Welche Rolle spielen die Buchmessen in Zeiten von zunehmender Konzentration und notorisch beklagtem Leser-Schwund für einen Verlag wie S. Fischer?
Oliver Vogel: Wenn wir über Leipzig reden, ist die Veränderung mit Händen zu greifen. Die Besucher scheinen deutlich jünger zu sein als früher; es kommt mir zumindest so vor, dass eine bestimmte Generation diese Messe übernommen hat. Leise war es ja nie – aber doch sehr viel ruhiger als jetzt. Es ist eine andere, ‚jüngere’ Art von Büchern, die einen Großteil der Besucher interessiert…
Sie sprechen von den Büchern mit den aufregenden Farbschnitten, Bücher, von denen die Branche so vieles erhofft?
Vogel: Ja, schon. Diese Bücher haben sich ihren Platz in Leipzig erobert. Was nicht heißt, dass die anderen Bücher weg wären. Es ist etwas dazugekommen, und zwar sehr sichtbar.
Wir sprechen nicht von einer Gaming-Messe…
Vogel: Eben. Es geht um Bücher. Die verlangen eine bestimmte Form der Konzentration. Ich finde es rundweg erfreulich, wenn wir eine neue Generation von Leser:innen mit ganz eigenen Erwartungen ansprechen können und auch erreichen.
Auch Frankfurt hat reagiert und die Publikumstage ausgedehnt. Welche Unterschiede außer dem der schieren Größe fallen Ihnen auf?
Vogel: Frankfurt ist internationaler. Leipzig richtet den Blick vor allem nach Osten, in den Osten Europas. Das ist schon lange wichtig und wird es immer mehr. In Leipzig werden weniger Geschäfte gemacht, heißt es immer, und das ist ja auch nicht ganz falsch. Aber auch in Frankfurt werden weniger Geschäfte gemacht als früher. Oder anders: Deutsche Verlage kaufen die großen internationalen Rechte meistens schon vor den Messen. Die kleineren Rechte, die sogenannten kleineren Sprachen, die Internationalisierung der Bücher findet nach wie vor hier statt, vielleicht sogar mehr denn je. Politisch ist das in diesen Zeiten vielleicht unsere wichtigste Aufgabe. Worum es hier wie da vor allem geht: Dass man persönlich miteinander zu tun hat, sich austauscht, redet.
Unsere kleine Serie heißt „Der menschliche Faktor“…
Vogel: Ja, das trifft es. Und dabei passiert tatsächlich sehr viel mehr, als man unter dem Wort „Geschäft“ subsumieren möchte. Leipzig war immer eine Messe der Autoren. Wenn Frankfurt ein internationaler Branchentreff ist, ist Leipzig ein Treffpunkt von Autor:innen mit ihren Leser:innen.
Leipzig liest und liest…
Vogel: Das ist eine Riesen-Erfolgsgeschichte. Wir Verlage profitieren zusammen mit den Autor:innen von diesem Aufmerksamkeits-Verstärker. Innerhalb einer Woche wird wirklich überall über Literatur geredet. In Leipzig ist man dabei. Und: Man schaut als Verlag ja auch zu: Was interessiert die Leute? Wonach fragen sie? Wo gehen sie hin?
Ein Leseforschungs-Labor…
Vogel: Ich würde da nicht widersprechen. Es war ja schon immer so, dass man nach Leipzig gegangen ist – und Zeit hatte. Man hat Zeit, Gespräche zu führen, miteinander zu reden. Man tauscht sich aus. Wir bewegen uns ja eh in einer sehr kollegialen Branche – aber in Leipzig ist es wie eine große Familie, die sich trifft. Der Teil der Familie, den ich schon sehr lange kenne, schaut genau wie ich erstaunt dabei zu, wie dieses Publikum jünger wird, wie es, zusätzlich zu dem, was bisher stattfand, andere Dinge sehen will. Das ist toll.
Wie geht ein Verlag wie Fischer damit um, auch, was Gewichtungen betrifft? Wie steuert man solche Prozesse?
Vogel: Man begleitet sie selbstbewusst. Wir machen unser Programm. Fischer deckt sehr viel ab – wir haben ein großes Herz, in das vieles reinpasst. Und das zeigen wir, auch in Leipzig. Und wir zeigen das in der Gewichtung, in der wir es publizieren. Die „Hochliteratur“, die hier absolut im Fokus stand, zeigen wir natürlich weiterhin. Es ist nur etwas Anderes hinzugekommen. Die Grenzen werden durchlässiger.
