Autor: Ruth Justen

Vielfalt europäischer Stimmen
5. Februar 2018
Interview mit Mohamed Amjahid, Kurator des Programmschwerpunktes Europa21
Autor: Ruth Justen

Vielfalt europäischer Stimmen
5. Februar 2018
Interview mit Mohamed Amjahid, Kurator des Programmschwerpunktes Europa21

Mehrsprachig aufgewachsen machte der 1988 in Frankfurt am Main geborene Autor und Journalist Mohamed Amjahid bisher unter anderem Station bei der taz, dem Tagesspiegel, den Kulturwellen der ARD und Al Jazeera. Bis Dezember 2017 war er Reporter und Redakteur beim ZEITmagazin in Berlin. Im Januar wechselte Amjahid in das Ressort Politik der ZEIT.

Herr Amjahid, Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch mit dem Titel „Unter Weißen. Was es heißt privilegiert zu sein“ veröffentlicht. Was heißt es denn?

Privilegien können vielfältig sein. Nehmen Sie das Thema Mobilität. Wenn Sie einen roten europäischen Pass besitzen, müssen Sie sich keine Gedanken über den Wechsel ihres Arbeitsplatzes oder eine Urlaubsreise ins Ausland machen. Ohne einen solchen roten Pass endet der Lebens-, Arbeits- und Urlaubshorizont an den Grenzen des Geburtslandes. Nicht alle mit einem roten Pass sind weiß, aber fast alle Europäer mit weißer Hautfarbe haben einen roten Pass. An die weiße Hautfarbe wurden mit der Zeit immer mehr Privilegien geknüpft. Wir beide führen hier am Bahnhof in Hamburg das Interview. Achten die Polizisten auf Sie, eine Frau mit weißer Hautfarbe, oder auf mich, ein junger Mann mit nicht-weißer Hautfarbe? Racial profiling beeinflusst selbstverständlich meinen Alltag und den aller erkennbar Nicht-Biodeutschen. Ebenfalls historisch gewachsen fallen bis heute die wichtigsten Entscheidungen in Deutschland und in Europa in männlich dominierten Gremien und Zirkeln. So gesehen ist es in weiteres Privileg ein Mann zu sein. Und diese Reihe könnte weiter fortsetzet werden. Im Übrigen ist es das größte Privileg, dass die Privilegierten ihre Privilegien gar nicht mehr bewusst wahrnehmen, weil sie so selbstverständlich erscheinen.

Wie würden Sie Ihre Lebenssituation unterm Strich beschreiben?

Als Reporter der größten deutschen Wochenzeitung, als Autor und als Kurator von Europa21 bin ich ein überaus privilegierter Mensch. Allerdings habe ich meine Privilegien als Sohn marokkanischer Migranten nicht ererbt, sondern hart erarbeitet.

Welchen Einfluss hatten oder haben diese Erfahrungen auf ihren beruflichen Werdegang?

Als Kind wuchs ich in Deutschland und Marokko auf. Die krassen Unterschiede zwischen den Lebensumständen in den beiden Ländern haben mich schon als Jugendlichen politisiert. Ich wollte verstehen, warum die Ressourcen und Freiheiten so ungerecht verteilt sind. Gleichzeitig liebe ich es zu schreiben, mir Gedanken in möglichst unterhaltsamen Texten zu machen. Was liegt da näher als Artikel und Bücher zur politischen Entwicklung in Nordafrika, dem Nahen Osten und Europa zu schreiben?

Sie beschreiben im Buch Ihre Sicht auf Deutschland. Sind die Privilegien innerhalb Europas nicht sehr unterschiedlich verteilt?

Sicher! Neben gemeinsamen Privilegien, gibt es viele Unterschiede, die von den regionalen Geschichtsverläufen und Erfahrungen abhängen. Die Andersmachung von Minderheiten, Migranten oder Flüchtlingen nimmt zum Beispiel europaweit zu, hat aber in Ländern mit großer und langer Kolonialgeschichte wie etwa Frankreich eine andere, viel massivere Ausprägung als zum Beispiel in Ungarn und selbst unter jemandem wie Viktor Orbán. Ich bin deshalb ein Fan davon, alles auch in einem regionalen Kontext zu betrachten.

