Wer, bitte, ist Thadeus Roth? Dennis Levin, Jahrgang 1981 und aufgewachsen im niedersächsischen Zonenrandgebiet, kennt diese Frage; er knipst, wenn er sie wieder einmal beantworten muss, sein unergründlichstes Lächeln an: Genaues weiß man nicht, soll das wohl heißen. Vermutet werden Roths erste Auftritte in den Kreisen der Situationistischen Internationale, einer Kommunikations-Guerilla, die Mitte der sechziger Jahre mit ihren Aktionen die internationale Kunstwelt und die Popkultur gleichermaßen aufmischte. Ihr englischer Ableger King Mob sorgte für Furore, als eines der Mitglieder, als Weihnachtsmann verkleidet, in einem Londoner Kaufhaus Spielzeug an Kinder verteilte – so lange, bis die Polizei den falschen Santa in Handschellen abführte und die Geschenke einkassierte. Kindertränen flossen reichlich. „Wir vermuten, dass Herr Roth unter dem Bart steckte“, meint Levin, immer noch mit Pokerface. Ob’s stimmt? Egal – es ist eine gute Geschichte. Und Levin liebt gute Geschichten – wie die von jenem geheimnisvollen Reisenden, der seit Jahrzehnten an der Grenze von Fiktion und Realität unterwegs ist.
Suddenlife Gaming
Im wirklichen Leben ist Dennis Levin einer der Geschäftsführer der Leipziger Firma Alternate Reality Strategies (A.R.S.), die seit 2012 unter dem Label Thadeus Roth „Erlebnisgeschichten“ verkauft. Suddenlife Gaming nennen sie das, abgeleitet von „sudden“ (plötzlich) und „life“ (Leben): „Wir benutzen Alltagsmedien – von Brief, Telefon und SMS bis WhatsApp und Facebook – um Menschen überraschend in Geschichten zu verwickeln.“ Die Gründer Dennis Levin und Nicolas Wiethoff kennen sich seit mehr als 15 Jahren, beide studierten in Leipzig Theaterwissenschaften und waren in der Off-Theaterszene der Stadt unterwegs. Alles begann mit einer ein wenig aus dem Ruder gelaufenen Geburtstagsüberraschung für einen gemeinsamen Freund. Statt des üblichen Präsents mit Schleifchen strickten Levin und Wiethoff eine Geschichte um ein mysteriöses Erbe, die sich, mit immer komplexeren Volten, ins Alltagsleben des nichtsahnenden Jubilars schob – gefakte Notariatspost und Anrufe von gierigen Miterben inklusive. Selbst eine ominöse Haupterbin aus USA mit eigenem MySpace-Profil fehlte nicht. Der Showdown dann auf einer Leipziger Industriebrache, wo für das in die Irre geführte Geburtstagskind bereits eine große Party am Laufen war.
Vom Geburtstags-Scherz zur Geschäftsidee
Im Kern zeigte der generalstabsmäßig durchgeplante Streich das Prinzip, nachdem Levin und Wiethoff noch heute arbeiten: „Wir erzählen unsere Geschichten direkt im Leben von Menschen; die Narration setzt auf der Realität auf. Dadurch entstehen überraschende Perspektiven aufs Gewohnte, die Spielwelt wird letztlich unendlich groß.“ Nach dem gelungenen Einstand wurden interaktive Geschichten bald nicht mehr nur aus dem Freundes- und Bekanntenkreis angefragt. Sollte man mehr daraus machen? Neben den Jobs – Levin arbeitete für eine PR-Agentur, Wiethoff war Doktorand in einem Forschungsprojekt zu Neuen Medien – ließ sich das nicht stemmen; zudem brauchte man ein Produkt, dass dem potenziellen Zielmarkt auch preislich gerecht würde. „So viele russische Oligarchen kennen wir leider nicht.“ Ließ sich die in Ansätzen erkennbare Geschäftsidee skalierbar machen? Eine technologische Lösung musste her. Mit Hilfe eines Programmierers wurde ein System entwickelt, das analoge wie digitale Medien in der Dramaturgie der Geschichte automatisch ins Spiel bringt – und mögliche Entscheidungen der Spieler antizipiert. Mit einem Stipendium der Sächsischen Aufbaubank gründeten Levin und Wiethoff ihre Firma – und stiegen zunächst ins Privatkundengeschäft ein. Inzwischen sind vier „Erlebnisgeschichten“ im Angebot, vom interaktiven Krimi für Erwachsene bis zur Piraten-Story für die Kleinen. Ihre Entwicklung dauert, je nach Komplexität, drei bis sechs Monate; in Atem gehalten werden die Spieler damit zwischen drei und acht Wochen.
