Autor: Nils Kahlefendt

Preis der Leipziger Buchmesse 2012: Robert Koall nimmt stellvertretend für Gewinner Wolfgang Herrndorf den Belletristik-Preis entgegen (Foto: Norman Rembarz)

Weisheit der FulbeĀ 
29. Januar 2024
20 Jahre Preis der Leipziger Buchmesse (1): 2012 gewinnt Wolfgang Herrndorf mit ā€žSandā€œ – und sorgt mit seinen Freunden für einen Guerilla-Gag
Autor: Nils Kahlefendt

Preis der Leipziger Buchmesse 2012: Robert Koall nimmt stellvertretend für Gewinner Wolfgang Herrndorf den Belletristik-Preis entgegen (Foto: Norman Rembarz)

Weisheit der FulbeĀ 
29. Januar 2024
20 Jahre Preis der Leipziger Buchmesse (1): 2012 gewinnt Wolfgang Herrndorf mit ā€žSandā€œ – und sorgt mit seinen Freunden für einen Guerilla-Gag

Es ist zwanzig vor fünf an diesem Buchmessedonnerstag 2012, in der sonnendurchfluteten Glashalle wird gleich der Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik verkündet und man kƶnnte die sprichwƶrtliche Stecknadel fallen hƶren. Als Wolfgang Herrndorf und sein Roman ā€žSandā€œ genannt werden – 2011 war der Autor hier schon einmal mit ā€žTschickā€œ nominiert, Wahnsinn! – schiebt sich Robert Koall, Chefdramaturg des Dresdner Staatsschauspiels, aus den Sitzreihen, entert die Bühne und tritt ans Mikro: ā€žIch bin von Wolfgang Herrndorf gebeten worden, im Erfolgsfall heute für ihn einzuspringen, ich freue mich wahnsinnig, freue mich in seinem Namen, weiß auch, dass er sich wahnsinnig freut, und er hat mir einen Satz mitgegeben: ā€šDie Sonne geht immer hinter der Düne unter, die dir gerade am nƤchsten ist.’ In diesem Sinne vielen Dank für die Jury, vielen Dank für den Preis, danke für das viele schƶne Geld.ā€œ Beifall brandet, die ein oder andere TrƤne wird verdrückt. Aber: Was, bitte, hat es mit dem rƤtselhaften Satz auf sich, den der frisch gekürte PreistrƤger unbedingt in die Welt tragen wollte – und der, auch zehn Jahre nach Herrndorfs Tod, noch immer auf Youtubenachhallt?  

Anruf zwƶlf Jahre spƤter bei Robert Koall, inzwischen Chefdramaturg und stellvertretender Generalintendant am Düsseldorfer Schauspielhaus. Koall erinnert sich noch genau an jenen Glücksmoment und seine Vorgeschichte. Als Herrndorfs Roman Anfang Februar 2012 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, stand für den Autor fest, dass er unter keinen UmstƤnden persƶnlich kommen würde. Seine Erkrankung war zu diesem Zeitpunkt bereits sehr weit fortgeschritten; schon den Deutschen Jugendliteraturpreis für ā€žTschickā€œ hatte im Herbst 2011 Kathrin Passig für ihn auf der Frankfurter Buchmesse entgegengenommen. Als feststand, dass Robert Koall im Fall der FƤlle den Preis entgegennehmen würde, lief im Internet-Forum ā€žWir hƶflichen Paparazziā€œ – in dem damals fast alle aus Herrndorfs großem Freundeskreis verbandelt waren – die Vorbereitungs-Diskussion heiß. Besonders emsig wurde im Kreis der ā€žPappenā€œ gefachsimpelt, welche Botschaften im Ernstfall in einer Dankesrede unterzubringen wƤren. Running Gag im Forum waren damals die ā€žWeisheiten der Fulbeā€œ, laut Koall ā€žsinnlose Zuckertüten-Aphorismenā€œ, die man einem realexistierenden, laut Wikipedia einstmals nomadisierenden Westafrikanischen Hirtenvolk unterschob. Ein ā€žSprichwort der Fulbeā€œ hatte es bereits, neben echten Worten von Herodot bis Stephen Hawking, als Mottozitat in ā€žSandā€œ geschafft. Der Nonsens-Satz ā€žWer nicht weiß, wohin er geht, erreicht mit jedem Schritt sein Zielā€œ leitet dort Kapitel 11 ein. In der Nacht vor der Preisverleihung wurde dann jener Satz mit Sonne und Düne geboren, der, wie Koall lachend gesteht, ā€žweder astronomisch noch sonst wie Sinn machtā€œ.  

