaffee, Tee & Poesie: Der Schriftsteller Antanas A. Jonynas begrüßt uns in der holzvertäfelten guten Stube des litauischen Schriftstellerverbandes in Vilnius.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Besuch in Kaunas: Im Zentrum der zweitgrößten Stadt Litauens, die rund 100 Kilometer westlich der Hauptstadt Vilnius am Zusammenfluss von Memel und Neris liegt. Die Freiheitsallee verbindet Alt- und Neustadt von Kaunas.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Aufbruch in die Moderne: Die Kirche Christi Auferstehung wurde nach der ersten Unabhängigkeit Litauens gebaut; im Jahr der sowjetischen Besetzung stand jedoch erst der Rohbau. Auf Geheiß Stalins wurde das Gebäude 1952 einer Radiofabrik zugeschlagen („Banga“), auf dem Turm hieß es nun „Ruhm der KPdSU“. Heute ist der inzwischen aufwändig sanierte gewaltige Sakralbau eine Dominante der Skyline von Kaunas.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Alt und neu: Im Zentrum von Kaunas stößt man immer wieder auch auf traditionelle Holzhäuser.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Zwischen Tradition und Avantgarde: Am Textilkunst-Department der Kunstakademie treffen wir auf Kuratorinnen und Künstlerinnen der Ausstellung „Oxymora“, die bereits ab 25. Februar in der Leipziger Baumwollspinnerei zu sehen ist.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Textil-Design: Die von Virginija Vitkienė (Textil-Biennale Kaunas) ausgewählten Werke zeitgenössischer litauischer Künstlerinnen sind doppelt eindrucksvoll: Sie verknüpfen jahrhundertealte Textiltechniken wie Tapisserie oder Stickerei mit Digitaldruck und Videoanimation.

© Foto: Nils Kahlefendt

Schreibeinsamkeit: 40 Kilometer von Vilnius entfernt, in dem Dörfchen Zabarija, hat sich der Lyriker und Essayist Eugenijus Ališanka ein malerisches Holzhaus ausgebaut.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Ein Schluck auf die Poesie: Eugenijus Ališanka, einer der meistübersetzten Dichter Litauens.

Beitrag teilen

Weitere Beiträge, die Sie interessieren könnten

Leipzig liest Slider

Alles außer flach! 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 5: Der opulente Gastlandauftritt der Niederlande und Flanderns war eine intelligent orchestrierte Charme-Offensive fürs deutsche Lesepublikum

Literarisches Leben Slider

„Gute Bücher übersetzen ist leicht!“ 

20 Jahre Preis der Leipziger Buchmesse (4): 2018 ging der Preis in der Sparte Übersetzung an Sabine Stöhr und Jurij Durkot für ihre Übertragung von Serhij Zhadans Roman „Internat“. Inzwischen hat der Ukrainer, der lange mit Worten und Musik für die Sache seines Landes gekämpft hat, zur Waffe gegriffen.

Slider Wir

Back to the Roots 

Von der klassischen ‚PK’ bis ‚unter drei’: Der Thüringer Felix Wisotzki, Pressesprecher der Leipziger Buchmesse, organisiert die Kommunikation des Branchen-Großereignisses. Mit der Arbeit fürs Buch ist der studierte Amerikanist zu einer frühen Leidenschaft zurückgekehrt

Leipzig liest Slider

Fest des freien Wortes 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 4: Mit Leipzig liest swingte eine ganze Stadt vier Tage lang im Takt der Literatur. Die heißgeliebte fünfte Jahreszeit – sie war zurück!

Literarisches Leben Slider

Fortüne & Phantasie 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 3: In Zeiten zunehmender Markt-Konzentration stehen Independent-Verlage für eine bunte, vielfältige Bücherlandschaft. In Leipzig kommen auch die Kleinen groß raus

International Slider

Wahres Wunder Freundschaft

Buchmesse-Nachschlag, Teil 1: Die Buchmesse eröffnete mit Bundeskanzler Olaf Scholz und der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung an Omri Boehm. Der Gaza-Konflikt platzte in einen Festakt hinein, in dem es um Identitätspolitik und ihre Überwindung ging

Leipzig liest

„Comic ist ein Medium, kein Genre!“ 

Alles außer flach (5): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Die flämischen Comic-Pionierinnen Ephameron und Judith Vanistendael

Leipzig liest Slider

„Vor allem Frauen“ 

Alles außer flach (3): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Die flämische Schriftstellerin Annelies Verbeke

Leipzig liest Slider

Und dann hat’s BUMM! gemacht

Alles außer flach (4): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Matthijs de Ridder, der die flämische Avantgarde-Ikone Paul van Ostaijen an die Pleiße holt

Leipzig liest Slider

Please look at the Basement! 

Alles außer flach (2): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Der flämische Schriftsteller und Bildende Künstler Maarten Inghels

Leipzig liest Slider

Digitale Literaturwelten 

Alles außer flach (1): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Poetische VR und eine Geschichten-Erzählmaschine

Literarisches Leben Slider

Starke Frauen

Kurt Wolff Preis für den AvivA Verlag: Seit einem Vierteljahrhundert bringt Britta Jürgs mit Energie und Spürsinn die weiblichen Stimmen der Weltliteratur zur Geltung 

International

Ein Sprachmagier

Unerwartete Begegnungen (2): Septime-Verleger Jürgen Schütz hat den großen Autor José Luís Peixoto für uns entdeckt

International Slider

„Es geht immer ums Vollenden“ 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 3: Unter dem Motto „meaoiswiamia“ feierte Österreich die Vielfalt seiner Literatur. Insgesamt kamen rund 200 Autorinnen und Autoren aus Österreich zu mehr als 110 Veranstaltungen auf dem Messegelände und in der Stadt.