Ein Bundeskanzler als Buchmesse-Eröffnungsredner, wann hatte es das letztmals gegeben? Über das Lesen als Zulassen anderer Sichtweisen, über Literatur als Schlüssel zum Verstehen des Weltgeschehens wollte Olaf Scholz sprechen. Doch als er im Gewandhaus-Saal, nach der Begrüßung durch Leipzigs Oberbürgermeister und die Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs, zu seiner Eröffnungsrede ansetzte, wurde er von einigen im Rang verteilten propalästinensischen Aktivisten niedergebrüllt – so lange, bis das Publikum im Gewandhaus wiederum die Störer niedergeklatscht hatte und die reichlich vertretene Security ihres Amtes waltete. „Folgen wir denen nicht, die uns spalten wollen“, hatte Scholz da gerade im Manuskript stehen, er bezog den Satz nun auf die hitzige Situation im Konzertsaal. „Uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen – nicht die des Geschreis“, sagte Scholz. Und erhält dafür viel Applaus. Der Scholz-Satz, den man sich heuer für jeden Buchmesse-Besucher, jede Besucherin zum Ausdrucken wünscht, geht so: „Lesen ist die täglich praktizierte Bereitschaft, die eigene Perspektive in Frage zu stellen.“
Die Soziologin Eva Illouz empfahl in ihrer akademisch-konzentrierten, auf Englisch gehaltenen Laudation das Buch „Radikaler Universalismus“ (Propyläen 2022), für das Omri Boehm mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2024 ausgezeichnet wird, als „Meilenstein im großen Gebäude der Philosophie“ und als Quelle moralischer Klarheit „in den trüben Gewässern des zeitgenössischen politischen Lebens“. Womit Illouz, mit Susan Neiman, wohl den allenthalben tobenden identitätspolitischen Furor meint. Omri Boehms Bücher „Israel – eine Utopie“ (Propyläen 2020) und „Radikaler Universalismus“ sind utopische Wagnisse. Ihre Ideen scheinen seit dem 7. Oktober 2023 weiter entfernt von irgendeiner Realisierung denn je. Doch Boehm, der mit Platon davon überzeugt ist, dass die Wirklichkeit die Welt der Ideen ist, bleibt seinem kompromisslosen Humanismus, trotz Terror, Trauer und Fanatismus, treu. Boehm ist Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Philosophie an der New School for Social Research in New York, nach Größen wie Agnes Heller oder Richard Bernstein. „Es ist vielleicht poetische Gerechtigkeit“, so Illouz, „dass der Lehrstuhlinhaber eines Fachbereichs, der so vielen intellektuellen deutschen Juden, die vor dem Nazi-Regime flohen, Zuflucht gewährte, heute in Deutschland diese Auszeichnung erhält. Er erhält sie, weil er die drei intellektuellen Traditionen, in denen er lebt – amerikanische Verfassungswerte, kantischer Universalismus und hebräische Prophetie – so erfolgreich integriert hat.“
Vor seiner – auf Deutsch vorgetragenen – Dankrede kommt Omri Boehm in einem spontanen englischen Exkurs auf die Störer vom Anfang des Abends zurück. „Die Protestierenden haben heute Abend einen großen Fehler gemacht“, ist Boehm überzeugt. „Sie wollten uns etwas über freie Rede sagen – und das wollten sie tun, indem sie die freie Rede störten. Es war und ist notwendig, ihre Störaktionen zu stoppen. Aber das reicht nicht aus. Wir müssen uns weiterhin der Herausforderung stellen zu zeigen, dass freie Rede und Diskussion eine Voraussetzung für die derzeit notwendigen, dringenden Veränderungen sind – und keine Mittel, sie zu verhindern.“ In seinem ausgezeichneten Buch Radikaler Universalismus gehe es, so Boehm, genau um dieses Problem: „Die Verteidigung des Universalismus erfordert auch, zuzuhören, was diese Protestierenden uns heute Abend zu sagen hatten. Die Antwort, die das Buch bietet, ist jedoch nicht die gleiche wie ihre, sondern das Gegenteil davon.“
Es ist faszinierend zu erleben, wie Omri Boehm seine Ãœberlegungen aus einem Philosophischen Quartett zwischen dem jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn und dessen Freund Gotthold Ephraim Lessing, Autor des „Nathan“ einerseits, seinem zentralen Forschungsgegenstand Immanuel Kant und Hannah Arendt (die 1959 bei der Verleihung des Lessing-Preises von der „Menschlichkeit in finsteren Zeiten“ sprach) anderseits entwickelt. Der Begriff der Freundschaft (Wir müssen, müssen Freunde sein, heißt es im „Nathan“) ist zentral, im derzeitigen Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern von ihr zu sprechen, weiß Boehm, muss manchem falsch, ja regelrecht grotesk vorkommen. Ein No-go scheint sowohl der Versuch, den mörderischen Ãœberfall der Hamas auf israelische Kibbutzim im vergangenen Oktober zu einem Akt „bewaffneten Widerstands“ zu erklären – als auch der Versuch der israelischen Regierung, den mit Zehntausenden von Toten und einer Hungersnot verbundenen Einmarsch im Gaza-Streifen als reine „Selbstverteidigung“ hinzustellen.Â
Und was ist mit der deutsch-jüdischen Freundschaft? „Da, wo sie besteht, ist sie ein wahres Wunder“, sagt Boehm. Aber dieses Wunder müsse jetzt vor Entwertung geschützt werden: „Es kann keine deutsch-jüdische Freundschaft geben, wenn sie in diesen dunklen Zeiten kein Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft gesagt werden müssen.“
Der großartigen Dirigentin Anna Rakitina fliegen gegenwärtig zwischen Boston und Los Angeles alle Herzen zu, am Abend der Buchmesse-Eröffnung trieb sie das Gewandhausorchester zu Höchstleistungen. Dazu gab es das niederländische Ragazze Quartett, dem man gern länger gelauscht hätte – und das – kleine Wünsche gehen in Leipzig sofort in Erfüllung, nur Wunder dauern etwas länger! – schon am Messedonnerstag auch konnte: Da spielten die vier ihr Programm „They Have Waited Long Enough“ im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses. Es geht um Medea, Circe und Penelope, um, klar: Frauen-Power.
Draußen auf dem Augustusplatz ist es gegen Mitternacht noch immer warm, man kann am Rad zum GfZK-Café fahren, wo Voland & Quist den Reigen der Partys eröffnet. In der Schaubühne Lindenfels trifft man vielleicht noch Lisa Weeda („Tanz, tanz, Revolution“, Kanon) und Dimitri Kapitelman („Eine Formalie in Kiew“, Hanser), deren beider Wurzeln in der Ukraine liegen. Reden über ein Leben zwischen West und Ost, Frieden und Krieg. Es ist Buchmesse, eine fünfte Jahreszeit in Leipzig.