Erster Textabschnitt fehlt: „Merkwürdiger Weise freue ich mich immer wieder auf die Buchmesse. Das gilt insbesondere für Leipzig, weil es dann schon März ist, fast Frühling, kurz vor Ostern, der Glasbau suggeriert einen Jahrmarkt im Sonnenlicht. Außerdem ist in Leipzig jede Lesung gut besucht.
Doch schon bei der Ankunft spüre ich meine Gesichtsmuskeln. Die Begrüßungen begannen auf dem Bahnsteig in Berlin, setzten sich im Zug auf der Suche nach einem Platz fort und kulminierten als aufgekratztes Geplauder im Mitropa-Wagen (Bordrestaurant). In der überfüllten Straßenbahn zum Messegelände sehe ich zwischen und über vielen Köpfen eine Bekannte aus Frankfurt, wir winken uns zu, gestikulieren. Nach dem Aussteigen warte ich, sie aber ist in Begleitung, ich begrüße auch die beiden Herrn, ich laufe neben ihnen her, sie haben etwas zu besprechen. Ich winke ihnen zum Abschied etwas linkisch zu und laufe schneller, aber so sehr ich mich auch bemühe, sie halten Schritt, sie lassen mich nicht entkommen. Vor der Drehtür der Eingangshalle warten wir nebeneinander. Ich tue so, als würde ich sie nicht sehen. An der Garderobe treffe ich zwei Frauen aus der Presseabteilung meines Verlags, wir begrüßen uns herzlich, mit ihnen zusammen wird alles leichter.
Jemand hält mir ein Buch unter die Nase. Ich bin erfreut, sehr gern, sehr gern signiere ich, sage ich. Wo ist meine Messekarte, ach, ich brauche noch mal den Mantel. Da sehe ich K. Mensch K.! Wie schön, dein letzter Geburtstag… Der Moderator P. steht plötzlich zwischen uns, ob ich nicht heute noch mal fünf Minuten Zeit hätte. Klar, kein Problem, fünf Minuten. Wo? Sie können den Mantel wieder aufhängen. Jemand drückt seine Hände auf meine Schultern. Ach, Du, Glückwunsch zum neuen Buch, sage ich. Ich habe noch nicht mal sein letztes gelesen, obwohl es eine freundschaftliche Widmung trägt. Wann liest Du? Ja, ich habe nichts vor, ich komme, bis dann. Geht mal lieber, sage ich und mache eine blöde Handbewegung, als wollte ich meine Verlagsfrauen fortscheuchen. Wenigstens vorstellen hätte ich sie können.
Ich grüße jemanden, ich kenne sie, sie nickt kurz und sieht weg, woher kenne ich sie… Kennt ihr Euch? fragt K. Ich überlege. Mist, das war die heute-Moderatorin. Hallo Ingo, hallo. Ich habe Recht behalten, nicht wahr, sagt sie. Keine Ahnung, wer das ist, was sie will. Ich bin Beate. Sie können auch mal zu uns kommen, sagt Beate zu K, so wie Ingo. Na nach Münster. Erinnerst du dich nicht? Ich grüße den Kollegen F., er hat kalte Hände, der Buchpreis, sagt er, drückt mir die Daumen, sagt er. Ich drücke dir die Daumen, sage ich. Wieso drückst du dem denn die Daumen? fragt mich K. Kalte Hände und gute Literatur sind zwei verschiedene Sachen! Ich beteuere meiner Freundin K., dass ich ihre Sachen wirklich gut finde, kein Vergleich mit den Sachen von F., natürlich meine ich das ernst, für wen hältst du mich denn? Ich gebe D. die Hand, eigentlich haben wir uns sonst herzlicher begrüßt, das tut mir leid, D. wirkt verstimmt. Bei P., die ich umarmen will, spüre ich, wie sie mich mit ausgestrecktem Arm auf Distanz hält. Sie hat Recht, dieses Geknutsche überall.
Während ich versuche, K. zuzuhören, fällt mir wieder ein, wie man sich eigentlich auf Messen verhalten sollte: Keinesfalls den Kopf heben, schon gar nicht mit dem Blick eines neugierigen Hundes herumirren, sondern immer schön nach unten geschaut, knapp vor die Fußspitzen. Aus den Augenwinkeln erkenne ich eine Gruppe von Kollegen, sie sehen zu uns, sie winken, K. winkt zurück, ich will aber jetzt K. zuhören, ich sehe die Kollegen nicht, soll K. winken, ich bin ganz auf sie konzentriert. Hast Du was gegen M.? fragt K. Nee, wieso? Ich dachte, sagt K.
Als ich zehn Minuten später in entgegensetzter Richtung eile, der Moderator P. sagte, ich solle pünktlich sein, eine live-Schaltung, stehen die Kollegen immer noch da. Ich begrüße sie überrascht und aufgeräumt. Zu meiner eigenen Verwunderung sage ich: How are you, good to see you. Niemand lächelt. Ich bleibe stehen. Warum tue ich das? Ich habe keine Zeit, aber ich will zeigen, dass ich auch ganz ruhig sein und zuhören kann. Aber selbst das missglückt. Ich irre noch keine halbe Stunde auf der Messe herum und habe bereits fünf bis zehn Leute entweder unhöflich behandelt oder vor den Kopf gestoßen. Mir steht der Schweiß auf der Stirn.
Na?, fragt I. schnippisch und wendet sich halb zu mir. Plötzlich so aufgeschlossen? Wieso nicht?, frage ich viel zu erschrocken. Letztes Jahr wolltest du ja nichts von mir wissen, sagt er. Das sitzt. Fassungslos sehe ich ihn an. Ich kann ihn nicht leiden, das stimmt. Er hat kleine Augen, die Arme verschränkt. Mir fällt nichts ein. Die anderen schweigen. Letztes Jahr? frage ich endlich. Er nickt und wendet sich maliziös lächelnd ab.
Plötzlich weicht die Anspannung. Zum ersten Mal seit dem Morgen atme ich durch. Letztes Jahr? wiederhole ich. Da war ich doch gar nicht auf der Messe, sage ich so bedauernd wie möglich.
See you soon, sage ich dann und tippe mir unverschämt vergnügt an eine imaginäre Mütze, während ich schon davon eile, den Blick wie ein Fährtenleser starr auf den Boden gerichtet.
Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden, arbeitete nach dem Studium der klassischen Philologie zunächst als Schauspieldramaturg und Zeitungsredakteur in Altenburg und St. Petersburg. Seit 1993 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Sein erstes Buch „33 Augenblicke des Glücks“ erschien 1995. Es folgten die Romane „Simple Storys“ (1998), „Neue Leben“ (2005) und „Adam und Evelyn“ (2008). Für den Erzählungsband „Handy“ (Berlin Verlag) erhielt er 2007 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik. Im selben Jahr ist Ingo Schulzes Text entstanden: Für das „Buchmesse-Alphabet“, das anlässlich der ersten zehn Buchmesse-Jahre auf dem Neuen Messegelände erschienen war. Wir machen ihn hier mit freundlicher Genehmigung des Autors wieder zugänglich.