„Am Anfang war das Wort und nicht die Zahl.“ Ein Satz des legendären Verlegers Kurt Wolff, der die Haltung der heutigen Gründergeneration noch immer ziemlich treffend beschreibt. Mit Fortüne und Phantasie sorgen unabhängige Verlage dafür, dass unsere Bücherlandschaft auch in Zeiten zunehmender Konzentration bunt und vielfältig bleibt. Ihre Geschichten erzählen von Freiheitsnischen, von geglückter Improvisation und fröhlichen Zufällen. Sie fürchten die Logik der Ökonomie eben so wenig wie die Konkurrenz der Großen. Sie wollen erfolgreich Bücher verkaufen – und doch authentisch, ganz nah bei ihren Leserinnen und Lesern bleiben.
Graswurzel-Bewegung: Gemeinsam hat man viel erreicht: Der Indiebookday, vom Hamburger Mairisch Verlag in bester Graswurzel-Tradition angestoßen, hat sich im Kalender etabliert. Die Hotlist, 2009 aus der Taufe gehoben, lenkt das Scheinwerferlicht von den großen Literaturpreisen auf den Reichtum der Verlagslandschaften insgesamt. In Leipzig, wo seit 2001 der Kurt-Wolff-Preis vergeben wird, sind Indies mit originellen Veranstaltungsformaten und immer wieder neuen, ausgefallenen Veranstaltungsorten Magneten fürs Lesepublikum.
Lecker Kaffee & mehr: Seit März 2015 ist das Forum Die Unabhängigen Herzstück des Auftritts der Independent-Verlage. Das Gemeinschaftsprojekt von Kurt Wolff Stiftung und Leipziger Buchmesse schiebt nicht nur quasi non-stop Verlagsprogramme an die Rampe. Es gibt auch den Menschen hinter den Kulissen ein Gesicht: Verlegerinnen und Verleger moderieren die Veranstaltungen und schenken an der Bar den leckersten Kaffee der Messe aus. In diesem März war das Forum zum siebten Mal in Halle 5 zu finden.
Menschen, Bücher, Sensationen: An vier Messetagen gingen im Halbstunden-Takt an die 50 Veranstaltungen von über 40 Verlagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz über die Bühne – von klassischen Lesungen und Buchpräsentationen bis zu Empfängen wie dem „Buchhandelstreff“ – der Empfang der Forums-Organisatoren für Buchhändlerinnen und Buchhändler – oder Preisverleihungen wie der Verleihung des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik an Wolfgang Matz. Die vermutlich längste Fanschlange nach den Jung-Adult-Heerscharen erfuhr der Berliner Lukas Verlag, der sich anlässlich seiner von Herausgeber Ekke Maaß vorgestellten Bulat-Okudschawa-Ausgabe „Mein Jahrhundert“ einen Gastauftritt des alten Kämpen Wolf Biermann gönnte.
Über Bücher sprechen: Auch Podiumsdiskussionen waren Bestandteil des Forums. Zum Thema „Bücher, die wissen, wo sie stehen – Furchtlos mit Büchern handeln“ organisierte die Initiative Verlage gegen Rechts eine Diskussion mit Kolleginnen der Buchhandlungen drift, heiter bis wolkigund Rotorbooks. Unter dem Titel „Über Bücher sprechen: Unabhängige Literaturpodcasts heute“ diskutierten Carolin Callies, Nefeli Kavouras und Ludwig Lohmann über die Frage, was Literaturpodcasts für die Sichtbarkeit von Literatur leisten können.
Was trinken wir? Alles! Highlight im an Höhepunkten nicht wirklich armen Forums-Programm war natürlich die Verleihung des mit 35.000 Euro dotierten Kurt-Wolff-Preises an den AvivA Verlag, der seit einem Vierteljahrhundert unter der Leitung von Britta Jürgs mit nicht nachlassender Energie und großem Spürsinn die weiblichen Stimmen der Weltliteratur zur Geltung bringt. Der mit 15.000 Eurodotierte Kurt-Wolff-Förderpreis 2024 ging an den Verlag mikrotext, in dem die Verlegerin Nikola Richter seit 2013 mit einem originellen Mix aus Hardcover, Paperback, Taschenbuch, E-Book und Podcast Kurzprosa und Roman, Reportage und Reflexion, Essay und Songtext, Lyrik und Soziale-Medien-Dichtung zusammenführt und so die Gegenwartsfähigkeit der deutschsprachigen Literatur befördert.
