Der Abend ist lau, Wespen kreisen über dem Bistrotisch. Wir sitzen in einem dieser Cafés in Schleußig, in denen junge Menschen mit einem Chai Latte in aufgeklappte Notebooks blicken. Und das ausdauernd. Auch Michael Damm ist regelmäßig hier, nachdem er vor kurzem von Dresden nach Leipzig zog. Seit sich der Enddreißiger für das Schülermagazin Spiesser um neue Geschäftsbereiche kümmerte, ist er als Kommunikations-Dienstleister unterwegs – zunächst selbstständig, später als Key-Accounter für die Chemnitzer Agentur Zebra, seit Juni für die Leipziger Westend Communication. Dazu ist er Leser, und das – „ganz konservativ!“ – fast ausschließlich auf Papier. Einer allerdings, der sich nicht zwischen Buchdeckeln vergräbt, sondern sich beunruhigt fragt, warum der Buchmarkt in den letzten Jahren mehr als sechs Millionen Leser verloren hat – so die Zahlen einer GfK-Studie im Auftrag des Börsenvereins. Wenn Damm über mögliche Ursachen nachdenkt, nimmt er als in der Wolle gefärbter Werber auch die Buch-Vermarktungsstrategien im digitalen Raum kritisch in den Blick: „Ich glaube nicht, dass man die Leser in Webshops mit briefmarkengroßen Covern und Preisschild begeistert.“ Der Kern eines Buchs, so ist er überzeugt, ist seine Geschichte. „Gute Geschichten bleiben. Wenn wir den Menschen die zur Verfügung stellen, spannende Leseproben ins Netz packen, wird das Buch auch weiter gelesen.“
Damit war, vor mehr als drei Jahren, die Idee für die App lesio geboren: Ohne etwas über Autor, Verlag oder Titel zu wissen, lässt sie Nutzer in die Geschichten einsteigen. Mit einem Klick kann man mehr über das Buch erfahren und es kaufen. Oder man schüttelt sein Smartphone – und lesio zaubert eine neue Geschichte aufs Display. Seine drei Mitstreiter – zwei Software-Entwickler und einen Projektmanager – fand Damm über den Gewinn des Businesspreises eines Shop-Anbieters: Als der Startup-Booster von VersaCommerce abgeräumt war, rief der IT-Chef der „Sächsischen Zeitung“ an: „Mensch, klingt interessant. Hast du schon Programmierer?“ Spätestens, als die vier Macher des mittlerweile gegründeten Startups neocampus das lesio-Konzept in Hamburg auf der Eisbrecher-Tour des Börsenvereins vorstellten, gingen auch bei großen Branchen-Playern wie Libri die Lampen an. Dennoch erwies sich das Problem, mit einem Generalanbieter für die Inhalte ins Geschäft zu kommen, als knifflig; schließlich dürfte die Qualität des Contents der Schlüssel für den Erfolg des Projekts sein. Als dieser Anbieter mit Libreka gefunden war, schien der Bau des eigentlichen Frontends nur noch Handwerk. „Am Ende wurde es aber ein harter Marathon, weil wir unbedingt im März 2018 fertig sein wollten.“
Tolles Feedback in Leipzig
Die Nominierung von lesio für Neuland 2.0, der Innovation-Area der Leipziger Buchmesse, wirkte dabei extrem motivierend. „Wenn wir überhaupt ohne großes Budget Resonanz erzeugen wollen, kann das nur im Rahmen einer Buchmesse funktionieren“, ist Michael Damm überzeugt. Leipzig hat den vier jungen Gründern denn auch „enorm geholfen“. Das Konzept überzeugte, auch wenn die App noch nicht fehlerfrei lief – nur knapp schrammte lesio am Gewinn des Publikumspreises vorbei und konnte sich immerhin als Sieger der Herzen fühlen. „Wir hatten an beiden Tagen tolle Gespräche und viel positives Feedback“, erinnert sich Damm. „Junge Messebesucher haben die Nähe zum Smartphone gelobt und sinnvolle Anregungen gegeben. Die von vielen gewünschte Genre-Vorauswahl werden wir jetzt ausrollen.“ Nicht nur das allgemeine Publikum war begeistert, auch kleine und große Verlage oder eine Kaufhauskette zeigten sich angetan. „Es war hart, aber unglaublich lehrreich“, so Damms Neuland 2.0-Fazit: „So ein Kundenfeedback bekommst du sonst ja nur, wenn du dich selbst auf die Straße stellst.“
Ein halbes Jahr nach Leipzig hat sich bei lesio erneut allerhand getan: Das Layout der Leseproben wurde harmonisiert, dem Leser-Wunsch nach einer Punchline, einem „starken ersten Satz“ entsprochen; dazu ist die Zahl der verfügbaren Texte von rund 500 im Frühjahr auf zirka 17.000 gestiegen. Für die Zukunft ist daran gedacht, dass auch Selfpublisher Leseproben einpflegen oder Verlage ihre Texte – als Ads gekennzeichnet – prominenter platzieren können. Auch Gespräche über solitäre Lösungen werden mit Verlagen und Händlern geführt – die Kraft der Idee hinter lesio wird offensichtlich erkannt. „Die Branche handelt mit einer Ware, die sich im Kern seit 500 Jahren nicht verändert hat“, sagt Damm. „Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch. Nun ändert sich diese Welt rasant, und es werden neue Antworten gesucht. Spannend, hier dabei zu sein.“ Längst ist es dunkel geworden, Laptop- und Smartphonedisplays im Café bilden kleine digitale Lagerfeuerchen – und auch für Michael Damm wird es Zeit. Nachtschicht, das Los der Gründer. In sechs Monaten, zur Messe, sehen wir ihn wieder. Wetten?
Fotos: Thomas Schlorke