Fotos: Thomas Victor
Hörspiele anhören, im besten Fall gut finden – das kann jeder. Aber ein Hörspiel selbst produzieren, vom frei gewählten Thema bis zum fertigen Stück, in einem wahren Höllentempo – das ist cool. Im Rahmen der Werkstatt+ der Leipziger Buchmesse, koordiniert von der European Learning Industry Group (ELIG), konnten Schülerinnen und Schüler von der fünften bis zur 12. Klasse innerhalb von zwei Tagen gemeinsam ein Hörspiel entwickeln – einen kollektiven Messekrimi. In sechs kurzen Workshops sollte ein akustisches Format entstehen, das von Themenfindung und Stoffentwicklung über die Aufnahme und das Schauspielen bis zur Produktion von den Nachwuchs-Hörspielmachern selbst gestaltet und umgesetzt wird. Das Ganze mit viel Improvisation, einem Höchstmaß an Selbstbestimmung und in intensiver Teamarbeit. Die ersten vier Gruppen entwickelten je ein Kapitel des Hörspiels, die letzten beiden Gruppen kümmerten sich um Sounddesign, Schnitt und Montage. Und alle konnten voneinander lernen: Waren die Jüngsten am Überzeugendsten in der schauspielerischen Improvisation, verstanden es die Ältesten, logische Mängel im Storytelling aufzuspüren.
„Hey, ich kann Hörspiel!“
„Durch die Arbeit im Kollektiv lernen die Jugendlichen einerseits alle Schritte einer Hörspielproduktion kennen, andererseits erfahren sie, dass innerhalb einer Stunde eine Szene entwickelt, gespielt und aufgenommen werden kann“, sagt die Hörspielmacherin Carina Pesch, die die Workshops leitete. „Empowerment“, nennt Pesch das, ein Begriff, der häufig in Sozialarbeit und politischer Bildung benutzt wird. Pesch, Jahrgang 1983, lebt als Autorin, Regisseurin und Klangkünstlerin in Leipzig; im Verein Geräuschkulisse e.V. engagiert sie sich für den Erhalt und die Verbreitung von Hörstücken – egal ob dokumentarisch oder fiktiv, ob Hörspiel, Feature oder Klangkunst. Im Rahmen der Werkstatt+ auf der Buchmesse, angesiedelt im Fokus Bildung in Halle 2, wurden Schülerinnen und Schüler zu Online-Journalisten, die live übers Messegeschehen berichteten, oder eben zu kreativen Hörspielmachern.
Die Schülerinnen und Schüler hatten die Vorgabe, einen Krimi, der auf der Buchmesse spielt, zu entwickeln. Wer nun an eine angestaubte „Emil und die Detektive“-Adaption dachte, war schief gewickelt. Überraschenderweise waren es die Jüngsten, die das Thema „Social Media“ setzen – und überaus reflektiert und kritisch damit umgingen. „Wichtig war den Kids von Anfang an, dass soziale Medien per se weder ‚gut’ noch ‚böse’ sind – sondern dass es auf den richtigen Umgang mit ihnen ankommt“, erinnert sich Pesch. Als Dreh- und Angelpunkt dienten den jungen Hörspielmachern „Challenges“ wie die „Blue Whale Challenge“, die über soziale Medien verbreitet werden und die Teilnehmer im Laufe der Zeit zu kriminellen Aktionen, in Extremfällen sogar zum Selbstmord treiben. Ein ernstes Thema, das viele Erwachsene vermutlich nicht auf dem Schirm haben – an Schulen aber heiß diskutiert wird.
Hochgeschwindigkeits-Pingpong
Während eine reguläre Hörspielproduktion – etwa für einen öffentlich-rechtlichen Sender – ein hoch professionelles Team bis zu drei Monaten auf Trab halten kann, standen Carina Pesch auf der Buchmesse sechs anderthalbstündige Workshops, verteilt auf zwei Tage, zur Verfügung. „Das war ein sehr sportliches Programm“, erinnert sie sich, „was aber auch seine Vorteile hatte: Alles war Improvisation, alles musste sehr, sehr schnell gehen. Im Vergleich zu uns Erwachsenen sind Kinder und Jugendliche unglaublich gut darin, ganz spontan ganz tolle Ideen auf den Tisch zu packen. Meine Aufgabe war es dann, die Ideen rauszugreifen, die für die Geschichte funktionieren könnten. Und dann den Ball wieder zurückzuspielen und zu fragen: OK, wie könnte die Geschichte jetzt in Fahrt kommen?“ Ein Hochgeschwindigkeits-Pingpong, das allen Beteiligten hörbar Spaß machte.
Ein verblüffender Twist
Da die Kinder und Jugendlichen alles selbst entwickelten, ist die entstandene fiktive Geschichte sehr nah an ihrer Lebensrealität angesiedelt. Vom Ausgriff ins Manga-Genre bis zur psychologischen Auslotung des Täter-Profils: Oft wurde in der schauspielerischen Improvisation auf eigene Erfahrungen zurückgegriffen. Auch der verblüffende Twist der Story, dass der jugendliche Entführer Täter und – als Teilnehmer einer Challenge – Opfer in einer Person ist, entstand im kreativen Arbeitsprozess der Gruppe. „Das ist etwas, was Geschichten stark macht und uns zeigt, warum sie andere Menschen berühren können“, sagt Carina Pesch. „Weil wir immer etwas von uns selbst mit hineingeben, wozu andere in Beziehung treten können“.
Fokus Bildung Deutschlands größte Leseförderungs- und Medienbildungsmesse. Damit sich auch der Nachwuchs aktiv in die Politik einmischt und eine offene Diskussionskultur lebt, widmet sich die Leipziger Buchmesse seit 2018 verstärkt neuen Ansätzen zur politischen Bildung und zur Förderung von Medienkompetenz. Die Werkstatt+, ein Gemeinschaftsprojekt der Leipziger Buchmesse, der Verlagsgruppe Westermann, der AOK Plus und Lemonaid, organisiert von der European Learning Industry Group (ELIG), soll kreatives Denken fördern und Möglichkeiten vernetzten Lernens demonstrieren – von der Frage, wie Geschichten in Hörspiel und Film entstehen, bis zu Wissenschaft, Journalismus oder den Sozialen Medien.