Neue Verlegerinnen braucht das Land: Ihre so kurzweilige wie pointierte Ladatio nutzte die Verlegerin, Autorin und Übersetzerin Zoë Beck, die erst vor ein paar Tagen mit der Trägerin des Förderpreises verwechselt worden war („Sie sind doch die ähm, na, Mikrotext-Frau, ach nee! Sorry … aber Sie waren ja auch eine von denen …?!“), um überkommene, aber immer noch wirkmächtige Geschlechter-Klischees der Branche aufzuspießen. „Liebe Britta, liebe Nikola, danke, dass ihr nicht tut, was von euch erwartet wird“, sagte Beck, „denn dadurch seid ihr Vorbilder, Weggefährtinnen, Verbündete und Vertraute in dieser Branche, in der zwar Frauen in der Überzahl sind, die in entscheidenden Positionen aber doch oft genug wieder ganz konventionell, ganz traditionell, ganz formell männlich dominiert ist, mit allen Ritualen, die dazugehören, mit allen Filtern und Schlagwörtern und Algorithmen, die Erfolg definieren wollen.“
Spätausgabe: Zum vierten Mal wechselte das Forum Die Unabhängigen nach Messeschluss in die Stadt. Am Messesamstag fanden sich im chabby-schicken Jugendstil-Ambiente des Westflügels der Schaubühne Lindenfels neunzehn Autorinnen und Autoren aus Deutschland, der Schweiz und Österreich ein. Mit dabei: Die Debüts von Laura Leupi und Luca Mael Milsch, die Romane von Kathrin Aehnlich, Reda El Arbi, Sebastian Guhr, Julia Hoch, Barbara Kadletz Dominika Meindl, Jürgen Teipel und Meri Valkama, Satirisches und Humorvolles von Matthias Brodowy, Ruth Herzberg und Susanne Riedel, Lyrik mit Jan Volker Röhnert und Tom Schulz sowie Sachbücher von Uta Bretschneider und Jens Schöne, Francis Seeck, oder Iris Antonia Kogler. Für Statistik-Feinschmecker: Insgesamt waren heuer 61 Verlage beim Forum Die Unabhängigen und der Spätausgabe beteiligt, darunter 52 Verlage aus Deutschland, sechs aus Österreich und drei aus der Schweiz.
Treffen, Trüffel, Torten: Dass die Connewitzer Verlagsbuchhandlung am Messe-Samstag zu einem Bunten Tag im Wörtersee einlädt, ist inzwischen schon gute Tradition. Bei Kuchen und gepflegten Getränken konnte man seine Lieblings-Autoren und –illustratorinnen treffen – und sich die frisch erstandenen Bücher und Druckgrafiken gleich live signieren lassen.
Watchmen-Muffin: Literatur geht durch den Magen, pflegte Lojze Wieser zu sagen, wenn er am Buchmesse-Stand seines Verlags dicke Scheiben Kärntner Bauerschinkens säbelte. Hannes Riffel, Verleger des 2023 in Wittenberge gegründeten Carcosa Verlags, hat seinen Stand bei der Messe-Premiere bewusst im Independent-Umfeld in Halle 5 aufgeschlagen, bei den Kolleginnen und Kollegen von Argument, Alexander, Edition Natulius, Orlanda, Unrast oder der VSA. Wer Riffel besuchte, bekam einen eigens für die Buchmesse fabrizierten Watchmen-Muffin angeboten: Das Gebäck ist eine Reverenz an Alan Moores und Dave Gibbons’ weltberühmte Graphic Novel gleichen Namens, will uns aber zaunpfahlartig noch etwas Anderes sagen: Im kommenden Herbst wird Carcosa die deutsche Erstausgabe des Riesenromans „Jerusalem“ von Alan Moore bringen, ein Werk jenseits der 2000 Manuskriptseiten und „eines der wunderbarsten und verstörendsten Bücher“, die der Verleger und Übersetzer Riffel je gelesen haben will.
Besser Leben: Nimmt man die Veranstaltungsdichte der Buchmesse, scheint für die Dichtung mehr als nur Hoffnung zu bestehen. So viele hochkarätige Lyriklesungen wie in den vier Buchmesse-Tagen gibt es selten: Da ist etwa die Lyriknacht Teil der Bewegung in der HGB, organisiert von EDIT, kookbooks, Schöffling und anderen, da ist die Lyrik-Lesung mit dem zauberhaften Titel „Das Vermisste ist final“ (und dem vielleicht schicksten Lesungs-Plakat der Messe) im „Besser Leben“ in Schleußig. Und da ist an drei Messeabenden die temporäre Lyrikbuchhandlung in der Galerie KUB in der Südvorstadt, organisiert von Ulrike Feibig, Tim Holland und Fabian Thomas.
Lyriktipps, jetzt auch für Kids: Die Lyrikbuchhandlung – Veranstaltungsformat und tatsächlich längster Verkaufstresen in einem – versteht sich als Präsentations- und Vernetzungsplattform für Verleger und Autoren zeitgenössischer Gedichte. Seit 2019 sind auch die Lyrik-Empfehlungen zu Gast, die traditionell am Welttag der Poesie, dem 21. März, bekanntgegeben werden. Kritikerinnen und Kritiker haben zehn deutschsprachige und zehn ins Deutsche übersetzte Gedichtbände ausgewählt, beachtet wurden Neuerscheinungen von Anfang 2023 bis März 2024. Neu sind heuer die Lyrikempfehlungen für Kinder – elf Bücher für Kids zwischen drei und elf.