Autor: Nils Kahlefendt

Preisträger Johny Pitts, umringt von Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke, Ministerpräsident Michael Kretschmer, Karin Schmidt-Friderichs, László Földényi und Messe-Geschäftsführer Martin Buhl-Wagner. ©Tom Schulze

Signal aus Leipzig
23. Juli 2021
Leipzig liest Nachschlag, Teil 3: Am Ort der friedlichen Revolution werden Johny Pitts und László Földényi geehrt.
Autor: Nils Kahlefendt

Preisträger Johny Pitts, umringt von Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke, Ministerpräsident Michael Kretschmer, Karin Schmidt-Friderichs, László Földényi und Messe-Geschäftsführer Martin Buhl-Wagner. ©Tom Schulze

Signal aus Leipzig
23. Juli 2021
Leipzig liest Nachschlag, Teil 3: Am Ort der friedlichen Revolution werden Johny Pitts und László Földényi geehrt.

Auch bei der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung hat die Technik dicke Bretter zu bohren: Statt aus einem kommunikationstechnisch hochgerüsteten Kongresszentrum wird aus einem geschichtsträchtigen Gotteshaus gesendet. Die gestreamte Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung findet vor rund zwei Dutzend Gästen in der Leipziger Nikolaikirche statt. Ein ikonischer Ort der friedlichen Revolution, Bachs Orgeltöne mächtig im Raum – das überwältigt jeden, der auf den harten Kirchenbänken sitzt. Wie hier 1989 das Wort auf den Freiheitswillen der Menschen traf und Kräfte freisetzte, beton Superintendent Sebastian Feydt in seiner Begrüßung – und formuliert den Anspruch auch an die Kirche, sich stärker für europäische Verständigung einzusetzen.

Im Talk mit Reinhard Bärenz (MDR): Burkhard Jung und Karin Schmidt-Friderichs. ©Tom Schulze

Statt der im Gewandhaus üblichen Reden schaltet die Regie der Vergabe-Prozedur eine Art Talk-Format mit den Repräsentanten der Preis-Stifter vor – Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und Leipzigs OBM Burkhard Jung. Das ist richtig und mutig gedacht, profanisiert den festlichen Moment allerdings auch ein wenig, so als würde Anne Will aus einer Kirche gesendet. Einiges hallt nach, etwa ein Gedanke von Karin Schmidt-Friderichs, die gefragt wird, welche Fehler beim Neustart nach der Pandemie möglichst nicht passieren sollten. Die Börsenvereins-Vorsteherin redet Klartext: „Wir reagieren schnell über, und wir pflegen im Moment nicht zur Genüge den intellektuellen differenzierten Diskurs, für den unsere Branche eigentlich steht und stehen sollte. Wir müssen eine neue Gesellschaft verhandeln – aber nicht mit Buzzwords auf Twitter. Wir müssen uns wieder in die Augen schauen, miteinander statt übereinander reden.“ Von wem sollte so eine Diskussion ausgehen, wenn nicht von der Buchbranche? Und von wo, wenn nicht von Leipzig aus?

Der letztjährige Preisträger aus Ungarn: László Földényi. ©Tom Schulze

Aus Ungarn war László Földényi angereist, 1952 in Debrecen geboren, Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler, Essayist. Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wurde ihm im vergangenen Jahr für sein Buch „Lob der Melancholie“ zugesprochen, aber er hatte ihn wegen der pandemiebedingten Absage der Messe nicht entgegennehmen können. Zu Beginn seiner Dankrede sprach Földényi vom Verlust der menschlichen Werte, am Ende kam er noch einmal darauf zurück: „Man bemüht sich, etwas dagegen zu unternehmen – mit Taten, mit Worten. Oder mit Büchern. Dieser Leipziger Buchpreis zeigt – wirft man einen Blick auf die Liste der bisherigen Preisträger –dass es noch Inseln gibt, wo man versucht, dem allgemeinen Zeitgeist wirksam entgegenzutreten, gerade im Namen der menschlichen Werte.“

