Sabine Stöhr erinnert sich noch genau an jenen Buchmesse-Donnerstag im März 2018: Als ihr Übersetzerkollege Jurij Durkot vorschlug, gemeinsam ein paar Worte zurechtzulegen, nur für den Fall, dass es doch einen Preis geben könnte, war sie nur schwer dazu zu bewegen. „Ich hielt das für ziemlich unwahrscheinlich“, lacht Stöhr, „schon die Tatsache, dass wir mit Serhij Zhadans Roman „Internat“ in der Kategorie Übersetzung nominiert waren, schien uns eine große Ehre zu sein.“ Spätestens als Messe-Geschäftsführer Martin Buhl-Wagner zur Preisträger-Verkündung in den Plural wechselte, wusste das sprachversierte Übersetzer-Duo, was die Stunde geschlagen hatte. Es waren vor allem Worte des Dankes, die sie unterm Glashallenrund aussprachen: An Lektorin Katharina Raabe und den Suhrkamp Verlag, an Serhij Zhadan, der mit auf die Bühne gekommen war, „für das tolle Buch“. „Schlechte Texte lassen sich leicht übersetzen, nämlich schlecht“, hieß es im Vorab-Video. „Ich finde, es ist viel leichter, gute Bücher zu übersetzen“, hielt Sabine Stöhr gegen. „Weil es eine Freude und der Prozess so wichtig ist.“
Sabine Stöhr hat – so sagt sie es selbst – „das große Privileg“, zwei der wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Schriftsteller und Dichter zu übersetzen, „Freunde, Gleichgesinnte und doch Antipoden“: Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan. Der eine, Andruchowytsch, 1960 in Iwano-Frankiwsk, ganz im Westen der Ukraine geboren, der andere, Zhadan, 1974 im ukrainischen Osten, im Gebiet Luhansk nahe der Grenze zu Russland. Zwischen beiden liegen nicht nur vierzehn Lebensjahre, fast eine Generation, sondern über 1300 Kilometer Territorium und manch angebliche ‚Grenze’, die es in der Ukraine angeblich gibt.
Als Sabine Stöhr, die Osteuropäische Geschichte und Publizistik sowie Slawistik in Mainz und Simferopol studiert hatte und danach der Deutschen Botschaft in Kiew tätig war, Anfang der Nullerjahre aus dem Ukrainischen zu übersetzen begann, wusste man im Westen kaum, dass es diese Sprache gab. Juri Andruchowytsch ins Deutsche zu übersetzen soll Stöhr nach einer Lesung des Ukrainers im Berliner „Club der polnischen Versager“ beschlossen haben. Was das bedeutete, hat der Kritiker Helmut Böttiger sehr launig in seiner Laudatio zur Verleihung des Johann-Heinrich-Voß-Preises 2014 an Sabine Stöhr beschrieben: „Man musste nicht nur Neuland betreten, sondern gleich zwei, drei oder gar zweiundzwanzig Neuländer.“ Nach den Romanen „Zwölf Ringe“ (2005), „Moscoviada“ (2007) von Andruchowytsch, dem – auch kommerziell recht erfolgreichen – Roman „Kult“ von Ljubko Deresch übersetzte sie, wiederum im Tandem mit Jurij Durkot 2007 den Debüt-Roman „Depeche Mode“ von Serhij Zhadan. Charkiw, die ehemalige Hauptstadt der seowjetischen Avantgarde, ist dort Schauplatz einer aberwitzigen Geschichte aus dem Chaos der Umbruchszeit Anfang der 1990er Jahre: In ehemaligen Komsomolbüros der ostukrainischen Metropole Werbeleute, und das Jugendradio sendet am laufenden Meter eine Fake-Doku über „die irische Volksmusikgruppe Depeche Mode“ und die Rolle der Mundharmonika beim Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung. „Die Musik spielt sowohl für Juri als auch Serhij eine große Rolle“, erinnert Stöhr – der eine hat etwa mit der polnischen Band Karbido zusammengearbeitet, der andere stand häufig mit der Punk-Band Sobaky w kosmossi („Hunde im Kosmos“) auf der Bühne.
Dass die Aufmerksamkeit für die Literatur der Ukraine derzeit vor allem von unserem – verständlichen – Bedürfnis geprägt wird, möglichst viel über die aktuelle Entwicklung des Landes angesichts der russischen Aggression zu erfahren, findet Sabine Stöhr schade – zumal Andruchowytsch wie Zhadan, nicht nur als Romanautoren, sondern auch als Dichter und Musiker, „intensiv mit der künstlerischen Ausdrucksform Sprache spielen“. Dass etwa Andruchowytschs großer Roman Radio Nacht (2022) vor allem vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges gelesen wird, tut der Übersetzerin leid. „Das Buch ist ja eine Dystopie, die damit spielt, dass der Euromaidan nicht mit der Flucht des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytschs geendet hätte, es geht um Migranten in einem postmodernen Mitteleuropa. Das Buch sagt eigentlich mehr über uns und unsere Gesellschaft aus als über die Ukraine.“
Das letzte Buch von Serhij Zhadan, das Sabine Stöhr und Jurij Durkot, gemeinsam mit Claudia Dathe, übersetzt haben, ist Der Himmel über Charkiw, das im Jahr der Friedenspreis-Verleihung auf Deutsch erschien, eine Chronik der laufenden Ereignisse der ersten vier Monate nach der Russischen Aggression: Zhadan ist Tag und Nacht im beschossenen Charkiw unterwegs – er evakuiert Kinder und alte Leute aus den Vororten, verteilt Lebensmittel, koordiniert Lieferungen an das Militär und gibt Konzerte. Die Posts in den sozialen Netzwerken dokumentieren seine Wege durch die Stadt und sprechen den Charkiwern Mut zu, unermüdlich, Tag für Tag.
„Ich würde mich riesig freuen, einen neuen Roman von Serhij zu übersetzen“, sagt Sabine Stöhr. Und weiß doch, wie ungeheuer schwierig es ist, in Zeiten des Krieges zur Literatur zu finden. Kurz nach der Leipziger Buchmesse im März kündigte der Friedenspreisträger von 2022 an, in den Krieg zu ziehen. Lange hat der Schriftsteller mit Worten und als Musiker mit seiner Band für die Sache seines Landes gekämpft. Doch Anfang April hat er angekündigt, dass er in das Chartia-Bataillon der ukrainischen Nationalgarde eintreten werde. Auf Facebook hat er kürzlich ein Foto von sich gepostet: In Tarnkleidung, vor einem zerlegten Sturmgewehr.