Der Himmel über Vilnius: „Greetings from snowy Vilnius“, schrieben die supernetten Mitarbeiterinnen des Litauischen Kulturinstituts unter ihre Mails, zuletzt sogar „please wear your warm clothes“. Nun sind wir da, und beim Blick in den Winterhimmel über Vilnius fallen einem gleich Zeilen aus einem Gedicht von H. C. Artmann ein, mit dem Cornelius Hells literarischer Reise-Begleiter aus dem Wieser Verlag beginnt: „habt ihr keine augen im / kopf ihr europäer schaut / ein bernsteinlöffelchen / spiegelt sich im himmel / es rührt in der wolke um / den tee ohne zuckerstück“ (Aus eine fenster des hotels lietuva).
Hashtag Freiheit: Wer sich, wie die Litauer, lange mit Unterdrückung und Totalitarismus auseinanderzusetzen hatte, für den ist Freiheit ein hohes Gut. Am materialisierten Hashtag vor dem Präsidentenpalast am Simonas-Daukantas-Platz wird am 16. Februar regelmäßig die erste Unabhängigkeit Litauens gefeiert. Er erinnert aber auch daran, dass man in der Balten-Republik stolz auf die hohe WLAN-Abdeckung ist.
Die Gelehrtenrepublik: Der von Pranciškus Smuglevičius und seinem Bruder Antanas ausgemalte Saal ist der prächtigste der Vilniuser Universitätsbibliothek. Während uns der Dichter, Essayist und Übersetzer Laurynas Katkus auf einen fulminanten Crash-Kurs durch die litauische Literaturgeschichte mitnimmt, blicken Pindar, Sokrates, Plutarch & Co. stumm auf uns herab.
Der Jongleur: Für den zu Sowjetzeiten in einem Vilniuser Plattenbauviertel aufgewachsenen Laurynas Katkus kam der Fall des Eisernen Vorhangs zur rechten Zeit. Hölderlins „Hyperion“ hat er ebenso ins Litauische gebracht wie Bücher von Walter Benjamin, Octavio Paz oder Jan Wagner. Neben den Übersetzungen schreibt er seine eigenen Bücher. „Es funktioniert“, sagt er, „aber man jongliert mit sehr vielen Bällen“. Katkus’ Lieblingsbuchhandlung Eureka! befindet sich im Zentrum von Vilnius, nahe der Uni. „Dort gibt es neben neuen Büchern auch ein Modernes Antiquariat mit Titeln aus der SU-Zeit oder den 90er Jahren, man kann wunderbar stöbern.“
Magischer Ort: Gute Musik, starker Kaffee, kostenloses WLAN, neue und gebrauchte einheimische und fremdsprachige Bücher, Schallplatten – Mint Vinetu könnte so auch in Helsinki, Berlin oder Brooklyn zu finden sein. Selbst die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė, die in der Altstadt von Vilnius zur Schule ging, brachte schon ein paar ausgelesene Lieblingsbücher mit, um sie gegen neuen Lesestoff einzutauschen. Und was bedeutet der seltsame Name? Jonas Valonis, der den Laden mit ein paar Freunden vor sieben Jahren aufmachte, muss die Frage vermutlich mehrmals am Tag beantworten: „Die Bücher von Karl May, vor allem natürlich ‚Winnetou’, waren die Bücher unserer Kindheit, heute erinnern sie uns an den Zauber selbstvergessenen Lesens. Das ‚Mint’ steht ganz allgemein für Tee und Frische.“
Gekommen, um zu bleiben: Die Mietpreise im Herzen der Altstadt klettern, doch noch hält sich „Mint Vinetu“ tapfer gegen den Mainstream. „Wenn du in Vilnius eine Bar aufmachst, hast du zwei Jahre, um zu überleben – oder zu scheitern“, sagt Jonas Valonis. „Wir sind jetzt seit sieben Jahren hier.“
Bildnis des Künstlers als junger Mann: Die Bücher des litauischen Kinderbuchautors und Illustrators Kęstutis Kasparavičius sind in knapp 30 Sprachen rund um den Erdball übersetzt worden. Gemessen an diesem Erfolg ist der Mann, der uns in seinem Atelier in der Vilniuser Altstadt – genau dort, wo sich ehedem das jüdische Ghetto befand – mit Chrysanthemen-Tee und selbstgebackenem Kuchen bewirtet, extrem bescheiden und freundlich. An den Atelier-Wänden hängen auch die Originale der Illustrationen, die Kasparavičius einst zu Limericks von Edward Lear schuf. Und siehe da: Der skurrile Brite mit Schnurrbart und Nickelbrille trägt die Züge des Künstlers als junger Mann.