Sie sind in diesem Jahr der Kurator des Programmschwerpunkts Europa21 der Robert Bosch Stiftung und der Leipziger Buchmesse. Was hat Sie an der Aufgabe gereizt?

Als politischer Reporter bin ich viel unterwegs und treffe Menschen, die oft ganz andere Meinungen oder Perspektiven haben als ich. Es ist ein großes Privileg, ein Programm zu gestalten, indem die Vielfalt der europäischen Stimmen in ein echtes, aber konstruktives Streitgespräch zur Sprache kommen, einen Austausch über Europa ermöglicht, der frei von politischen Zwängen ist, von nationalen Egoismen und vor allem von europäischer Überheblichkeit. Denn wir hören uns im Regelfall in Europa zu wenig zu und setzen uns noch weniger miteinander ernsthaft auseinander. Zur Leipziger Buchmesse können wir alle Europa21 gemeinsam mit unseren internationalen Gästen als Denk-Raum für die Gesellschaft von morgen nutzen, konstruktiv über die verschiedenen Interpretationen der Vergangenheit und die unterschiedlichen Visionen für die Zukunft streiten.

Wie werden Sie im Unterschied zu ihren beiden Vorgängerinnen den Denk-Raum gestalten?

Die diesjährige dritte und letzte Auflage des Programms Europa21 sehe ich als Fortsetzung der Arbeit meiner beiden Vorgängerinnen Insa Wilke und Esra Kücük. Aufbauend auf der Frage nach dem Wir in Europa vom letzten Jahr, möchte ich gemeinsam mit den Teilnehmern und den Gästen der Leipziger Buchmesse diskutieren, ob wir in Europa wirklich die besten sind und unsere Vorstellungen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft weltweit exportieren sollten. Ich setze in der Auswahl der Streitenden stärker auf gegensätzliche Meinungen, auf die Vielfalt der europäischen Stimmen. Auf das Künstlerduo Various & Gould und ihre plakative Auseinandersetzung mit Identität und Klischees freue ich mich besonders. Dank der Plakate Identikits können wir auch die Leipziger und ihre Gäste im Stadtraum in den Denk-Raum miteinbeziehen und hoffentlich zum Nachdenken anregen. Ich bin sehr gespannt auf die kommenden Messetage und freue mich sehr auf den Austausch.

Interview: Ruth Justen

Fotos Mohamed Amjahid: Götz Schleser

Identikits: Various & Gould

Beitrag teilen


Vom 15. bis 18. März öffnen die Robert Bosch Stiftung und die Leipziger Buchmesse zum dritten Mal mit dem Programmschwerpunkt Europa21 den Denk-Raum für die Gesellschaft von morgen. Sind wir wirklich die Besten? Unter dieser Überschrift lädt der diesjährige Kurator Mohamed Amjahid internationale Gäste aus Zivilgesellschaft, Kultur, Wissenschaft und Medien ein, über die europäische Vergangenheit zu reflektieren, über Gegenwart zu streiten und Ideen für die Zukunft des Kontinents zu entwickeln. Besucher der Leipziger Buchmesse können den sechs Podiumsgesprächen auf dem Leipziger Messegelände im Café Europa folgen oder sich Freitagabend aktiv am Europaduell im Zeitgeschichtlichen Forum beteiligen. Erstmals betritt eine Künstlergruppe den Denk-Raum. Various & Gould überraschen Leipziger und die Gäste in ihrer Stadt und auf dem Messegelände mit der Plakatreihe Identikits und laden zur Reflexion über Identität und Klischees ein.

Weitere Beiträge, die Sie interessieren könnten

Comic & Manga Slider

Straße der Besten

Zur Jubiläums-MCC im März 2024 löst die New Artist Alley die bisherige Gemeinschaftspräsentation MCC Kreativ ab. Im Interview sprechen Kerstin Krämer und Sassette Scheinhuber über Hintergründe – und wesentliche Neuerungen.