Ladatorin Elisabeth Ruge. ©Cordula Giese

Laudatorin Elisabeth Ruge schafft das Kunststück, eine eloquente Parallele zwischen den Werken des endlich physisch anwesenden letztjährigen Preisträgers Földényi und Johny Pitts zu ziehen, der für sein Buch „Afropäisch“ (Suhrkamp) geehrt wurde und nun aus der Arbeiterstadt Sheffield zugeschaltet war. Wie gern hätte man den jungenhaft-sympathischen Preisträger live begrüßt! Was er beim Schreiben von „Afropäisch“ gelernt hat? Multikulturalismus ist dann am besten, wenn er nicht vom System inszeniert wird: „Egal, was auf staatlicher Ebene passiert, egal, wie zynisch oder verlogen die Rhetorik der Regierenden sein mag – die Gemeinschaften bestehen fort, das Leben geht außerhalb der Amtsstuben weiter. Schon immer.“ Bis Ende Juni werden Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus Pitts’ preisgekröntem Buch in einer Ausstellung im Leipziger Stadtraum gezeigt – und können so hoffentlich viele Menschen erreichen.

Beitrag teilen


Vier Tage brachte die Sonderausgabe von Europas größtem Lesefest Leipzig liest die Freude an Literatur, persönlichen Begegnungen und intensiven Debatten zurück in die Messestadt und per Livestream zu den deutschsprachigen Lesefans im Netz – Zeichen der Hoffnung auf eine Rückkehr zum intensiven persönlichen Austausch auf der Leipziger Buchmesse vom 17. bis 20. März 2022. Einen Vorgeschmack darauf gaben rund 100 Live-Veranstaltungen mit Publikum, die nach langer Zeit damit erstmals den direkten Austausch ermöglichten. In unserer kleinen Serie blicken wir auf die spannendsten und bewegendsten Momente zurück.

Weitere Beiträge, die Sie interessieren könnten

Literarisches Leben Slider

„Gute Bücher übersetzen ist leicht!“ 

20 Jahre Preis der Leipziger Buchmesse (4): 2018 ging der Preis in der Sparte Übersetzung an Sabine Stöhr und Jurij Durkot für ihre Übertragung von Serhij Zhadans Roman „Internat“. Inzwischen hat der Ukrainer, der lange mit Worten und Musik für die Sache seines Landes gekämpft hat, zur Waffe gegriffen.

Slider Wir

Back to the Roots 

Von der klassischen ‚PK’ bis ‚unter drei’: Der Thüringer Felix Wisotzki, Pressesprecher der Leipziger Buchmesse, organisiert die Kommunikation des Branchen-Großereignisses. Mit der Arbeit fürs Buch ist der studierte Amerikanist zu einer frühen Leidenschaft zurückgekehrt

Leipzig liest Slider

Fest des freien Wortes 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 4: Mit Leipzig liest swingte eine ganze Stadt vier Tage lang im Takt der Literatur. Die heißgeliebte fünfte Jahreszeit – sie war zurück!

Literarisches Leben Slider

Fortüne & Phantasie 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 3: In Zeiten zunehmender Markt-Konzentration stehen Independent-Verlage für eine bunte, vielfältige Bücherlandschaft. In Leipzig kommen auch die Kleinen groß raus

International Slider

Wahres Wunder Freundschaft

Buchmesse-Nachschlag, Teil 1: Die Buchmesse eröffnete mit Bundeskanzler Olaf Scholz und der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung an Omri Boehm. Der Gaza-Konflikt platzte in einen Festakt hinein, in dem es um Identitätspolitik und ihre Überwindung ging

Leipzig liest Slider

„Vor allem Frauen“ 

Alles außer flach (3): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Die flämische Schriftstellerin Annelies Verbeke

Leipzig liest Slider

Und dann hat’s BUMM! gemacht

Alles außer flach (4): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Matthijs de Ridder, der die flämische Avantgarde-Ikone Paul van Ostaijen an die Pleiße holt

Leipzig liest Slider

Please look at the Basement! 

Alles außer flach (2): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Der flämische Schriftsteller und Bildende Künstler Maarten Inghels

Leipzig liest Slider

Digitale Literaturwelten 

Alles außer flach (1): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Poetische VR und eine Geschichten-Erzählmaschine

Literarisches Leben Slider

Starke Frauen

Kurt Wolff Preis für den AvivA Verlag: Seit einem Vierteljahrhundert bringt Britta Jürgs mit Energie und Spürsinn die weiblichen Stimmen der Weltliteratur zur Geltung 

Comic & Manga

Der Klempner

Beziehungs-Kisten (IV): Comic-Helden können ein Leben verändern. Heute: Sebastian Röpke (Comic Combo) über Hellboy.