Spiel mit den Codes: Comic Romane als literarische Erzählform

Spiel mit den Codes: Comic Romane als literarische Erzählform

Comics wurden im Land der Dichter und Denker lange verpönt oder zumindest belächelt. Mittlerweile gibt es kaum eine Buchhandlung in Deutschland ohne Comics, Manga oder Graphic Novels im Sortiment. Wie erwachsen sind gezeichnete Geschichten heute? Welches erzählerische Potenzial bieten Comic-Romane? Wo steht die deutsche Comic-Szene heute? Diese und weitere Fragen stellten wir Professor Dr. Bernd Dolle-Weinkauff vom Institut für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Sind Comics und Graphic Novels erwachsen geworden oder hat sich nur die mediale Wahrnehmung verändert?

Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Tatsächlich erschienen die ersten Comics Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen nordamerikanischen Tageszeitungen. Sie richteten sich an Erwachsene und einige der ersten, wie Winsor McCays „Little Nemo in Slumberland“ (1905), waren ausgesprochen kunstvoll gestaltet. Bereits aus der Sicht der Zeitgenossen bahnte sich hier etwas Neues und Großes an, das mit der bis dahin erschienenen konventionellen Literatur mindestens mithalten konnte. Erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts folgten dann die Comic-Hefte, in den USA comic books genannt, die auf das junge Publikum zielten und Seriengeschichten präsentierten. Angeführt wurden sie von den Superhelden-Comics, die den Ruf des Comics als Kinder- und Jugendbuch begründeten. Ende der 60er Jahre kamen die ersten französischen und italienischen Comics für Erwachsene in deutscher Übersetzung bei uns auf den Markt. Es sind diese romanhaften Erzählungen in Schrift und Bild, die in der Gegenwart das Bild des ambitionierten Comic für alle Generationen prägen. Spezielle Comic-Hefte für Kinder- und Jugendliche sind dagegen in der Bedeutung in den Hintergrund getreten.

Wie definieren Sie Graphic Novels im Unterschied zum Comic?

Der Begriff Graphic Novel taucht nicht erstmals bei Will Eisner auf, aber er hat ihn popularisiert. Der berühmte amerikanische Zeichner veröffentlichte 1978 ein Buch mit vier Kurzgeschichten über das Leben der Menschen in der Bronx als ein abgeschlossenes Werk unter dem Titel „A Contract with God. A Graphic Novel“. Die Bezeichnung war eher eine Verlegenheitslösung, es ging gar nicht um eine präzise Beschreibung der Gattung, sondern um das Neue: das abgeschlossene, stilistisch und erzählerisch originelle Werk in Buchform. Comic Book wäre also für Will Eisners Buch passender gewesen, aber so hießen ja schon die Comic-Hefte. Heute benutzen Kritiker, Verleger und Autoren den Begriff Graphic Novel, um einen Comic als ein ambitioniertes Werk kenntlich zu machen und diesem ein Qualitätssiegel zu verleihen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich dann erst, ob es sich um einen Comic-Roman oder eine andere Form von graphischer Literatur handelt.

Wie unterscheidet sich die literarische Erzählform gezeichneter Geschichten wiederum von einem traditionellen Roman oder von Novellen?

Das Zusammenwirken von Bild und Schrift schafft natürlich Besonderheiten. Die Geschichten operieren simultan mit verbalen und piktoralen Codes, mit Wörtern und mit Bildern. Dies bietet Raum für das Spielen mit den Codes: Mal treibt eher das Bild die Geschichte voran, mal die Schrift. Dabei müssen Schrift und Bild nicht zwangsläufig die gleiche Geschichte erzählen: Interessant wird es ja gerade dann, wenn absichtsvoll Brechungen entstehen, wenn Raum bleibt für unterschiedliche Deutungen, Rätsel, Ironie und dergleichen. In ihrer engen Verzahnung sind jedoch beide Komponenten unverzichtbar für das Verständnis der Erzählung. Über die Visualisierung wird eine Anschaulichkeit und Suggestionskraft erreicht, die in der auf rein sprachliche Mittel beschränkten Literatur nicht möglich ist.

Was ist das Besondere an der deutschen Comic-Szene?

Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Comic-Import-Land. Die meisten hierzulande veröffentlichten Comics liegen als Übersetzung vor. Das hat den Vorteil, dass Leser Anregungen aus aller Welt bekommen und aus einer reichen Auswahl schöpfen können. Insbesondere die Bedeutung der Manga ist seit 20 Jahren gewaltig. Die internationalen Zeichner haben einen dementsprechend großen Einfluss auf deutsche Künstler. Diese müssen sich wiederum dem internationalen Wettbewerb mit seinem hohen Niveau stellen, um mitzuhalten. Das hat zum heute exzellenten Niveau deutscher Zeichner und Autoren beigetragen. Seit 10 bis 15 Jahren erfahren immer mehr Künstler wie etwa Ralf König, Reinhard Kleist, Felix Görmann (Flix), Isabel Kreitz unter anderem auch internationale Anerkennung. Wobei sich für meine Begriffe die jungen Künstler in Deutschland, insbesondere die Mangaka, manchmal zu sehr an internationalen Vorbildern orientieren. Ich würde mir noch mehr Eigenständigkeit von ihren Werken wünschen, das ist oft aber bloß eine Frage der Entwicklung.

Autobiografisches Erzählen liegt weltweit im Trend, es ist geradezu eine typische Begleiterscheinung des Phänomens Graphic Novel. Diesen Trend greifen in Deutschland besonders viele – vor allem junge – Künstler auf. Mit Mitte zwanzig einen Blick zurück auf das Leben zu werfen, ist auf den ersten Blick verwunderlich. Andererseits haben diese Künstler gerade erst die sehr schwierige Übergangszeit der Pubertät und Adoleszenz gemeistert. Sie reflektieren daher diese Phase ihres Lebens und stellen sie in den Mittelpunkt ihres Erzählens.