International Slider

Wahres Wunder Freundschaft

Buchmesse-Nachschlag, Teil 1: Die Buchmesse eröffnete mit Bundeskanzler Olaf Scholz und der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung an Omri Boehm. Der Gaza-Konflikt platzte in einen Festakt hinein, in dem es um Identitätspolitik und ihre Überwindung ging

Leipzig liest Slider

„Vor allem Frauen“ 

Alles außer flach (3): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Die flämische Schriftstellerin Annelies Verbeke

Leipzig liest Slider

Und dann hat’s BUMM! gemacht

Alles außer flach (4): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Matthijs de Ridder, der die flämische Avantgarde-Ikone Paul van Ostaijen an die Pleiße holt

Leipzig liest Slider

Please look at the Basement! 

Alles außer flach (2): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Der flämische Schriftsteller und Bildende Künstler Maarten Inghels

Leipzig liest Slider

Digitale Literaturwelten 

Alles außer flach (1): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Poetische VR und eine Geschichten-Erzählmaschine

Literarisches Leben Slider

Starke Frauen

Kurt Wolff Preis für den AvivA Verlag: Seit einem Vierteljahrhundert bringt Britta Jürgs mit Energie und Spürsinn die weiblichen Stimmen der Weltliteratur zur Geltung 

Literarisches Leben

„Die Welle reiten“ 

20 Jahre Preis der Leipziger Buchmesse (2): Mit ihrem in einem Indie-Verlag erschienenen Roman „Schäfchen im Trockenen“ gilt Anke Stelling 2019 als Außenseiterin – und gewinnt!

Bildung Slider

Leseförderung per Podcast

Die Initiative „Bücheralarm“ erlaubt es Kindern und Jugendlichen, die Welt der Bücher aktiv für sich zu erobern. Mit dem „Bücheralarm Award“, der im März in Leipzig erstmals verliehen wird, geht Initiatorin Lena Stenz nun den nächsten Schritt.

Leipzig liest Slider

Vom Buch auf die Bühne

Für seine ausgefallenen Locations ist „Leipzig liest“ berühmt. Hier stellen wir in loser Folge einige der spannendsten vor. Heute: Christoph Awe und die Cammerspiele Leipzig im Connewitzer Werk 2.

Leipzig liest Slider

Zeltplatz Mitte 

Für seine ausgefallenen Locations ist „Leipzig liest“ berühmt. Hier stellen wir in loser Folge einige der spannendsten vor. Heute: Rando Steinbach und der Outdoor-Spezialist tapir im Herzen der City.

International Slider

„Alles außer flach!“

Vorglühen: Margot Dijkgraaf und Bettina Baltschev, die Kuratorinnen des Gastlandprogramms Niederlande & Flandern 2024, über Themen, Formate und erste Namen eines großen Auftritts

International Slider

„Es geht immer ums Vollenden“ 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 3: Unter dem Motto „meaoiswiamia“ feierte Österreich die Vielfalt seiner Literatur. Insgesamt kamen rund 200 Autorinnen und Autoren aus Österreich zu mehr als 110 Veranstaltungen auf dem Messegelände und in der Stadt.

Leipzig liest Slider

Endlich! Wieder! 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 1: Die erste Gewandhaus-Eröffnung seit vier Jahren wurde mit überschäumender Freude gefeiert – überschattet vom Angriffskrieg auf die Ukraine. Aufmerksamkeitsdusche, reloaded.

Wir

„Kein Schreibtisch-Job“ 

Bitte nicht alle auf einmal: Als Referent für die Tageskassenkoordination kümmert sich Tom Geißler darum, dass wir Besucher möglichst reibungslos zu unseren Tickets und aufs Messegelände kommen. Das ist alles andere als trivial

International

Leben und Schreiben

Intelligent und unterhaltsam: Der Podcast „Literaturgespräche aus dem Rosa Salon“ mit Katja Gasser verkürzt die Zeit bis zum Gastlandauftritts Österreichs im Frühjahr.

Wir

Ideen Raum geben 

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es: Als Teamleiter bei der Leipziger Messe-Tochter FAIRNET kümmert sich Christian Merkel darum, tolle Ideen auf die Straße zu bringen.

Wir

Brücke zum Osten

März-Splitter (1): Statt Messe-Eröffnung feierte Leipzig die Verleihung des Buchpreises zur Europäischen Verständigung

International

Ahoj Leipzig!

Tschechien, Gastland der Leipziger Buchmesse 2019. Heute: Über die Sehnsucht nach Meer und einen Trabi auf vier Füßen