„Die Europäer sind oft traurige Zuschauer.“ Mathias Enard, der für seinen Roman Kompass mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrte französische Autor, hielt seine Dankesrede im vollbesetzten Gewandhaus in flüssigem Deutsch – und artikulierte mit sanfter Stimme doch harte Fakten. Selten zuvor dürfte der engagierte Einspruch für die Idee eines friedlichen, geeinten Europas dringlicher gewesen sein als in diesen unwägbaren und politisch erhitzten Zeiten. Während Enard sprach, gingen die ersten Meldungen vom Anschlag in London über die Ticker. Enard, der polyglotte Kosmopolit, erinnert in seiner bewegenden Rede daran, wer Europa war – „eine libanesische Prinzessin, am Strand bei Sidon von Zeus entführt… eine illegale Einwanderin, eine Ausländerin, eine Kriegsbeute“. Der Genussmensch Enard, der neben seiner Schreibarbeit ein Fusion-Restaurant in den verschlungenen Gassen seiner Wahlheimat Barcelona betreibt, schöpft für seine phönizische Küche aus allen Regionen rund ums Mittelmehr. Wer wüsste besser als er, dass Europa, wenn es diesen Teil seiner Geschichte vergisst, sich selbst zu einer Art Einsamkeit verdammt – zu einer „Festung wider Willen“?
„Europa, wir müssen reden!“
So wie Enard in seiner Küche Aromen und Zutaten mischt, lebt die Leipziger Buchmesse von der Mischung aus lauten und leisen Tönen. Im Frühjahr 2017, zwischen Trump-Tiraden, Brexit und Erdogan-Ausfällen, hat sich das Mischungsverhältnis geändert. Politisch ist die Messe seit Jahren – doch der gesellschaftlichen Klimawandel sorgt für ordentlich Druck im Kessel und aus den Nähten platzende Arenen. Die Spiegel an der Bühnenrückwand des Café Europa signalisierten den Perspektivwechsel, den Kuratorin Esra Kücük dem Programmschwerpunkt Europa21 verordnete: In einer Reihe von „Salongesprächen“ versuchen Kulturschaffende und Intellektuelle zu erkunden, inwieweit sich unser Selbstbild mit den Realitäten deckt. Klar, dass in postfaktischen Zeiten nicht alles über den Kopf funktioniert: In ihrer Eröffnungs-Performance zerlegt die Schauspielerin Idil Nuna Baydar alias Jilet Ayse unsere Klischees und Vorurteile mit Brachial-Humor – und nimmt verschreckte Messebesucher nicht nur auf, sondern in den Arm. Das gemeinsame „Live-Nachdenken“, bei dem es nicht, wie sonst in Talk-Runden üblich, um das Durchpauken der je eigenen Positionen geht, funktioniert auf dem turbulenten Messe-Jahrmarkt erstaunlich gut. Das Ringen um den eigenen Standpunkt wird dem andächtig lauschenden Publikum niemand abnehmen.
Keine Scheu vor heißen Eisen
Das Bedürfnis nach Aufklärung, nach Reflexion und Durchdringung dessen, was in Europa in Zeiten des Terrors und in der Welt in der Zeit eines Trumps vor sich geht und wie man den Krisensymptomen beikommen kann, ist immens. In Halle 4, im „Café Europa“ und seiner Umgebung – den Ständen der Länder Osteuropas, der Schweiz und Österreichs – war der Andrang ähnlich groß wie in der Glashalle, wo die Lesungen der Stars auf dem Blauen Sofa oder den Bühnen der anderen TV-und Radiosender stattfinden. „Plötzlich ist Schluss mit p.c. und Canettis Massen beginnen wieder zu rasen“, so beschreibt etwa die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse das Gespenst des Populismus. Für ihren Autoren-Kollegen Ingo Schulze kommt er nicht aus heiterem Himmel, sondern hat seine Ursache in der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Das austro-sächsische Podium zum Populismus in Deutschland und Österreich, sekundiert vom Soziologen Robert Misik, moderiert vom NZZ-Kulturkorrespondenten Joachim Güntner, war zweifellos ein Highlight in der gemeinsam mit dem LCB aufgelegten Reihe Im Brennpunkt. Bei der klug besetzten Fortschreibung des ehemaligen „Autorenspecials“ wurden subjektive Autoren-Sichten durch die Expertise von Fachleuten ergänzt; eine Dramaturgie, die es – vom Baltikum und seinen schwierigen Nachbarschaften bis zum Ukraine-Konflikt – erlaubt, politisch heiße Eisen anzufassen. LCB-Organisator Thomas Geiger zieht ein rundum positives Fazit: „Wahrscheinlich erleben wir hier das größte offene politische Forum im deutschsprachigen Raum, das sich um europäische Themen kümmert.“
