Autor: Stefan Mesch

Deutsche Comickultur – established 1967
3. März 2017
Seit 50 Jahren bringt der Hamburger Carlsen-Verlag Comics in den Buchhandel. Ein Interview mit Klaus Schikowski.
Autor: Stefan Mesch

Deutsche Comickultur – established 1967
3. März 2017
Seit 50 Jahren bringt der Hamburger Carlsen-Verlag Comics in den Buchhandel. Ein Interview mit Klaus Schikowski.

Auf der Leipziger Buchmesse feiert Carlsen Comics sein 50-jähriges Jubiläum. Herr Schikowski: Sie sind Comickritiker, Buchautor, Comicexperte – und seit 2014 Programmleiter von Carlsen Comics.

Welche Titel waren die großen Meilensteine, unterwegs?

1967, mit Tim und Struppi, fing alles an. Damit wurde auch der Grundstein für das Softcover-Albumfomat im Buchhandel gelegt. In den 1980er Jahren gründete man das Label Carlsen Spezial Comics, später Edition ComicArt. Bis dahin bestand das Programm hauptsächlich aus frankobelgischen Funny- und Abenteuer-Comics. Mit Titeln wie Reisende im Wind von F. Bourgeon oder Corto Maltese von H. Pratt öffnete es sich dann in Richtung Erwachsenencomic.

Unter diesem Label erschienen dann auch erstmals deutschsprachige Autoren, Chris Scheuer und Matthias Schultheiss, die sich in Frankreich bereits einen Namen gemacht hatten. Es folgten amerikanische Superheldencomics (The Dark Knight returns von F. Miller und Watchmen von Moore und Gibbons) und die ersten Manga – allerdings in westlicher Leserichtung, da sie zunächst aus den USA importiert wurden.

Der Manga „Akira“ erschien ab 1991 in Deutschland – und war recht wegweisend.

Ja. Aber erst, als Manga auch in östlicher Leserichtung veröffentlicht wurden, begann das Genre zu boomen. Durch den Erfolg wurde daraus eine eigene Abteilung, Carlsen Manga.

Rückblickend enorm wichtig waren auch die Veröffentlichungen deutscher Künstler zu Beginn der Nullerjahre, denn mit Flix (Held) und Reinhard Kleist (Cash) hob man nicht nur das Label „Graphic Novel“ aus der Taufe, sondern legte den Grundstein für eine neue deutsche Comickultur, mit einem neuen Selbstverständnis.

Steht Carlsen als Comicverlag bei zwei Generationen für zwei verschiedene Kundschaften und Welten? Zum einen gibt es viele französische und belgische Alben, altmodische „Funnies“: teure Hardcover für ein wohlhabendes, meist männliches und älteres Publikum. Cartoon-Nostalgie?

Es ist sicher richtig, dass sich der Comicleser im Laufe der Jahre verändert hat. Wie sich ja überhaupt auch der Comic verändert hat. Man muss sich dazu nur einmal vorstellen, dass die wichtigsten und bekanntesten Comicfiguren schließlich alle älter als 50 Jahre sind. Sie sind regelrecht in einer anderen Zeit entstanden. Was man ja auch deutlich spürt. Die Zeit, in der sie entstanden sind, schwingt mit.

Die Leser, die damals mit diesen Serien aufgewachsen sind, wünschen sich noch einmal eine bibliophile Veröffentlichung der Klassiker. Allerdings ist das gerade die große Herausforderung: Wie können solche vermeintlich alten Helden noch lebendig gehalten werden?

Einerseits darf man die Tradition nicht verleugnen, andererseits wünscht man sich diese Helden in einem modernen Setting. Wie man diesen Spagat gut meistert, zeigt die Serie Spirou, die parallel zur Hauptserie neue Abenteuer von modernen Autoren erzählen lässt, die grafisch auch etwas innovativer sind. Das wird es in Zukunft auch von anderen Serien geben (Valerian, Blake und Mortimer). Ein interessanter Weg, auch noch einmal ein anderes Lesepublikum zu erreichen.

Auf der anderen Seite verlegt Carlsen sehr viele Manga – preiswert, und bei jungen Leserinnen und Lesern beliebt… aber oft kein Thema z.B. im Comic-Feuilleton. Treffen sich diese beiden Welten irgendwo? Oder sind das zwei ganz verschiedene Käufer- und Zielgruppen?

Comics und Manga haben tatsächlich eine eigene Geschichte, die darin gipfelt, dass einige sagen, sie läsen keine Comics, nur Manga, obwohl ja beide zu den Bilderzählungen zu zählen sind und der Manga sozusagen Comic fernöstlicher Prägung ist, wenngleich die Stilistik und die Codes andere sind. Aber bis in die 1980er Jahre hat sich der Manga fast im Alleingang in Japan entwickelt und die westliche Comicwelt nahm kaum Notiz davon.

Doch die Schere geht noch weiter auf: Moderne Comics erzählen anders, sie bedienen sich einer größeren grafischen Bandbreite und nehmen Einflüsse aus Illustration und Design mit. Überhaupt sind es nicht mehr kulturelle Schulen, die dem Comic den Stempel aufdrücken, sondern die Grafik wird freier. Genau diese Diversifikation macht auch das Programm von Carlsen heutzutage aus.

Haben Sie einen Alben-Tipp: etwas, das mir nicht altbacken vorkommen wird?

