„Ich hatte einen blinden Fleck in Bezug auf all die Frauen, die vor mir geschrieben haben“, sagt Annelies Verbeke im prächtigen, holzgetäfelten Veranstaltungsraum von Flanders Literature in der Langen Leemstraat von Antwerpen. Verbeke, geboren 1976 im belgischen Dendermonde, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Drehbücher. Ihre Werke wurden in 26 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem J.M.A. Biesheuvel-Preis. Annelies Verbeke ist Mitglied der niederländisch-flämischen Kollektivs Fixdit, einer Vereinigung von zwölf Autorinnen, die sich für mehr Gleichberechtigung in der Literaturbranche einsetzt.
Das während der Corona-Pandemie gegründete Fixdit-Kollektiv startete einen von Annelies Verbeke und Jannah Loontjens betriebenen Podcast über Klassiker des 20. Jahrhunderts aus der Feder von Frauen – und veröffentlichte unter dem Titel Optimistic Anger ein Manifest, in dem Geschlechtervorurteile und -ungleichheit vor ihrem historischen Hintergrund und im internationalen Kontext diskutiert werden: Wer waren die weiblichen Vorgängerinnen und warum wurden sie nicht kanonisiert? Welche Autorinnen aus aller Welt prägen die Arbeit des Kollektivs? Und in welchen Genres drücken sie sich aus? Gibt es so etwas wie ‚weibliche Literatur’? Und vor allem: Was können Schreibende, Lesende und Buchhändlerinnen tun, um diese weiblichen Stimmen zu verstärken? Eine vielstimmige Debatte über literarische Polyphonie brach sich Bahn. „Es brauchte lange, bis ich begriff, dass man etwas tun muss, um den Kanon zu verändern“, sagt, Verbeke. „Von allein passiert nichts.“
Nach Leipzig reist Annelies Verbeke mit einem kleinen, feinen Band aus dem noch relativ jungen Golden Luft Verlag (Mainz). Ein Verlag, der sich der Edition ausgewählter literarischer Texte in schönen Ausgaben verschrieben hat und sich dabei vor allem der kleinen Form verschrieben hat – Prosastücke, Lyrik und Erzählungen –, die in der heutigen Literaturlandschaft oftmals übersehen wird. Das Spektrum der Autorinnen und Autoren reicht von Klassikern wie Stefan Zweig und Franz Kafka über Wiederentdeckungen wie Emmanuel Bove und Jean Rhys bis hin zu renommierten zeitgenössischen Schriftstellern wie John Burnside und Esther Kinsky.
Die beiden für Verbekes Band ausgewählten Erzählungen sind ihrem Erzählwerk „Treinen en kamers“ (Züge und Räume) aus dem Jahr 2021 entnommen, in dem jeder Text durch eine Vorlage aus der Weltliteratur inspiriert wurde. „Verlorener Gesang“ besingt in klassischer Versform, die Homers Odyssee nachempfunden ist, das ewige Flüchtlingsdrama in den Lagern auf griechischen Inseln. Es ist ein berührendes Klagelied aus der Sicht eines verzweifelten Helfers. In „Mantel der Liebe“ findet eine Frau in einem vollbesetzten Zugabteil einen ihr heimlich zugesteckten Dolch. Langsam reift in ihr eine schreckliche Erkenntnis. Er stellt die Aufforderung dar, sich in Anverwandlung ihres Studiengegenstands, der mesopotamischen Dichterin Enheduanna, damit selbst zu töten.
Im Literaturhaus Leipzig werden zu Messe starke weibliche Stimmen aus den Niederlanden und Flandern zu erleben sein: Unter dem von Connie Palmens aktuellem Buch entlehnten Titel „Vor allem Frauen“ führt der Abend mit Connie Palmen, Annelies Verbeke, Mariken Heitman und Jasmin Galonski Autorinnen aus zwei Generationen zusammen – eine Feier der weiblichen Literatur.
Wann & Wo
22. März, 15 Uhr, Messestand Gastland Niederlande / Flandern (Halle 4, D 300/C 301): Kopje Koffie mit Annelies Verbeke
22. März, 19 Uhr, Literaturhaus Leipzig: Vor allem Frauen. Lesung und Gespräch mit Connie Palmen, Annelies Verbeke, Mariken Heitman und Jasmin Galonski