Auch bei der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung hat die Technik dicke Bretter zu bohren: Statt aus einem kommunikationstechnisch hochgerüsteten Kongresszentrum wird aus einem geschichtsträchtigen Gotteshaus gesendet. Die gestreamte Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung findet vor rund zwei Dutzend Gästen in der Leipziger Nikolaikirche statt. Ein ikonischer Ort der friedlichen Revolution, Bachs Orgeltöne mächtig im Raum – das überwältigt jeden, der auf den harten Kirchenbänken sitzt. Wie hier 1989 das Wort auf den Freiheitswillen der Menschen traf und Kräfte freisetzte, beton Superintendent Sebastian Feydt in seiner Begrüßung – und formuliert den Anspruch auch an die Kirche, sich stärker für europäische Verständigung einzusetzen.
Statt der im Gewandhaus üblichen Reden schaltet die Regie der Vergabe-Prozedur eine Art Talk-Format mit den Repräsentanten der Preis-Stifter vor – Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und Leipzigs OBM Burkhard Jung. Das ist richtig und mutig gedacht, profanisiert den festlichen Moment allerdings auch ein wenig, so als würde Anne Will aus einer Kirche gesendet. Einiges hallt nach, etwa ein Gedanke von Karin Schmidt-Friderichs, die gefragt wird, welche Fehler beim Neustart nach der Pandemie möglichst nicht passieren sollten. Die Börsenvereins-Vorsteherin redet Klartext: „Wir reagieren schnell über, und wir pflegen im Moment nicht zur Genüge den intellektuellen differenzierten Diskurs, für den unsere Branche eigentlich steht und stehen sollte. Wir müssen eine neue Gesellschaft verhandeln – aber nicht mit Buzzwords auf Twitter. Wir müssen uns wieder in die Augen schauen, miteinander statt übereinander reden.“ Von wem sollte so eine Diskussion ausgehen, wenn nicht von der Buchbranche? Und von wo, wenn nicht von Leipzig aus?
Aus Ungarn war László Földényi angereist, 1952 in Debrecen geboren, Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler, Essayist. Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wurde ihm im vergangenen Jahr für sein Buch „Lob der Melancholie“ zugesprochen, aber er hatte ihn wegen der pandemiebedingten Absage der Messe nicht entgegennehmen können. Zu Beginn seiner Dankrede sprach Földényi vom Verlust der menschlichen Werte, am Ende kam er noch einmal darauf zurück: „Man bemüht sich, etwas dagegen zu unternehmen – mit Taten, mit Worten. Oder mit Büchern. Dieser Leipziger Buchpreis zeigt – wirft man einen Blick auf die Liste der bisherigen Preisträger –dass es noch Inseln gibt, wo man versucht, dem allgemeinen Zeitgeist wirksam entgegenzutreten, gerade im Namen der menschlichen Werte.“
Laudatorin Elisabeth Ruge schafft das Kunststück, eine eloquente Parallele zwischen den Werken des endlich physisch anwesenden letztjährigen Preisträgers Földényi und Johny Pitts zu ziehen, der für sein Buch „Afropäisch“ (Suhrkamp) geehrt wurde und nun aus der Arbeiterstadt Sheffield zugeschaltet war. Wie gern hätte man den jungenhaft-sympathischen Preisträger live begrüßt! Was er beim Schreiben von „Afropäisch“ gelernt hat? Multikulturalismus ist dann am besten, wenn er nicht vom System inszeniert wird: „Egal, was auf staatlicher Ebene passiert, egal, wie zynisch oder verlogen die Rhetorik der Regierenden sein mag – die Gemeinschaften bestehen fort, das Leben geht außerhalb der Amtsstuben weiter. Schon immer.“ Bis Ende Juni werden Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus Pitts’ preisgekröntem Buch in einer Ausstellung im Leipziger Stadtraum gezeigt – und können so hoffentlich viele Menschen erreichen.