Die Stunde der Verleger
Die polnische Verlegerin Beata Stasinska (W. A. B. Verlag) kommt sich dieser Tage nicht selten vor wie im „Traum eines Verrückten“: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und andere Medien werden politisch instrumentalisiert, was nicht selten auf „Freiheit für Hassreden“ statt freier Meinungsäußerung hinausläuft. In Viktor Orbáns Ungarn, so berichtet Gábor Csordás, Chef des renommierten Jelenkor Verlages im südungarischen Pécs, wird das System von „Checks and Balances“ ausgehöhlt, ein Großteil der Medienlandschaft von regierungsnahen Medien kontrolliert. Wie Verlegerinnen und Verleger aus Mittel- und Osteuropa auf derlei Entwicklungen reagieren – und was ihre Kollegen im Westen von ihren Erfahrungen lernen können – war Gegenstand eines vom Börsenverein organisierten Panels auf der Leipziger Buchmesse. Die Meinungsfreiheit einzuschränken, um sie zu schützen, darin wusste man sich auf dem Podium einig, kann kein Weg sein. Fakten setzen, Transparenz schaffen – nie war das wichtiger als heute. „Eigentlich“, so Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis, „schlägt genau jetzt die Stunde der Verleger. Wir haben die Verpflichtung, den Mund aufzumachen.“
„Unsere Hände brennen“
Mit einer Solidaritätsaktion für die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan setzte die Branche auf der Buchmesse ein klares Zeichen für die Meinungsfreiheit. Erdogan steht stellvertretend für über 150 derzeit in der Türkei inhaftierte Journalisten, Schriftsteller und Verleger. 2008 hatte sie die Leipziger Buchmesse noch selbst besucht – in diesem Jahr wurde eine sichtlich gezeichnete Asli Erdogan live aus dem ZDF-Studio in Istanbul zum Blauen Sofa in der Glashalle zugeschaltet. Die Türkei darf sie derzeit nicht verlassen, in der Messe-Vorwoche begann ihr Prozess. Ob sie Hoffnung auf eine Verbesserung der Zustände habe, wurde die 50-Jährige Autorin gefragt. „Die Hoffnung liegt in unseren eigenen Worten“ antwortete Erdogan. Man könne nicht schreiben, ohne sich die Hand zu verbrennen: „Unsere Hände, Arme, Haare brennen. Aber wenn ich nicht mehr schreiben würde, würde ich alles verlieren. Das ist keine Option.“
Meinungsfreiheit – nicht zum Nulltarif
Um zu zeigen, dass man den in Ankara in U-Haft sitzenden Deniz Yücel – und all die anderen in der Türkei verhafteten Journalistinnen und Journalisten – nicht mundtot machen kann, organisierten Kristine Listau (Verbrecher Verlag) und Katharina Florian (Nautilus) eine Buchmesse-Fortsetzung der Solidaritätslesung, die unmittelbar vor Messestart den Festsaal Kreuzberg in Berlin füllte. Etliche Veranstalter schlossen sich der Aktion an, und so traten Verleger und Autoren an vielen Leseorten der Messe mit Texten von Yücel auf. Es sind geistreiche Texte, kämpferisch und klar in der Sache, oft voller Ironie. Inzwischen lassen sie sich nachlesen: Mitte April erschien, unterstützt von der Druckerei Beltz (Bad Langensalza) und der Tageszeitung „Die Welt“, eine aktualisierte Neuausgabe von Yücels Nautilus-Flugschrift Taksim ist überall (2014). „Da Deniz die Neuausgabe nicht selbst autorisieren kann, hat er über seine Anwälte 15 Freunde und Kollegen benannt, die jeweils ein Kapitel Korrektur lesen“, erklärt Katharina Florian. Yücel selbst, so war zu erfahren, freue sich wahnsinnig über das Buch. Auch das ein Stück gelebte Solidarität.