Als Kerstin Thomar im vergangenen Jahr die Stellenausschreibung der Leipziger Buchmesse auf Instagram entdeckte, war sie Projektmanagerin in der Leipziger Niederlassung des IT-Unternehmens SoftwareONE. Gesucht hatte die Messe eine Projektmanagerin für die Manga Comic Con (MCC) – und Thomar spürte sofort das gewisse Kribbeln, das einen immer dann befällt, wenn man spürt: Das könnte es sein! Branchenwechsel? Wieso nicht? Sie hatte bei SoftwareOne zwar auch Veranstaltungen organisiert, war aber vorwiegend im Bereich Projekt-Controlling tätig. „Das ist zwar super fürs Zahlengefühl und die Expertise im Schreiben von Reportings“, sagt sie lachend, „Aber es war dann doch eine Excel-Tabelle pro Tag zu viel für mich.“ Kerstin Thomar suchte eine neue Herausforderung, wollte näher an die Inhalte, „etwas Kreatives machen“.
Kerstin Thomars erster Arbeitstag bei der MCC fiel in den Oktober 2024. Sie lesen richtig: Noch fünf Monate bis zum März 2025, ein ganz eigener Countdown. „Ich durfte ins kalte Wasser springen“, erinnert sich Thomar. Ab jetzt hätten ihre Tage gern 48 Stunden haben können. Die Aufgaben jedenfalls würden das hergeben: Kommunikation mit den Verlagen, Programm-Koordination, die Hallenplanung: Wo, bitte, steht wann was? Das auf der MCC ziemlich schnell wachsende Thema Gaming landet auch bei ihr. Im Prinzip ist die Messehalle 3 ihr Beritt; plus Signierbereich, plus Schwarzes Sofa in Halle 1. Kerstin Thomars Messe-Premiere im Frühjahr 2025 läuft nach diesem ausführlichen learning by doing erstaunlich rund: „Es war gar nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe“, sagt sie augenzwinkernd. „Ich fand’s sogar schön!“ Großartig etwa das Gefühl, dass sich alles zusammenruckelt – auch wenn man bislang „nur Papier“ gesehen hat: Es erscheint ihr wie das organische Wachstum einer ganzen Stadt: „Da IST plötzlich was!“
Mit Aussteller:innen und Mangakas zu sprechen, die Zufriedenheit über eine erfolgreiche Messe in ihren Gesichtern zu sehen, gehört für Kerstin Thomar zu den befriedigenden Momenten in ihrem Job. Während es bei den japanischen Ehrengästen, deren Zeitplan eng getaktet ist, keine Chance für einen Plausch gibt, wirkt das Gespräch mit dem deutschen Manga-Künstler Dominik Jell („Crossing Borders“, Carlsen) länger nach. Auch die Unterhaltung mit einer italienischen Künstlerin des in vier Sprachen erscheinenden, vom Hamburger Comic-Verlag altraverse herausgegebenen Magazins „MANGA ISSHO“ ist spannend. Kerstin Thomar war während ihres Studiums ein halbes Jahr in Italien – noch 2017 kaufte sie Manga dort überwiegend im Comic-Fachhandel. „Inzwischen geschieht das ganz selbstverständlich auch in der Buchhandlung.“
Aufgewachsen ist Kerstin Thomar in der „Kindermedienstadt“ Erfurt – die Thüringer Hauptstadt ist Sitz des KiKa von ARD und ZDF, des größten deutschen Kindermedien-Festivals „Goldener Spatz“ und der Akademie für Kindermedien. Als 1989 geborene Tochter eines Elektrotechnikers und einer vietnamesischen Vertragsarbeiterin ist sie ein „Wendekind“, hineingeboren ins wiedervereinigte Deutschland. Nach dem Abitur ging sie mit Erasmus-Förderung für ein Jahr ins litauische Kaunas. Sie arbeitete dort in einem Mehrgenerationenhaus, ein Modell-Projekt, das Seniorenheim, betreutes Wohnen und einen Schutzraum für alleinerziehende Mütter unter einem Dach vereinte. Wieder zurück in Deutschland, begann Kerstin Thomar zunächst ein Studium der evangelischen Theologie – das sich jedoch nur als Ausgangspunkt einer längeren Suchbewegung herausstellen sollte: „Ich bin multireligiös aufgewachsen, und über meine Mutter auch mit der buddhistischen Lehre vertraut. Im Studium habe ich gemerkt, dass ich die – ihren Gegenstand etwas nüchterner betrachtende – Religionswissenschaft spannender finde.“