Mit „Supernerds“ in die Medien
Reichlich Mundpropaganda, gute Medienpräsenz und ein erfolgreiches Pilotprojekt katapultierte Thadeus Roth ins B2B-Geschäft: Im Auftrag der Bremer „Tatort“-Redaktion verwickelten die Leipziger 2014 mehrere tausend Spieler über E-Mails, Postsendungen, Anrufe, SMS, Fake-Websites und Social-Media-Profile in einen spannenden Kriminalfall. „Wir haben eine Nebenfigur aus dem Film zu unserer Hauptfigur gemacht“, erklärt Levin, „zwei narrative Welten waren so miteinander verknüpft“. Die bislang größten Wellen schlug Supernerds – eine Theaterproduktion des Schauspiel Köln mit begleitendem WDR-Themenabend. Thadeus Roth begleitete das Projekt, bei dem es um digitale Überwachung ging, vor, während und nach der Premiere mit maßgeschneidertem Suddenlife Gaming. „Vielen Spielern wurde mit Schrecken bewusst, wie schnell die Kontrolle über die eigenen Daten verloren geht – und wie wichtig es ist, bewusst mit ihnen umzugehen.“ Das Projekt wurde mit dem Eyes and Ears Award für die beste crossmediale Eventkampagne 2015 ausgezeichnet; „Spiegel Online“ sprach von einem „Triumph für das öffentlich-rechtliche Fernsehen“.
Transmedia Storytelling auf der Leipziger Buchmesse
Vor diesem Hintergrund erscheint der Auftritt von Thadeus Roth im Neuland 2.0, dem 2016 aufgesetzten Startup-Village der Leipziger Buchmesse, nur folgerichtig: „Die Verlagswelt ist für uns eigentlich ein natürlicher Partner“, erklärt Levin. „Es gibt guten Content – und den Wunsch nach neuen Produkten und Geschäftsfeldern.“ Neuland bot den idealen Rahmen, auf Tuchfühlung zur Branche zu gehen. Nun soll der nächste Schritt folgen. „Gemeinsam mit der Messe bieten wir Verlagen und Autoren an, transmediale Erzählformen auszuprobieren – und damit den direkten Draht zum Leser herzustellen.“ Für das Format „Kunstprobe“ des Leipziger Schauspiels haben die Story-Teller von Thadeus Roth bereits ähnliche transmediale Wurfsendungen entwickelt. Sind nicht in jedem Buch Botschaften für ‚Echtzeitgeschichten’ versteckt, die man nur zum Fliegen bringen muss? „Stell’ Dir vor, Du erhältst nach der Registrierung im Krimi-Menü unseres Online-Portals die SMS eines gesuchten Mörders, offenbar höchst eilig eingetippt“, schwärmt Levin. „Dann klingelt Dein Telefon – und Fritz Honka ist dran!“ Alte und neue Medien, so die Überzeugung der Leipziger Tüftler, müssen sich nicht ausschließen – im Gegenteil: „Ihr intelligentes Zusammenspiel kann die tollsten Effekte erzeugen.“
Bald Post aus Hogwarts?
Dennis Levin weiß, wovon er spricht. Er liebt Bücher – doch er weiß auch um den Reiz, den ein ins reale Leben verlängertes Lese-Erlebnis haben kann. So hat er, versunken in Paul Austers „New York Trilogie“, die Wege der Protagonisten im Buch auf Google Maps verfolgt. „Ich bin mir sicher, dass die verbundenen Linien die Umrisse eines Füllfederhalters ergeben haben“. Flunkerei? Wie wichtig das Spiel mit haptischen Elementen für die Philosophie des Startups ist, zeigt sich beim Betreten des Thadeus-Roth-Fundus. Eine wahre Wunderkammer mit unzähligen Kartons, in denen, säuberlich beschriftet, die Spiel-Elemente der einzelnen Geschichten lagern: handgeschriebene Briefe auf feinem Büttenpapier, kunstvoll angekokelte Fotos, Muscheln, die sich erst bei genauester Prüfung als Industrieprodukte erweisen. „Wir arbeiten ganz oft mit solchen Elementen. Man kann als Spieler ein kleines Päckchen durchwühlen, Dinge anfassen – dieses auratische Element einer Geschichte ist uns sehr wichtig.“ An einer Pinnwand hängt Fanpost in Krakelschrift: Grüße an Herrn Roth, von kleinen Piraten nach bestandenem Freibeuterabenteuer geschickt. Wo genau verläuft die Grenze zwischen Realität und Fiktion? Wir wissen es nicht. Sollten wir allerdings nächstens in unseren Social Media Accounts über verdächtige Botschaften von Wallander, Kluftinger und Co. stolpern, gar Post aus Hogwarts erhalten – dann könnten wir einen gewissen Thadeus Roth gerade eben zufrieden lächelnd ums Eck biegen sehen: Mission accomplished!