Vilnius erlesen: Ob Napoleon, Dostojewski, Theodor Herzl, Alfred Döblin oder Joseph Brodsky – sie alle haben Vilnius besucht. Der in Kanada aufgewachsene Litauer Laimonas Briedis hat aus ihren Aufzeichnungen eine wunderbare Kulturgeschichte dieser west-östlichen Multikulti-Metropole zusammengestellt, die im März bei Wieser erscheint. Einen Vorgeschmack aufs Buch gab Briedis mit einer spannenden Stadtführung.
Moment der Muße: Der österreichische Kritiker, Essayist und Übersetzer Cornelius Hell gehört zu den wichtigsten Transporteuren der litauischen Literatur ins Deutsche; ein halbes Dutzend der 2017 erscheinenden Titel hat er übertragen. Als kundiger Literatur-Führer und Dolmetscher hatte er wesentlichen Anteil am Gelingen der Reise.
Speed-Dating: Unter den Autorinnen und Autoren, die wir in der Nationalbibliothek treffen, ist auch Undinė Radzevičiūtė. Die 1967 geborene Schriftstellerin ging nach ihrem Kunststudium in Vilnius zunächst in die Werbung und arbeitete als Art Director für Weltkonzerne wie Saatchi & Saatchi und Leo Burnett. Im Salzburger Residenz Verlag wird nun ihr bislang bester Roman, „Fische und Drachen“, erscheinen, der 2015 den Literaturpreis der EU gewann.
Kaffee, Tee & Poesie: Der Schriftsteller Antanas A. Jonynas begrüßt uns in der holzvertäfelten guten Stube des litauischen Schriftstellerverbandes in Vilnius.
Besuch in Kaunas: Im Zentrum der zweitgrößten Stadt Litauens, die rund 100 Kilometer westlich der Hauptstadt Vilnius am Zusammenfluss von Memel und Neris liegt. Die Freiheitsallee verbindet Alt- und Neustadt von Kaunas.
Aufbruch in die Moderne: Die Kirche Christi Auferstehung wurde nach der ersten Unabhängigkeit Litauens gebaut; im Jahr der sowjetischen Besetzung stand jedoch erst der Rohbau. Auf Geheiß Stalins wurde das Gebäude 1952 einer Radiofabrik zugeschlagen („Banga“), auf dem Turm hieß es nun „Ruhm der KPdSU“. Heute ist der inzwischen aufwändig sanierte gewaltige Sakralbau eine Dominante der Skyline von Kaunas.
Alt und neu: Im Zentrum von Kaunas stößt man immer wieder auch auf traditionelle Holzhäuser.
Zwischen Tradition und Avantgarde: Am Textilkunst-Department der Kunstakademie treffen wir auf Kuratorinnen und Künstlerinnen der Ausstellung „Oxymora“, die bereits ab 25. Februar in der Leipziger Baumwollspinnerei zu sehen ist.
Textil-Design: Die von Virginija Vitkienė (Textil-Biennale Kaunas) ausgewählten Werke zeitgenössischer litauischer Künstlerinnen sind doppelt eindrucksvoll: Sie verknüpfen jahrhundertealte Textiltechniken wie Tapisserie oder Stickerei mit Digitaldruck und Videoanimation.
Schreibeinsamkeit: 40 Kilometer von Vilnius entfernt, in dem Dörfchen Zabarija, hat sich der Lyriker und Essayist Eugenijus Ališanka ein malerisches Holzhaus ausgebaut.
Ein Schluck auf die Poesie: Eugenijus Ališanka, einer der meistübersetzten Dichter Litauens.