Wenn die Welt sich verändert, verändert sich auch die Literatur: Das war das Credo, dem die Kuratorinnen des Gastlandauftritts Niederlande & Flandern auf der Leipziger Buchmesse, Bettina Baltschev und Margot Dijkgraaf, folgten. Unter dem Motto „Alles außer flach!“ haben Nederlands Letterenfonds, Flanders Literature und ihre Partner ein fulminantes Programm mit mehr als 40 Mitwirkenden auf die Beine gestellt: Die meisten der rund 100 Veranstaltungen auf dem Messegelände, wo ein attraktiver Gastland-Stand mit Buchausstellung, Café und eng getakteten Gesprächen lockte, und an zahlreichen Locations in der Stadt, wurden von den Leipzigern und ihren Gästen regelrecht überrannt. Im Rahmenprogramm gab es unter anderem vier Ausstellungen und drei digitale Literaturinstallationen. Wie viel gab es zu sehen und zu hören!
Mit der Krise tanzen: Während bei der Buchmesse-Eröffnung im Gewandhaus gleich drei Ministerpräsidenten – Mark Rutte (Niederlande), Jan Jambon (Flandern, Chef des Europäischen Kulturrats) und Michael Kretschmer (Sachsen) – zu ihren Lieblings-Lektüren einvernommen wurden (Rutte glänzte mit einem formvollendeten „Zauberberg“-Privatissimum), konnte man an diesem ungewöhnlich milden Märzabend auch in die Schaubühne Lindenfels, das temporäre Headquarterdes Gastlandauftritts, radeln. Dort traf man auf Lisa Weeda und Dmitrij Kapitelman („Eine Formalie in Kiew“, Hanser), deren beider Wurzeln in der Ukraine liegen. Reden über ein Leben zwischen West und Ost, Frieden und Krieg. „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren” – das hat die große Choreografin Pina Bausch einmal gesagt. Ein Satz, den die niederländische Schriftstellerin Lisa Weeda mit ihrem neuen Buch Tanz, tanz Revolution (Kanon Verlag, übersetzt von Birgit Erdmann) aufgreift und ein kühnes Roman-Experiment präsentiert, dass sich von zwei Seiten lesen lässt, von Ost wie von West. Bereits in ihrem gefeierten Debütroman „Alexandra” hatte sich Weeda auf die Reise in den Osten Europas gemacht. Auf den Spuren ihrer Großmutter war sie in die Ukraine gereist. Besulia, das fiktive Land, das in ihrem neuen Roman von seinem Nachbarn angegriffen wurde, ist leicht mit der Ukraine zu verwechseln. Die zahlreichen Toten, die der Krieg tagtäglich produziert, und die wie von Zauberhand im Alltag der vom Krieg verschont bleibenden Menschen anderer Länder auftauchen, können im Roman, frei nach Pina Bausch, wieder lebendig getanzt werden. Weeda ist in den Niederlanden geboren, ihre Vorfahren stammen aus der Ukraine. Der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman erzählt in Eine Formalie in Kiew (Hanser Berlin) die Geschichte einer ukrainischen Familie, die einst voller Hoffnung in die Fremde zog, um ein neues Leben zu beginnen. Erzählt mit dem bittersüßen Humor eines Sohnes, der längst besser sächselt als die Beamtin, bei der er in Leipzig den deutschen Pass beantragt. Doch weil der Bürokratie keine Formalie zu klein ist, wenn es um Einwanderer geht, reist er in seine Geburtsstadt Kiew – mit der ihn, bis auf seine Kindheitserinnerungen, nichts mehr verbindet. Auffällig war in Leipzig, wie selbstverständlich und hellwach sich die neuen Stimmen aus den Niederlanden und Flandern mit derzeit aktuellen politischen Themen auseinandersetzen. Klimakrise, Kolonialismus, die Folgen der weltweiten Migrationsbewegungen und der Krieg in Europa oder Nahost bestimmten zahlreiche Lesungen, Diskussionen und Performances.
