Autor: László F. Földényi

Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
24. März 2020
Ungehaltene Dankesrede zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
Autor: László F. Földényi

Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
24. März 2020
Ungehaltene Dankesrede zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung

Warum Melancholie und Wissen Geschwister sind: Ungehaltene Dankesrede zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung

Es gibt vielerlei Themen, die man loben und zu deren Lob auch Bücher schreiben könnte. Und die könnten sich mit gleichem Recht um diesen Leipziger Buchpreis bewerben wie jenes, das von dem Lob der Melancholie handelt und dessen Verfasser jetzt hier vor Ihnen steht.

Was könnte man alles loben? Auf Anhieb fällt mir da ein: Das Lob der freien Rede. Das Lob der offenen Gesellschaft. Das Lob des Umweltschutzes. Das Lob des Liberalismus. Das Lob des Dialogs. Das Lob der Einsicht. Das Lob einer Politik, die sich dem entfesselten Kapital widersetzt. Und so weiter. Ein Thema aktueller als das andere, zumal in unserer von Krisen geprägten Zeit. Dabei handelt es sich aber nicht nur um eine Krise der Wirtschaft und des Finanzwesens, deren Auswirkungen seit geraumer Zeit weltweit spürbar sind. Das, was im Bereich der Wirtschaft und des Geldmarktes passiert ist, hatte nicht nur wirtschaftliche Ursachen. Die auslösende Ursache der Krise war in Wahrheit etwas, was ich als den zunehmenden Verlust der menschlichen Werte bezeichnen möchte. Und siehe da, schon nähern wir uns dem Thema der Melancholie.

Schon lange vor dem Herbst 2008 war zu beobachten, dass Geld, Profit und schneller Erfolg zum fast alleinigen Maßstab geworden waren. Nicht nur im Finanzsektor und im Wirtschaftsleben, sondern auch auf dem Gebiet der Kultur. Dieser Prozess setzte im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts ein, und zum letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts beschleunigte sich der beispiellose, fast perverse Siegeszug der von ihren politischen Schranken befreiten Wirtschaft. Seitdem setzt das, was man in Finanzkreisen als „Marktfundamentalismus“ bezeichnet, seinen Siegeszug fort.

Als wäre nichts geschehen. Der gegenwärtige Lauf der Welt wird von den gleichen Prozessen bestimmt, die schon den Ausbruch der Krise von 2008 ausgelöst hatten. Halten wir uns vor Augen, dass die Beschleunigung der Klimakatastrophe durch nichts mehr aufzuhalten ist. Die traditionellen, großen Parteien von vor 1989 brechen heute weltweit endgültig ein, sind in der Krise. Der globale Kapitalismus erschwert zunehmend das demokratische Funktionieren der Nationalstaaten, was vor allem in der östlichen Hälfte Europas offenkundig wird, wo die demokratische Tradition ohnehin wenig ausgeprägt ist oder gar nicht existiert. Heute triumphiert der Marktfundamentalismus, und in seinem Schlepptau wuchern immer mehr jene politischen Fundamentalismen, die dem Fundamentalismus des Kapitals den Kampf ansagen. Hinter den Kulissen jedoch gehen Marktfundamentalismus und politischer Fundamentalismus allen scheinbaren Unterschieden zum Trotz Hand in Hand miteinander und bestärken sich gegenseitig. Beider Hauptfeind ist der Liberalismus. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich komme aus einem Land, in dem die illiberale Demokratie, diese widersinnige Quadratur des Kreises, erfunden wurde. Der Markt und das unkontrollierte Geld werden angebetet, alle Manifestationen des Liberalismus zugleich angegriffen.

Hier möchte ich aber nicht über die gegenwärtige Politik meines Heimatlandes sprechen; ich möchte meine Freude über den Preis davon nicht trüben lassen. Lassen Sie mich lieber zu den vorhin skizzierten Buchtiteln zurückkehren. Würde also jemand die Bücher schreiben, wären sie alle aktuell und im Geiste der europäischen Verständigung würdige Bewerber um den Leipziger Buchpreis.

