Es ist zwanzig vor fünf an diesem Buchmessedonnerstag 2012, in der sonnendurchfluteten Glashalle wird gleich der Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik verkündet und man kƶnnte die sprichwƶrtliche Stecknadel fallen hƶren. Als Wolfgang Herrndorf und sein Roman āSandā genannt werden ā 2011 war der Autor hier schon einmal mit āTschickā nominiert, Wahnsinn! ā schiebt sich Robert Koall, Chefdramaturg des Dresdner Staatsschauspiels, aus den Sitzreihen, entert die Bühne und tritt ans Mikro: āIch bin von Wolfgang Herrndorf gebeten worden, im Erfolgsfall heute für ihn einzuspringen, ich freue mich wahnsinnig, freue mich in seinem Namen, weiĆ auch, dass er sich wahnsinnig freut, und er hat mir einen Satz mitgegeben: āDie Sonne geht immer hinter der Düne unter, die dir gerade am nƤchsten ist.ā In diesem Sinne vielen Dank für die Jury, vielen Dank für den Preis, danke für das viele schƶne Geld.ā Beifall brandet, die ein oder andere TrƤne wird verdrückt. Aber: Was, bitte, hat es mit dem rƤtselhaften Satz auf sich, den der frisch gekürte PreistrƤger unbedingt in die Welt tragen wollte ā und der, auch zehn Jahre nach Herrndorfs Tod, noch immer auf Youtubenachhallt?
Anruf zwƶlf Jahre spƤter bei Robert Koall, inzwischen Chefdramaturg und stellvertretender Generalintendant am Düsseldorfer Schauspielhaus. Koall erinnert sich noch genau an jenen Glücksmoment und seine Vorgeschichte. Als Herrndorfs Roman Anfang Februar 2012 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, stand für den Autor fest, dass er unter keinen UmstƤnden persƶnlich kommen würde. Seine Erkrankung war zu diesem Zeitpunkt bereits sehr weit fortgeschritten; schon den Deutschen Jugendliteraturpreis für āTschickā hatte im Herbst 2011 Kathrin Passig für ihn auf der Frankfurter Buchmesse entgegengenommen. Als feststand, dass Robert Koall im Fall der FƤlle den Preis entgegennehmen würde, lief im Internet-Forum āWir hƶflichen Paparazziā ā in dem damals fast alle aus Herrndorfs groĆem Freundeskreis verbandelt waren ā die Vorbereitungs-Diskussion heiĆ. Besonders emsig wurde im Kreis der āPappenā gefachsimpelt, welche Botschaften im Ernstfall in einer Dankesrede unterzubringen wƤren. Running Gag im Forum waren damals die āWeisheiten der Fulbeā, laut Koall āsinnlose Zuckertüten-Aphorismenā, die man einem realexistierenden, laut Wikipedia einstmals nomadisierenden Westafrikanischen Hirtenvolk unterschob. Ein āSprichwort der Fulbeā hatte es bereits, neben echten Worten von Herodot bis Stephen Hawking, als Mottozitat in āSandā geschafft. Der Nonsens-Satz āWer nicht weiĆ, wohin er geht, erreicht mit jedem Schritt sein Zielā leitet dort Kapitel 11 ein. In der Nacht vor der Preisverleihung wurde dann jener Satz mit Sonne und Düne geboren, der, wie Koall lachend gesteht, āweder astronomisch noch sonst wie Sinn machtā.
Als es dann soweit ist und er leibhaftig auf der Glashallen-Bühne steht, freut sich Koall nicht nur für Herrndorf, sondern für alle āPappenā, den Freundeskreis, der die Verleihung natürlich im Livestream verfolgte. āIch wusste, alle schauen zu!ā Wolfgang Herrndorf selbst meldet sich ein paar Minuten spƤter im Forum und fragt kreuzbrav: āHabā ich was verpasst?ā Treffer versenkt. Das gilt auch für den frei erfunden Satz: Der kleine Guerilla-Gag wird von den Medien aufgegriffen ā die SZ macht ein āafrikanisches Sprichwortā daraus, die F.A.Z. einen āSinnspruch aus Nordafrikaā. Für Robert Koall endet der Tag weit nach Mitternacht, im Taxi fƤhrt er aus einem MDR-Studio ins Hotel. Er hat die mediale Nach-Wirkung des Preises unterschƤtzt: āIch dachte: Super, jetzt gibtās Sekt, Schnittchen und Party! Gabās auch ā aber ich hatte wƤhrenddessen einen Interview-Marathon zu absolvieren.ā Als die āPappenā am nƤchsten Tag im Berliner āPrassnikā, ihrer Stammkneipe, Wolfgang Herrndorfs Leipziger Buchpreis feiern, ist Robert Koall schon wieder auf Arbeit im Theater. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.

Robert Koall, geboren 1972 in Kƶln, studierte zunƤchst einige Semester Jura, Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Freien UniversitƤt Berlin. Von 1995 bis 1998 war er Assistent von Christoph Schlingensief, anschlieĆend arbeitete er als Dramaturg an den SchauspielhƤusern in Hamburg, Zürich und Hannover. Von 2009 bis 2016 war er Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden, seit der Saison 2016/17 ist er Chefdramaturg und stellvertretender Generalintendant am Düsseldorfer Schauspielhaus. Koall hat zahlreiche Romane für das Theater bearbeitet, darunter āTschickā von Wolfgang Herrndorf, das zum meistgespielten Bühnenstück der 2010-er Jahre wurde.
Am Düsseldorfer Schauspielhaus lƤuft derzeit Wolfgang Herrndorfs āArbeit und Strukturā in einer sehr sehenswerten Bühnenfassung von Robert Koall (Regie: Adrian Figueroa).
Preis der Leipziger Buchmesse 2012 im Video