Weibliche Wut, weiblicher Blick: Die Geschichte der Menschheit war lange eine Geschichte der Männer. Doch die Zeiten ändern sich. In ihrer neuen Essay-Sammlung Vor allem Frauen (Diogenes, übersetzt von Lisa Mensing) untersucht die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen die Arbeit von elf Frauen und einem Mann, die ihr Leben und Arbeiten geprägt haben. Palmen, die Anfang der Neunziger als Schriftstellerin debütierte, gehört, nach der Generation von Hugo Claus, Willem Frederik Hermans, Harry Mulisch oder Cees Nooteboom, zu den niederländischen und flämischen Schriftstellern, die man auch im deutschsprachigen Raum kennt und schätzt. Zuletzt hatte Palmen den Roman „Du sagst es“ (2016) veröffentlicht, der die Beziehung des Dichterpaars Sylvia Plath und Ted Hughes behandelt und an ihm auf teils ironische Weise die Frage, wie sehr man für die Kunst leiden muss. Auf diese beiden Galionsfiguren ihres Lebens und Schreibens kommt Palmen auch in ihrem neuen Essayband zurück – neben Ted Hughes ist Philip Roth der einzige darin thematisierte Mann. An ihren Vorbildern hebt Palmen jeweils eine Eigenschaft besonders hervor – etwa Virginia Woolfs Autonomie, Sylvia Plaths Wahrhaftigkeit oder Joan Didions Unnahbarkeit. Die flämische Schriftstellerin, Übersetzerin und Librettistin Gaea Schoeters wiederum ist Mitglied der feministischen Gruppe Fixdit und Mitverfasserin des Manifests „Optimistische Wut”, das sich mit Sexismus in der Literatur befasst. In ihrem aktuellen Roman Trophäe (Zsolnay, übersetzt von Lisa Mensing) geht ihr Protagonist die ultimative Konfrontation mit der Natur ein und wirft ethische Fragen zum Postkolonialismus auf. An starken, streitbaren Frauen, die endlich die weiblichen Seiten der Weltgeschichte aufschlagen, herrschte im Gastlandprogramm kein Mangel.
Ohne Übersetzerinnen – keine Weltliteratur: Dass die Niederlande und Flandern eine ganze Programmlinie für die Fährleute der Literatur reservierten, war ein genialer Schachzug. Als man 2016 in Frankfurt zu Gast war, löste das eine Flut von literarischen Übersetzungen, Auftritten und Residenzen aus; rund 250 neue Titel erschienen damals in deutscher Übersetzung. Eine literarische Flutwelle, die seitdem munter weiter rollt: Seit Anfang 2023 bis zur Messe im März erschienen mehr als 100 deutsche Übersetzungen niederländischsprachiger Literatur. Die Literaturstiftungen aus den Niederlanden und Flandern setzen sich zusammen mit den deutschsprachigen Verlagen dafür ein, den nagelneuen Übersetzungen so viel Aufmerksamkeit wie nur möglich zu verschaffen: Die Leipziger Buchmesse bot für dieses Vorhaben die perfekte Bühne. Am Übersetzerforum und am Gastlandstand wurde den Übersetzerinnen und Übersetzern der rote Teppich ausgerollt: Täglich führte ein interaktiver Mini-Workshop in die Kunst des Übersetzens ein, Übersetzerinnen gaben Einblicke in die einschüchternde Aufgabe, Klassiker (neu) zu übersetzen, verschiedene Organisationen zeigten, wie die Arbeit von Übersetzerinnen von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann. Immer kamen sympathische Vertreterinnen und Vertreter ihres Berufsstands zu Wort, die offen und ehrlich von den Höhen und Tiefen ihres Berufslebens berichten – und beim Publikum eine regelrechte Charme-Offensive in Sachen Liebe zur niederländischen Sprache und Literatur eröffneten.
Fährfrauen: Es war 2014, als der C.H. Beck-Lektor Ulrich Nolte an einer sogenannten Publishers-Tour des Nederlands Letterenfonds, der Literaturstiftung der Niederlande, teilnahm. An einem schönen Abend in der Amsterdamer Keizersgracht, in der Uitgeverij Balans, wurde Nolte fast verschwörerisch von Cheflektor Jan Geurt Gaarland beiseite genommen: „Du, Ulrich, schau mal: Dieses Werk hier ist in alle großen Sprachen übersetzt, aber noch nicht ins Deutsche – wollt ihr das nicht machen?