Doch was hat ein Buch mit dem Titel Lob der Melancholie unter ihnen zu suchen?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich erst erläutern, was ich unter Melancholie verstehe. Was ist Melancholie? Mir ergeht es damit wie dem heiligen Augustinus mit der Zeit, als er schrieb: „Was ist Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht.“ Dasselbe lässt sich auch über die Melancholie sagen. Es ist einer der ältesten Begriffe der europäischen Kultur, an dem im Laufe der Jahrhunderte die widersprüchlichsten Vorstellungen hafteten. Beim Durchblättern medizinischer Bücher aus dem neunzehnten Jahrhundert fällt auf, wie der Begriff der Melancholie gerade wegen seiner Vieldeutigkeit zunehmend von dem der Depression verdrängt wurde, dessen weltweite Expansion bis in unsere Tage fortdauert. Den Begriff der Melancholie zu eliminieren, gelang jedoch nicht. Wo auch immer wir das Wort hören, spitzen wir sofort die Ohren.

Die Melancholie wurde von Epoche zu Epoche anders gedeutet; das Wort selbst hielt sich dennoch hartnäckig. Was dafür spricht, dass es einen gemeinsamen Nenner, einen gemeinsamen Grundzug geben muss. Die herausragenden Heroen der Antike, die verrückten Gottesleugner des Mittelalters, die Künstler der Renaissance mit ihren weit überdurchschnittlichen Fähigkeiten, später die gelangweilten Müßiggänger, die in sich gekehrt nach innen lauschen oder tagaus, tagein über die Vergeblichkeit aller Dinge sinnieren – denn sie alle wurden von ihren jeweiligen Zeitgenossen als Melancholiker beurteilt – : sie alle sind sich darin ähnlich, dass sie sich von der Welt abwenden, wie es auch der Melancholiker Jaques in Shakespeares Wie es euch gefällt tut. Sie wenden sich ab, verlieren die Welt aber nicht aus dem Blick. Sie betrachten sie vielmehr aus einem anderen Blickwinkel und sehen sie in einem anderen Licht.

Wo auch immer die Melancholie auftaucht und wie auch immer sie definiert wird, in der Regel deutet sich in ihr der dunkle Schatten der jeweiligen Welt an. Vergessen wir nicht: ursprünglich steht das Wort mit der Farbe Schwarz im Zusammenhang. Dem Melancholiker erscheint die Welt in einer Projektion, die den gewohnten Lauf der Dinge verwirrt. In welcher Zeit auch immer sie gelebt haben, nie vermochten die Melancholiker die jeweilige Einrichtung der Welt als eine endgültige zu sehen. Die Melancholie wirft den Schatten des Zweifels auf jede noch so selbstsicher anmutende Erklärung. Dabei versucht gerade unsere Zivilisation ständig, uns mit endgültigen Erklärungen zu blenden. Sie ist felsenfest überzeugt, dass sich früher oder später für alles eine Erklärung wird finden lassen und alles zu lösen sein wird, sogar eine Verlängerung des Lebens. Der Melancholiker teilt diese universelle Selbstsicherheit nicht. Für ihn ist das Unbekannte nicht etwas, was sich bei entsprechenden Kenntnissen früher oder später entschleiern lassen wird, sondern das innerste Zentrum des menschlichen Daseins und Denkens. Und was ist dieses Unbekannte? Etwas, worin jedes Leben eingebettet ist. Niemals sind wir vollständig Herr unseres Lebens; es gibt etwas, was stets über uns hinausgeht.

Der Mensch ist dadurch Mensch, dass er um die bruchstückhafte Natur seines Daseins weiß: er wird durch seine Geburt aus etwas herausgerissen und durch seinen Tod abermals aus etwas herausgerissen. Die Erkenntnis dieser Splitterhaftigkeit erst hat den Menschen zum Menschen werden lassen. Es ist nichts anderes, als unser Wissen um unsere Ausnahmesituation in der Welt – unser Wissen um Geburt und Tod. Und das ist auch schon der Augenblick der Geburt der Melancholie. Wissen und Melancholie sind untrennbar miteinander verbunden. So war es bereits bei den Menschen der Steinzeit und so ist es auch heute, da sich eine neue Zivilisation zu entfalten beginnt, die auch unsere verwegensten Vorstellungen überflügeln wird.

