In den Ferien von der sechsten zur siebten Klasse belohnt sich der Gymnasiast Karl-Markus Gauß mit einem vorzeitigen „Leserausch“ dafür, dass er in der zweiten Sommerhälfte für die anstehende Mathe-Nachprüfung büffeln wird. Statt als Ferialarbeiter in der Eisengießerei Hammerau zu schuften, schleppt er Band um Band aus der Buchhandlung an der Salzburger Staatsbrücke: Eine rororo-Taschenbuchausgabe von Max Frischs „Homo Faber“, Hermann Hesses „Narziss und Goldmund“ aus der Bibliothek Suhrkamp, Adalbert Stifters „Der Hagestolz“ und Jack Kerouacs „Unterwegs“. Doch während sich der 16jährige, der sich durchaus für einen Rebellen hält, von einem Ingenieur aus den angestaubten 50er Jahren, einem mittelalterlichen Klosterschüler und einem eigenbrötlerischen Single aus dem 19. Jahrhundert elektrisieren lässt, kommt er mit der Aussteiger-Bibel „On the Road“ nicht wirklich klar. „Heute weiß ich, dass die Literatur die Kraft hat, uns nicht nur mit dem Ähnlichen, sondern auch mit dem Fremden, dem ganz Andersgearteten auf uns selbst zu bringen“, schreibt Gauß in der vierten und letzten Abteilung seiner „Unaufhörlichen Wanderung“ in einer Skizze des Autors als junger Leser. Nach der Matura, im September 1972, schreibt er sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Salzburg für Germanistik und Geschichte ein; die Bibliothek des Germanistischen Instituts in der Akademiestraße wird eine Art zweites Zuhause für ihn. Sein Studium schließt er mit einer Diplomarbeit über Peter Weiss’ Mikro-Roman „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ ab; statt der geplanten Dissertation über die ästhetischen Schriften Ernst Fischers wird Gauß, zusammen mit dem Freund Ludwig Hartinger, eine achtbändige Werkausgabe herausgeben. Als er nach dem Studium in Zeitschriften wie dem legendären „Wiener Tagebuch“, später auch großen Zeitungen zu publizieren beginnt, spricht sich seine Obsession für scheinbar abseitige Autoren schnell herum. Eine Marotte? „Es war der Versuch, mir lesend und schreibend ein eigenes, anderes Bild von der Welt zu erschaffen, in dem auch die verwischten Spuren der Revolte, von denen man gerne behauptet, es hätte sie in Österreich ohnedies gar nicht gegeben, wieder sichtbar würden.“ Jahre später wird Karl-Markus Gauß seinen Platz finden – weit genug weg vom Zentrum, und doch so nah an allem, um sich nicht als Unverstandener oder Abgewiesener zu stilisieren: „Ja, ich hatte den mir gemäßen Ort in der Halbdistanz gefunden: Mit mir, ohne mich!“
Karl-Markus Gauß, geboren am 14. Mai 1954 in Salzburg, ist als jüngstes von vier Kindern einer Flüchtlingsfamilie in einer Salzburger Vorstadtsiedlung aufgewachsen. Das Donauschwäbisch der Eltern und ihre mitteleuropäische Vielsprachigkeit erscheinen den Geschwistern bereits als Relikt einer Vergangenheit, in die es keine Rückkehr gibt. Ein anderes Grundmotiv ist die Katastrophe des Kriegs: Im Band „Das Erste, was ich sah“ (2013) registriert der Blick des Kindes die sichtbaren Kriegsverletzungen der Erwachsenen ebenso wie ihre innere Beschädigungen. Mit Büchern über den Terror des Habsburger-Regimes gegen die revolutionären bürgerlichen Dichter und Denker und die Arbeiterrevolutionäre setzt sein Schreiben ein. Seit 1991 ist Gauß Herausgeber von Literatur und Kritik, der im Ausland am weitesten verbreiteten österreichischen Literaturzeitschrift, die 1966 von Gerhard Fritsch, Rudolf Henz und Paul Kruntorad gegründet wurde und im Otto Müller Verlag Salzburg erscheint. „In den Neunzigern“, erinnert sich Gauß in einem Gespräch mit der Kritiker-Kollegin Daniela Strigl und Zsolnay-Programmleiter Herbert Ohrlinger, „haben wir als erste viele verschiedene Literaturlandschaften für den deutschen Sprachraum entdeckt. Wir haben das erste Heft über albanische Lyrik im Kosovo in deutscher Sprache gemacht, wir haben Literatur aus Sarajevo zu einem Zeitpunkt vorgestellt, als alle vom Untergang dieser Stadt gesprochen haben, aber keiner wusste, was da eigentlich untergeht… Viele dieser Hefte waren Pfeile zu den Verlagen, die sich dann meldeten und begannen, Bücher in deutscher Übersetzung aus diesen Ländern herauszubringen.“
Flaneur, Essayist, Kultur- und Literaturkritiker, Ethnograph, Herausgeber – Karl-Markus Gauß ist all dies zusammen. Und er ist es gern. „Alle diese Bereiche meiner Arbeit bedeuten mir etwas“, sagt er, „und ein jeder bringt mich in einem bestimmten Sinne weiter.“ Besonders in zwei Genres hat er es in den letzten Jahrzehnten zu einiger Meisterschaft gebracht, nicht wenige sind der Meinung, dass er sie geradewegs neu erfunden habe: Die Reiseerzählung und das Journal. Mit „Die sterbenden Europäer“ erscheint 2001 das erste dieser eigenwilligen Reisebücher, in denen er, zumeist mit dem Fotografen Kurt Kaindl, etwa zu den Sepharden von Sarajevo unterwegs ist, zu den Gottscheer Deutschen, zu den Aromunen und Lausitzer Sorben. „Ich war lange ein Stubenhocker, Reisen waren für mich geistig-intellektuelle Bücherreisen“, sagt Gauß 2012 in einem Interview. Die europäischen Minderheiten hatten ihn stets fasziniert, aber auf die Idee, sie selbst zu besuchen, ist er lange nicht gekommen. Nun bricht er zu diesen Völkern, Ethnien, Sprach- und Religionsgemeinschaften auf, für die das moderne Europa keinen Platz zu haben scheint. Abschließende Befunde, endgültige Urteile sucht man in den so entstehenden Büchern vergeblich. Es ist ein wenig wie bei der Never-ending-Tour des großen Bob Dylan: Unterwegs sein heißt auch, nicht wirklich anzukommen.
