Autor: Nils Kahlefendt

Kjersti Anfinnsen, hier mit der norwegischen Originalausgabe ihres Romans, im Literaturhaus Leipzig (c) nk

Der Besuch der alten DameĀ 
28. Januar 2025
Die Norwegerin Kjersti Anfinnsen hat mit ā€žLetzte zƤrtliche Augenblickeā€œ einen überraschend unterhaltsamen Roman über die Einsamkeit des Daseins, die Liebe und den Tod vorgelegt. Ā 
Autor: Nils Kahlefendt

Kjersti Anfinnsen, hier mit der norwegischen Originalausgabe ihres Romans, im Literaturhaus Leipzig (c) nk

Der Besuch der alten DameĀ 
28. Januar 2025
Die Norwegerin Kjersti Anfinnsen hat mit ā€žLetzte zƤrtliche Augenblickeā€œ einen überraschend unterhaltsamen Roman über die Einsamkeit des Daseins, die Liebe und den Tod vorgelegt. Ā 

Birgitte Solheim ist so alt, dass die meisten ihrer Freunde schon gegangen sind. Den Großteil ihrer Wohnung verbringt sie in ihrer Pariser Wohnung und blickt zurück: Mit ihrer Karriere als Herzchirurgin – die erste in Norwegen! – brach sie erfolgreich in eine MƤnnerdomƤne ein, die Gründung einer Familie, der Wunsch nach eigenen Kindern mussten dahinter zurückstehen. Die Frau, die einer über 90jƤhrigen Ausnahme-Medizinerin an der Schwelle zum Tod mit großartiger Einfühlung eine Stimme verleiht, ist die 1975 geborene, in Oslo lebende Kjersti Anfinnsen. Im Literaturhaus Leipzig und in Berlin war sie dieser Tage zu erleben – eine außergewƶhnliche Vorbotin des norwegischen Gastlandauftritts zur Leipziger Buchmesse im MƤrz. 

Im Brotberuf ist Kjersti Anfinnsen, Jahrgang 1975, ZahnƤrztin – daneben hat sie sich in ihrer Heimat Norwegen als Autorin und DJane einen Namen gemacht. Nach StudiengƤngen zum literarischen Schreiben in TromsĆø und Bergen verƶffentlichte sie 2012 ihr Debüt. ā€žLetzte zƤrtliche Augenblickeā€œ, das eben im Wiener Septime Verlag erschien, ist ihre erste Publikation im deutschen Sprachraum. Der von der eindrucksvollen Protagonistin Birgitte Solheim geprƤgte Roman erschien im Original ursprünglich in zwei BƤnden: ā€žDie letzten ZƤrtlichkeitenā€œ (2019) und ā€žAugenblicke für die Ewigkeitā€œ (2021) – letzterer wurde bis heute in 13 Sprachen übersetzt und war für den Literaturpreis der EuropƤischen Union nominiert. 

Moderator Thomas Bƶhm im GesprƤch mit Kjersti Anfinnsen (c) nk

Wie, fragt man sich schon nach Lektüre der ersten Seiten von ā€žLetzte zƤrtliche Augenblickeā€œ, ist eine Frau von noch nicht einmal fünfzig Jahren fƤhig, so vollkommen in die Gedanken- und Gefühlswelt einer über NeunzigjƤhrigen einzudringen? Ein Zufall, erklƤrt Anfinnsen in Leipzig: ā€žIch habe mich fünf Jahre erfolglos mit einem anderen Buch abgemüht – und dann, quasi als Lockerungsübung, angefangen, kleine Texte zu schreiben, aus denen eine mir unbekannte Bitternis sprach. Ich fragte mich: Was ist das für eine Stimme? Nach und nach wurde mir klar, dass es die Stimme einer sehr alten Frau sein muss, die die Summe ihres Lebens zieht.ā€œ So wurde die Herzchirurgin Birgitte Solheim erfunden. Da es, als Anfinnsen am Buch schrieb, in ganz Norwegen noch keine realexistierende Herzchirurgin gab, lƤsst sie die Birgitte des Romans in New York Karriere machen. 

Lange Schlange: Kjersti Anfinnsen signiert nach der Lesung geduldig ihre Bücher (c) nk

Auf dem Original-Cover des Kolon Verlags (Oslo) ist ein Skalpell zu sehen: Das Instrument der Chirurgin, aber auch ein Bild für den Ton Birgitte Solheims: Er ist Ƥußerst prƤzis und genau, aber auch von Ƥtzender SchƤrfe und zuweilen Bƶsartigkeit. Ihre Bitterkeit hat zweifellos mit der Erfahrung zu tun, gegen Ende des eigenen Lebens in der Gesellschaft fast unsichtbar zu sein, nicht gehƶrt zu werden – eine gefühlte Lebensungerechtigkeit.Kjersti Anfinnsens große Kunst besteht darin, dieses Buch nicht nur in schwƤrzesten Farben gehalten zu haben. Der Roman entwickelt überraschend tragikomische Momente, etwa in der skurrilen Skype-Beziehung Birgittes zu ihrer Schwester und in jener zu ihrem Freund JaviĆ©r, den sie, selbstverstƤndlich, übers Netz kennengelernt hat und der im Fortgang der EzƤhlung einen Demenzschub erleidet. Fast schon regelmäßig wird Anfinnsen gefragt, wie es ihr, in der Mitte des Lebens stehend, mƶglich ist, sich in eine alte Frau hineinzuversetzen? ā€žDas ist eines der Wunder von Literaturā€œ, sagt Kjersti Anfinnsen. ā€žDie Kraft der Imagination erlaubt es mir, freier zu sein, als wenn ich nur über mich schreiben würde.ā€œ 

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Traum im Frühling: Über 40 norwegische Autor:innen und Illustrator:innen werden im Rahmen der Leipziger Buchmesse (27. bis 30. März 2025) zu Gast sein. Die Themen sind hierbei breit gefächert: Neben der zeitgenössischen Literatur liegt der Fokus auf Sachbüchern, Literatur für Kinder und junge Erwachsene, norwegischen Kriminalromanen (Nordic Noir) sowie SÔmi-Literatur. 

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