Dieses Wissen wollte ich im heute prämierten Buch Lob der Melancholie umreißen. Mich beschäftigte dabei die Krise unserer Zeit, zu deren Hauptmerkmalen für mich das Vergessen gehört. Wenn eine gegebene Zivilisation vergisst, wie zerbrechlich ihr Sein ist, wie außergewöhnlich, wie einmalig ihre Situation nicht nur innerhalb der Menschheitsgeschichte, sondern auch im Universum ist, wie verschwindend gering die ihr zugemessene Zeit im Vergleich zur universellen Zeitlosigkeit ist, wenn sie das also vergisst, bemächtigt sich ihrer der Hochmut, die Hybris, und sie nimmt auf nichts mehr Rücksicht. Bei Terroristen pflegen wir an einsam handelnde, fanatische Täter zu denken. Indessen leben wir alle, ohne dass wir uns dessen bewusst wären, inmitten einer gewaltigen, terroristischen Verschwörung, ja sind daran selbst beteiligt, gehören zu den Tätern. Wir alle, ohne Ausnahme. Auch ich. Wir alle, die wir Teil der heutigen Zivilisation sind. Einer Zivilisation, die unter Berufung auf den immer größer werdenden Reichtum die Bewegungen von Kapital und Geld entfesselt hat, gerade so als hätte sie sich verschworen. Und das Ziel hat kosmische Dimensionen. Einige Generationen noch, und das Ergebnis wird die Vernichtung allen menschlichen Lebens auf diesem Planeten sein.

Und hier meldet sich und mahnt die Melancholie. Sie verhilft uns zu etwas, was man allzu leicht verliert: die Offenheit. Sie hilft uns zu erkennen, dass es etwas gibt, was über uns hinausgeht, dass wir nicht allmächtig sind, dass wir trotz unserer Macht und unserer Errungenschaften von etwas abhängig sind, worauf wir keinen Einfluss haben. Eine Krise tritt dann ein, wenn diese Offenheit nachlässt oder aufhört. Dann wähnt man sich ungeheuer stark, hält sich dank seines materiellen Reichtums, seiner instrumentellen Vernunft, seiner politischen Macht zu allem fähig. Dabei erinnert man an Baron Münchhausen, wenn er sich an seinem eigenen Zopf emporheben will. Es hat in der Geschichte vermutlich noch nie einen solchen Überfluss an materiellen und kulturellen Gütern gegeben wie heute. Und doch spüren wir alle, dass etwas unwiederbringlich zu Ende gegangen ist, und wir vor einer unabsehbaren Zukunft stehen. Wie diese aussehen wird, davon haben wir keine Ahnung. Lob der Melancholie? Ja, man kann sie gar nicht genug loben.

Ich sprach zu Beginn meiner Rede vom Verlust der menschlichen Werte. Man bemüht sich, etwas dagegen zu unternehmen – mit Taten, mit Worten. Oder mit Büchern. Dieser Leipziger Buchpreis zeigt – wirft man einen Blick auf die Liste der bisherigen Preisträger –, dass es noch Inseln gibt, wo man versucht, dem allgemeinen Zeitgeist wirksam entgegenzutreten, gerade im Namen der menschlichen Werte. Dass es dieses Jahr auch mir gegeben ist, Aufnahme auf dieser Insel zu finden –, darüber freue ich mich aufrichtig und danke der Jury aus ganzem Herzen, und Ihnen danke ich, dass Sie mir zugehört haben.

Aus dem Ungarischen von Akos Doma

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Nach Absage der Leipziger Buchmesse aufgrund der aktuell hohen Auflagen für öffentliche Großveranstaltungen, hat sich das Kuratorium des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2020 zusammen mit dem Preisträger László F. Földényi darauf verständigt, die ursprünglich für den 11. März 2020 geplante Preisverleihung auf das Jahr 2021 zu verschieben und diese zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 17. März 2021 nachzuholen. Das Preiskuratorium, bestehend aus dem Freistaat Sachsen, der Stadt Leipzig, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. und der Leipziger Messe, sowie der Preisträger haben sich zugleich darauf geeinigt, die ungehaltene Preisrede László F. Földényis zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu veröffentlichen und in der Woche darauf auf dem Blog der Leipziger Buchmesse „Bücherleben“.

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