Thomar wechselte von Leipzig nach Halle/Saale und landete über die Fächerkombination Erziehungswissenschaften/Theologie „am Ende des Tages“ bei Erziehungswissenschaften und Kunstgeschichte. Ihre Bachelor-Arbeit schrieb sie über die Bauhaus-Leuchten der Designerin, Fotografin und Malerin Marianne Brandt (1893-1983). Noch heute hält Thomar auf Flohmärkten gelegentlich Ausschau nach Brandts Kandem-Leuchten (gut erhaltene Exemplare haben es ins MOMA oder ins British Museum geschafft) – wichtiger für ihren weiteren Werdegang sollten die Jobs werden, mit denen sie sich das Studium finanzierte: Sie arbeitete auf Messen etwa für die Christoffel Blindenmission (CBM) oder im Hochschulmarketing; auf der vocatium, einer Fachmesse für Ausbildung und Studium, vertrat sie ihre Fakultät. „So eine Beratung“, sagt sie rückblickend, „hätte ich als Schülerin auch gern gehabt. Und auch was das authentische Auftreten auf Messen und Events angeht, habe ich von dieser Zeit sehr profitiert.“ Im Corona-Jahr 2020 hat Kerstin Thomar ihr Studium abgeschlossen. Manche Snapshots aus dieser Zeit wirken surreal: „Ich habe mein Zeugnis zum Beispiel durch ein Fenster herausgereicht bekommen“, erinnert sie sich. Der Einstieg ins Berufsleben gelang reibungslos – Thomar wurde Office-Managerin in einem Startup aus der IT-Branche; die Zeit, in der die Firma coronabedingt kaum neue Geschäftsfelder entwickeln konnte, nutze sie für eine Weiterbildung zur Projektmanagerin.
Wie aber gelangte Kerstin Thomar von Pittiplatsch und Bernd, dem Brot, deren Figuren man als Kind in Erfurt häufig begegnen konnte, zur phantastischen Welt der Manga-Heldinnen und Helden? Die Familien-Tradition konnte hier nicht helfen – „bis auf die Tatsache, dass man manche ausgefallenen Merch-Produkte in die Hand bekam, bevor sie auf dem deutschen Markt auftauchten“. Die Reise nach Vietnam war teuer, zwei Mal war Thomar mit den Eltern in die alte Heimat der Mutter unterwegs, allein fuhr sie zum ersten Mal mit 17. Die Kinderserien im deutschen Fernsehen begannen Thomar schon im zarten Alter von fünf, sechs Jahren zu langweilen, sie landete früh bei „Heidi“, „Sailormoon“ oder „Dragonball“ auf RTL II. Die Liebe zu Manga wurde zuhause, wo man Bildungserfolg und einen erstklassigen Abschluss als Sprungbrett fürs künftige Leben extrem wichtig nahm, nicht unbedingt gern gesehen, „Kinderkram“ nennt es die Mutter noch heute. Ein Stachel, der tief saß, und dazu führte, dass Thomar als Teenagerin aufhörte, Manga-Figuren zu zeichnen und ihre gesamte Sammlung verkaufte. „Nur die Sailor-Moon-Bücher in Erstauflagen habe ich behalten. Aus heutiger Sicht war es das emotional Schwierigste, was ich mir in meinem Leben angetan habe.“ Verständlich, dass Kerstin Thomar „superfroh“ darüber ist, wie sie sich aus eigener Kraft aus dieser Drucksituation befreien konnte – und mit der Arbeit für die MCC an ihrer alten Manga-Liebe anknüpfen kann.
Inzwischen laufen die Vorbereitungen für die MCC 2026 (19. – 22. März) auf Hochtouren. Kerstin Thomar kann den Herausforderungen nun schon mit einer gewissen Routine begegnen. Es sind mehr als genug: Da ist der erstmals ausgeschriebene Tancho Award, der den deutschsprachigen Mangaka-Nachwuchs künftig sichtbarer machen soll. Das Potenzial des boomenden Rollenspiel-Themas „Pen and Paper“ (und die dazugehörigen Bücher) soll für die MCC gehoben werden. Dazu die üblichen „Daily-Business-Themen“, von der Hallenplanung bis zur richtigen Mischung zwischen Händler:innen und Künstler:innen. Und natürlich nutzt Kerstin Thomar jede sich bietende Gelegenheit, Wissen über und Akzeptanz für die vermeintliche „Nerd-Kultur“ zu mehren – die im deutschsprachigen Raum heute zu den am stärksten wachsenden Medien-Segmenten gehört. Statt von rechts nach links liest die MCC-Projektmanagerin in diesem Sommer allerdings vermehrt traditionell von links nach rechts: Sie büffelt für ihr Master-Studium Business Coach/Change Management an der Euro-FH Europäische Fernhochschule Hamburg. „Dafür geht gerade mein Urlaub drauf.“