“ Als „Zuckerl“ ließ Gaarland noch durchblicken, dass schon am Band gearbeitet würde. „Wir haben uns bei der Ehre gepackt gefühlt“, sagte Nolte nun im Übersetzerforum der Leipziger Buchmesse. Dort wurde, zehn Jahre, nachdem alles begann, der Else-Otten-Übersetzerpreis an Simone Schroth (*1974) und Christina Siever (*1982) vergeben. Die beiden übersetzten die 2023 bei C.H. Beck unter dem Titel „Ich will die Chronistin dieser Zeit werden“ erschienenen Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum, die vor 80 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. Sie sind, wie das Tagebuch der Anne Frank, ein Standardwerk jüdischer Erinnerungskultur – aber auch große Literatur auf fast 1000 Seiten. Nach zehn Jahren hat sich ein Kreis geschlossen. Der mit 5000 Euro dotierte Else-Otten-Übersetzerpreis wird alle drei Jahre vom Letterenfonds vergeben; ausgezeichnet wird die beste deutsche Übersetzung eines niederländischsprachigen Werks der vorangehenden drei Jahre. Es klingt verrückt, ist aber wahr: Die in Zürich lebende Christina Siever, die den Tagebuch-Part der Ausgabe übernommen hat, und die Brief-Übersetzerin Simone Schroth, die als Dozentin an der Lancaster University in Großbritannien arbeitet, haben sich am Tag vor der Preisvergabe das erste Mal persönlich gesehen – und am Abend trotzdem gleich eine gemeinsame Lesung bestritten. Die beiden Frauen, die die Initiative #namethetranslator unterstützen, freuen sich über die Wertschätzung ihrer Arbeit: „Das Beste im Leben kommt unverhofft und als Geschenk“, sagte Simone Schroth. „Eigentlich geht der Preis an Etty, wir sind die Fährfrauen. Aber je sichtbarer wir werden, desto besser ist es für das Projekt.“
Flämische Avantgarde: Zur Leipziger Buchmesse konnte das Publikum mit der Übersetzerin Anna Eble und dem Autor und Herausgeber Matthijs de Ridder das einzige Gedicht der Welt lesen, das aussieht wie ein Zirkusplakat – „Großer Zirkus“ aus Paul van Ostaijens Riesen-Wurf Besetzte Stadt (1921). Mit diesem Band verarbeitete der flämische Dichter die Zerstörung und Besetzung Antwerpens durch deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg. „Besetzte Stadt“ ist eines der ehrgeizigsten literarischen Experimente der niederländisch-sprachigen Welt – und wurde von van Ostaijen mit einer Typographie bedacht, die die Narben der Zeit trägt. Er war davon überzeugt, dass eine Welt, die in Schutt und Asche liegt, nur mittels einer zertrümmerten Sprache beschrieben werden kann. Im Heidelberger Wunderhorn Verlag erscheint nun, pünktlich zum Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern, die erste Übersetzung des kompletten Gedichtbands im Original-Layout: Ein verlegerischer Coup!
Wir erfahren all das in fast akzentfreiem Deutsch vom flamboyanten Gelehrten Matthijs de Ridder. Dessen fast 1000-seitiger Biografie-Ziegelstein „Paul van Ostaijen. Der Dichter, der die Welt verändern wollte“ (2023) erhielt begeisterte Kritiken und wurde für den flämischen Literaturpreis De Boon nominiert. Kataklump, eine Adaption von Paul van Ostaijens Abenteuern mit der deutschen Avantgarde, ist eben in deutscher Übersetzung bei Wunderhorn erschienen. Am Gastland-Messestand und in der Schaubühne Lindenfels konnten deutsche Leserinnen und Leser tief in die Welt der flämischen Avantgarde eintauchen – vom täglichen Leseatelier über eine Ausstellung bis zur multimedialen Performance und einer intimen nächtlichen Radiosendung. Paul van Ostaijen hätte das gefallen!
Alles außer Hass: So war am Messe-Samstag das Abschlussprogramm überschrieben, gedacht als Antwort auf den Zulauf für Rechtspopulisten in den Niederlanden, in Flandern und in Deutschland. Und so lasen niederländische, flämische und deutsche Autorinnen und Autoren aus Texten, die Mut machen sollten, sich gegen Hass, für Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Leise Töne dominierten an diesem Abend, der in Kooperation mit dem Sächsischen Literaturrat organisiert wurde: Domenico Müllensiefen hatte einen Text von Wolfgang Hilbig ausgesucht, der in der DDR nicht so schreiben wollte, wie man es von ihm verlangte. Gijs Wilbrink erinnerte mit einem Text von Rebecca Solnit an die Frauenproteste in den USA gegen das atomare Wettrüsten in den 1980er Jahren. Die Leipziger Autorin und Performerin Martina Hefter las ein Gedicht der unlängst verstorbenen Dichterin Elke Erb und ein Fragment aus Marlene Haushofers „Die Wand“. Und Lisa Weeda las Gedichte des großen ukrainisch-amerikanischen Poeten Ilya Kaminsky, die an die russische Okkupation der Ostukraine erinnern. Ein Abend, der wie der gesamte Gastlandauftritt Verbindungen knüpfte, Freundschaften stiftete, die die Leipziger Buchmesse 2024 überdauern. Kooperationen mit Buchmarkt-Profis und Medien sind angestoßen, um den Kontakt zum deutschen Publikum zu halten – und weiter zu fördern. Behoorlijk briljant, beste collega’s!