In seinen mit dem Band „Mit mir, ohne mich“ (2002) kurz nach der Regierungsbildung Schüssel/Haider begonnenen Journalen, dem Langzeitprojekt einer ideengeschichtlichen, biografischen und politischen Vermessung unserer Zeit, gelingt dem Gauß ein Befreiungsschlag: Er hat eine Form gefunden, aus dem Korsett des „Sachbuchs“ auszubrechen – und auch von sich selbst zu schreiben. Mit dem im Februar erscheinenden sechsten Band „Die Jahreszeiten der Gegenwart“ nimmt Gauß die Zeit zwischen seinem 60. Und 65. Geburtstag, also die Jahre 2014 bis 2018, in den Blick, nicht ohne in Vergangenheit und Zukunft auszuschreiten: Von der Weltbühne zur Ortsbesichtigung ist es für den Autor meist nur ein Absatz: Helmut Schmidts Begräbnis schließt er kurz mit Henry Kissingers Rolle in Vietnam, die Kriegsversehrten, denen er einst auf dem Schulweg begegnete, mit der Flüchtlingskrise von 2015, den Tod eines Freundes mit den digitalen Ingenieuren der Unsterblichkeit. Gauß’ Reiseberichte und seine Aufzeichnungen verweisen aufeinander, bedingen einander, stellen eine Einheit dar, wenn auch mit unterschiedlichen Perspektiven und unterschiedlichen stilistischen und poetischen Mitteln, so der Philosoph und Kulturpublizist Konrad Paul Liessmann: „In Summe ergeben diese Texte ein eindringliches, manchmal melancholisches, manchmal erheiterndes, immer aber präzises Panorama der europäischen Wirklichkeit, und das mitten in Österreich.“
Für sein Buch „Die unaufhörliche Wanderung“, 2020 im Zsolnay Verlag erschienen, erhält der unermüdliche Aufklärer Karl-Markus Gauß nun den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Der Band, der Texte aus 20 Jahren, aber auch Neues vereint, ist ein typisches Gauß-Lesebuch: Einmal mehr vermittelt der Autor europäische Kulturgeschichte in Form brillant erzählter Literatur. In der Jurybegründung heißt es: „Wenn Karl-Markus Gauß an Europa denkt – und wahrscheinlich gibt es keinen Schriftsteller in Europa, der öfter und nachhaltiger über dieses kleine Gebiet westlich des russischen Reiches nachdenkt –, dann denkt er über die Minderheiten nach, die sich immer noch in den Rissen dieses einsturzgefährdeten Gebäudes halten… Alle diese Minderheiten mit ihren seltsamen Sitten, Sprachen, Gebräuchen, Literaturen und Religionen haben in Karl-Markus Gauß… ihren unermüdlichen, treuen, neugierigen, aufmerksamen Chronisten gefunden. Seit mehr als vierzig Jahren nimmt dieser für seine stilistischen Feinheiten gelobte, jedes besserwisserische Pathos meidende Reisende die kulturellen Verluste… wahr und hält ihnen den historisch angehäuften tatsächlichen Reichtum entgegen. Er leistet die Arbeit eines Sisyphos – das heißt, er weiß auch, dass trotz aller Anstrengungen der mühsam auf den Berg geschleppte Stein wieder hinunterrollt.“
Dennoch müssen wir uns diesen Salzburger Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Vom österreichischen Nachrichtenmagazin Profil gefragt, ob er seinen Beruf gern ausübe, diktierte er dem Reporter folgendes in den Block: „Natürlich quäle auch ich mich mitunter am Schreibtisch. Dann schaue ich durch das Fenster auf die Straße, auf der Männer in meinem Alter mit Aktentasche in der Hand zu irgendeiner Sitzung hetzen – sofort bin ich von dem Glücksgefühl überschwemmt, wie herrlich es doch ist, alle Tage am Schreibtisch zu sitzen… Nur beim Schreiben kann ich das Beste in mir erreichen, intellektuell wie moralisch. Erst wenn ich über etwas geschrieben habe, weiß ich darüber wirklich Bescheid. Wenn ich nicht schriebe, würde ich unverzüglich ein wesentlich unintelligenterer Mensch werden.“