Als es dann soweit ist und er leibhaftig auf der Glashallen-Bühne steht, freut sich Koall nicht nur für Herrndorf, sondern für alle ā€žPappenā€œ, den Freundeskreis, der die Verleihung natürlich im Livestream verfolgte. ā€žIch wusste, alle schauen zu!ā€œ Wolfgang Herrndorf selbst meldet sich ein paar Minuten spƤter im Forum und fragt kreuzbrav: ā€žHab’ ich was verpasst?ā€œ Treffer versenkt. Das gilt auch für den frei erfunden Satz: Der kleine Guerilla-Gag wird von den Medien aufgegriffen – die SZ macht ein ā€žafrikanisches Sprichwortā€œ daraus, die F.A.Z. einen ā€žSinnspruch aus Nordafrikaā€œ. Für Robert Koall endet der Tag weit nach Mitternacht, im Taxi fƤhrt er aus einem MDR-Studio ins Hotel. Er hat die mediale Nach-Wirkung des Preises unterschƤtzt: ā€žIch dachte: Super, jetzt gibt’s Sekt, Schnittchen und Party! Gab’s auch – aber ich hatte wƤhrenddessen einen Interview-Marathon zu absolvieren.ā€œ Als die ā€žPappenā€œ am nƤchsten Tag im Berliner ā€žPrassnikā€œ, ihrer Stammkneipe, Wolfgang Herrndorfs Leipziger Buchpreis feiern, ist Robert Koall schon wieder auf Arbeit im Theater. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.  

Robert Koall, Chefdramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus (c)Thomas Rabsch

Robert Koall, geboren 1972 in Kƶln, studierte zunƤchst einige Semester Jura, Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Freien UniversitƤt Berlin. Von 1995 bis 1998 war er Assistent von Christoph Schlingensief, anschließend arbeitete er als Dramaturg an den SchauspielhƤusern in Hamburg, Zürich und Hannover. Von 2009 bis 2016 war er Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden, seit der Saison 2016/17 ist er Chefdramaturg und stellvertretender Generalintendant am Düsseldorfer Schauspielhaus. Koall hat zahlreiche Romane für das Theater bearbeitet, darunter ā€žTschickā€œ von Wolfgang Herrndorf, das zum meistgespielten Bühnenstück der 2010-er Jahre wurde.

Am Düsseldorfer Schauspielhaus lƤuft derzeit Wolfgang Herrndorfs ā€žArbeit und Strukturā€œ in einer sehr sehenswerten Bühnenfassung von Robert Koall (Regie: Adrian Figueroa).

Preis der Leipziger Buchmesse 2012 im Video

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Die besten Drei: Am 21. MƤrz, dem ersten Tag der Leipziger Buchmesse, werden um 16 Uhr die PreistrƤgerinnen und PreistrƤger in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung bekanntgegeben. LƤngst hat sich der vom Freistaat Sachsen und der Stadt Leipzig unterstützte, mit insgesamt 60.000 Euro dotierten Preis zu einer der wichtigsten literarischen Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum entwickelt – fürs Lesepublikum ist er ein verlƤsslicher Kompass in der Flut der Neuerscheinungen. Aus Anlass des runden Geburtstags erinnern wir in einer kleinen Serie noch einmal an denkwürdige Momente aus 20 Jahren Preis der Leipziger Buchmesse.

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