Das Schichtenmodell von U- und E-Literatur ist ja auch schon etwas angestaubt. Aber es spukt noch durch die Köpfe. Heute verlegt Suhrkamp auch Krimis…
Vogel: Warum auch nicht? Clemens Meyer schreibt tolle „Tatorte“. Ich finde, die klinische Trennung ist heute auch nicht mehr nötig. Wenn ich mit Young-Adult-Lesern ins Gespräch komme, rede ich natürlich auch über die Sachen, die ich mache. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich die damit schrecklich langweile. Gerade ist mein Sohn bei mir zu Besuch, er ist 25. Er hat gestern den „Krabat“ zu Ende gelesen – und heute mit Flauberts „Lehrjahre der Männlichkeit“ angefangen (was früher „Erziehung des Herzens“ hieß).
Ein interessanter Move…
Vogel: Ich glaube, so funktioniert das jetzt. Und das ist sehr schön, vor allem, wenn es zwei solche Bücher sind.
Wie finden Sie dann den Leipziger Mischungs-Ansatz, New Adult & Co. nicht in riesige Hangars auszulagern – sondern zwischen allen anderen Buch-Angeboten stattfinden zu lassen?
Vogel: Ich glaube, auf solche Separations-Ideen kommen nur noch ältere Semester. Ich würde das nicht aussondern. Wenn der kleine österreichische Lyrikverlag neben einem großen Kochbuchverlag auftritt, hat das doch auch niemanden gestört.

Ich frage als lokalpatriotischer Leipziger: Haben Sie zu Messe-Zeiten Lieblings-Orte in unserer Stadt?
Vogel: Grundsätzlich ist Leipzig liest ein Riesen-Vergnügen. Das sollte bitte nicht kleiner, sondern größer werden. Und mein Lieblings-Ort – das ist am Samstagabend der Messe die Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Wir haben seit vielen Jahren die unausgesprochene Verabredung, dass wir immer samstagabends dort eine Veranstaltung machen. Ich habe mehrere Veranstaltungen moderiert – unter anderem mit Clemens Meyer, Felicitas Hoppe, Peter Stamm, eine mit Thomas Glavinic… Das waren ausnahmslos die schönsten Veranstaltungen, die ich mit diesen Autoren hatte.
Woran liegt’s? Am Genius loci?
Vogel: Der Raum selbst ist ja unmöglich: Es ist eng, die Decke zu flach, man bekommt nach einer halben Stunde keine Luft mehr. Ich saß dort schon moderierend auf dem Bücher-Sofa, vis à vis Zuschauer, Knie an Knie. Aber etwas entsteht da. Zu tun hat es natürlich mit den Buchhändlern, die den Laden führen: Engagiert, klug und belesen – die haben das, was die Literatur braucht. Und es gibt eine zweite Sache, die ich in Leipzig immer mache: Ich gehe zur Motette der Thomaner in die Thomaskirche und höre ihrem Bach (manchmal auch Mendelssohn-Bartholdy) zu. Meistens samstags, am Nachmittag. Das nehme ich mir raus, das geht nur hier.

Das klingt schon nach der besten aller Welten. Bleiben aus Verlegersicht Wünsche offen?
Vogel: Der Wunsch, den ich habe, der ist nicht erfüllbar: Mehr Platz! Vor allem natürlich Freitag, Samstag, Sonntag. Aber inzwischen ist es ja auch Donnerstag schon so voll, dass dieses Rumspazieren, das zur Leipziger Messe gehört, fast nicht mehr geht. Und noch einen Wunsch habe ich: Niemand soll auf die Idee kommen, Leipzig liest zu verkleinern oder gar abzuschaffen. Und in diesem Zusammenhang gesagt: Ich wünsche mir, dass auch auf der Messe noch mehr Veranstaltungen stattfinden – Gespräche, auf kleinen, auf großen Bühnen, ganz egal. Ich finde, die Präsenz der Autorinnen und Autoren, die Energie, die in dieser einen Frühjahrswoche von Leipzig ausgeht, ist wahnsinnig wichtig.
Oliver Vogel, geboren 1966, wuchs in München und Santiago de Chile auf. Er studierte Germanistik, Philosophie und Anglistik, arbeitete im Lektorat des Suhrkamp Verlags (1991-1996), im Verlag der Autoren (1996-1999), ab 1999 bei S. Fischer, wo er seit 2001 Programmleiter für Deutschsprachige Literatur war. Im Januar 2022 wechselte er zur Literaturagentur Graf & Graf. Seit Oktober 2022 ist er Verleger des S. Fischer Verlags. Er war Mitherausgeber der Wolfgang Hilbig Werkausgabe und der Kulturzeitschrift Neue Rundschau.