Tyler Cross von Nury und Brüno erzählt eine Gangster-Genregeschichte ganz frisch und clever und spielt mit verschiedenen Versatzstücken: So wird hier zum Beispiel der frankobelgische Semifunny-Stil weiterentwickelt. Bei Spirou Spezial machen die nostalgisch anmutenden Modernisierungen der Figur von Emile Bravo oder Olivier Schwartz besonderen Spaß.

Allerdings wird gerade in anderen Formaten die Form weitergedacht. Wie Catherine Meurisse beispielsweise ihr Trauma in Die Leichtigkeit bekämpft ist mehr als außergewöhnlich: Sie lässt ihre Figuren, die mehr aus der Karikatur zu kommen scheinen, in aquarellierten Hintergründen verschwinden, ein ganz großes Leseerlebnis, welches durch die Aktualität – es geht um den Anschlag auf Charlie Hebdo – eine weitere, tief emotionale Komponente enthält.

Und umgekehrt? Haben Sie einen Manga-Tipp für all die Leute, die sonst nur Alben kaufen?

Es sind die Wanderer zwischen den Welten, die zu empfehlen sind: Jiro Taniguchi, der wie kein zweiter europäische Einflüsse in seine ruhigen Alltagsbeobachtungen einfließen lässt, Tatsumi, der als Vorreiter eines Erwachsenencomics in Japan gilt und natürlich Urasawa, dessen Langerzählungen (Monster, Billy Bat, Pluto) ein popkulturelles Potpourri sind.

Was bietet Carlsen auf der Messe?

Carlsen Comics und Carlsen Manga haben gemeinsam eine Präsenz in Halle 1 und am Comicgemeinschaftsstand. Unsere Schwerpunkte sind das Erscheinen eines weiteren Bandes aus der Kindercomicreihe Ferdinand von Flix und die Krimiadaption Der Nasse Fisch von Aren Jysch. Beide Künstler sind auch vor Ort, werden an Veranstaltungen teilnehmen sowie ihre Bücher signieren. Gerade auf das neue Buch von Arne Jysch darf man sehr gespannt sein, da er die bekannte Gereon-Rath-Krimireihe von Volker Kutscher, die in den 20er Jahren in Berlin spielt, als Graphic Novel adaptiert.

Was liegt Ihnen im 50. Jahr von Carlsen Comics besonders am Herzen?

Einerseits das Feiern mit unseren traditionellen Marken, andererseits auch das Programm weiterzubringen und tolle Novitäten zu veröffentlichen. Ich freue mich beispielsweise sehr auf den Cave von Reinhard Kleist. Ein großartiges Buch, das sogar Nick Cave selbst total begeistert hat. Ich hoffe allerdings auch, dass wir über das Jubiläum auch mehr Leute zum Comiclesen bewegen können.

Sind Comics eine Industrie, Fließbandarbeit… oder sind die Gewinnmargen so niedrig und die Risiken so hoch, dass sich die Künstler*innen oft sehr verausgaben?

Es ist eine große Herausforderung für deutsche Künstler, die ernsthaft von ihren Comics leben möchten. Mittlerweile haben es einige glücklicherweise geschafft, jedoch ist die Arbeit an einem 200-seitigen Band so aufwändig, dass man gemeinsam verschiedene Modelle schaffen muss, denn allein von den Vorschüssen auf die zu erwartenden Verkäufe können die Künstler nicht leben. Verlage, die ohne Risiko arbeiten, veröffentlichen keine Comics.

Ist Carlsen ein Einzelkämpfer – oder gibt es tolle Reihen und Projekte in anderen Verlagen, die Sie bewundern?

Nein, mittlerweile gibt es viele Mitstreiter, die sich mit viel Engagement dem Comic in all seinen Facetten widmen. Ich finde es beispielsweise toll, was der avant-verlag mit seinen Liebhaberausgaben vergessener Klassiker macht. Das Programm von Reprodukt hat Vorbildcharakter für jeden ernsthaften Comicleser. Allerdings habe ich auch die Befürchtung, dass der Comic selbst immer mehr zum Nischenprodukt wird und die Auflagen immer weiter runtergehen. Das wäre äußerst schade, da gerade Bestseller auch Aufmerksamkeit generieren. Doch die werden immer rarer.

Ich habe das Gefühl, jedes Kind sieht dauernd Cartoons oder spielt cartoonhafte digitale Spiele – doch sind Comics noch Massenunterhaltung? Wie hat sich das in 50 Jahren verändert: Geht es mittlerweile meist um Liebhaber, Eingeweihte – oder potenziell doch immer um das große Massenpublikum?

Früher waren Comics, da sie ja auch in Zeitungen erschienen, ein Massenmedium. Auch die Comics im Pressegrosso in den 1970ern haben sich sechsstellig verkauft. Doch die Zeiten haben sich grundlegend gewandelt. Da muss man schon eher von einem Nischenprodukt sprechen. Unsere Verkaufszahlen von Reihen wie Tim und Struppi, Spirou oder Marsupilami legen allerdings nahe, dass es ein weitaus größeres Potenzial an Comiclesern geben muss, diese muss man nur mit Qualität und guten Geschichten finden und überzeugen. Denn dass die Bilderzählung, ergo Comics, ganz wunderbare Geschichten erzählen kann, die zudem noch höchst eigenständig mit einer eigenen Bildsprache aufwarten, das dürfte mittlerweile weitläufig bekannt sein.

Herr Schikowski: vielen Dank!

Der freie Journalist Stefan Mesch führte das Interview.

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