Wagen Sie eine Prognose zur Entwicklung der Comic-Szene in Deutschland?

Wir haben in den letzten Jahrzehnten die ersten Grundlagen für eine lebendige deutschsprachige Comic-Szene gelegt, um in Zukunft international eine immer größere Rolle spielen zu können. Es haben sich sowohl Verlage als auch Künstler herauskristallisiert, die zunehmend Beachtung in der Comic-Welt finden. Hinzu kommt die Nachwuchsförderung, wobei es sehr wichtig geworden ist, dass arrivierte Künstlerinnen und Künstler wie Anke Feuchtenberger, ATAK, alias Georg Barber, Hendrik Dorgathen, Ute Helmbold oder Henning Wagenbreth unter anderem an Hochschulen unterrichten, um ihr Wissen und Können weiter zu geben.

Nicht nur die Comic-Szene fragt sich, wohin die Reise geht. Der gesamte Buchmarkt wünscht sich neue Leser. Gibt es Erkenntnisse, ob jugendliche Fans von Manga, Comics und Graphic Novels über die gezeichneten Geschichten an traditionelle Literatur herangeführt werden?

Das ist schwierig zu beantworten – jedenfalls sind wir in der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft ganz überwiegend der Meinung, dass Literaturangebote aufgrund ihrer ihnen jeweils inne wohnenden Qualität beurteilt werden sollten und nicht danach, ob sie zu anderen Texten, die von anderen vielleicht mehr geschätzt werden, ‚hinführen’. Die noch in der Literaturpädagogik der 50er/60er Jahre sehr verbreitete Vorstellung vom „Hinauflesen“ zur „eigentlichen“ Literatur haben wir weitgehend ad acta gelegt. Ich vermute aber sehr stark, dass die beträchtliche Horizonterweiterung durch die neuen Strömungen des Comic nicht ohne Folgen für die Ausdifferenzierung der Leseinteressen des Publikums bleibt: wer einmal, sei es durch Manga oder Comics, sei es durch Bilderbücher, Filme oder andere Medien, durch die Vielfalt des Angebots ‚infiziert’ wurde, den wird es so schnell nicht wieder los lassen …

Warum ist Ihre Stelle am Institut für Jugendbuchforschung angesiedelt?

Das hat einen einfachen historischen Hintergrund. Anfang der 60er Jahre richteten sich Comics noch überwiegend an Kinder- und Jugendliche. In dieser Zeit fing das Institut für Jugendbuchforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität an, ein Comic-Archiv aufzubauen. Das Comic-Archiv beherbergt mittlerweile circa 60.000 überwiegend deutschsprachige Comics, Manga und Graphic Novels aus den Jahren 1945 bis heute. Auch als der Trend zum Erwachsenencomic aufkam, haben wir hier keine künstliche Grenze gesetzt, gesammelt wurden und werden Comics für alle Generationen. Die Sammlung ist mit Abstand die umfangreichste wissenschaftliche Sammlung dieser Art im deutschsprachigen Raum. Als Kurator dieser Sammlung setze ich mich seit Jahrzehnten mit deren Inhalt wissenschaftlich auseinander. Zu den Sammlungen des Instituts gehört zudem die Bibliothek für Jugendbuchforschung mit rund 200.000 Kinder- und Jugendbüchern vom 16. Jahrhundert bis heute, in deren Bestand sich zahlreiche Bilderbücher und Bildgeschichten, der Vorläufer der Comics also, aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert finden.

Herr Prof. Dolle-Weinkauff, vielen Dank für das Interview.

Die Zukunft der Bücher

Die Zukunft der Bücher

Am Anfang stand, fern aller krachlederner Assoziationen, ein Ausflug nach Bayern: Ein „Novemberfest“ mit Kunstmann aus München und dem Maro Verlag aus Augsburg, moderiert vom erfolgreichen „großen Bruder“ in Gestalt von Hanser-Verleger Michael Krüger, gab 1997 den Startschuss für die bücher.macher. Komplettiert wurde der Abend durch eine Ausstellung und, natürlich, mit Lesungen; später am Abend legten die Geschwister Gerth vom Weilheimer Hausmusik-Label ihre Lieblingsplatten auf – zu einer Zeit, wo Notwist, heute eine der erfolgreichsten deutschen Indie-Bands, noch als Geheimtipp vom Lande galten.

Neue Hosen, alte Zöpfe

„Wie überlebt man gute Bücher?“, Klaus Wagenbachs klassische Frage, stand quasi leitmotivisch über diesem Happening – und nur ein halbes Jahr später leuchteten Wagenbachs rote Socken wie kleine Glühwürmchen im Garten des Leipziger Literaturhauses. Mit einem Sommerfest unter freiem Himmel, einer Ausstellung und einer Podiumsdiskussion gingen die bücher.macher in Runde zwei: „Buchgestaltung = Produktdesign?“ Über die Janusköpfigkeit der „geheiligten Ware Buch“, neue Hosen und alte Zöpfe stritten neben der Verleger-Legende aus Berlin Gottfried Honnefelder, der eben bei DuMont ein opulentes Literatur-Programm an den Start gebracht hatte, und Buchgestalter Rainer Groothuis; die skurrilen Leuchtplastiken der Berliner Künstlergruppe Shining strahlten mit den Verlegersocken um die Wette. Spät wurde es, sehr spät; nur hin und wieder brandete Torjubel durch die Sommernacht. Es war Fußball-WM in Frankreich, und noch hatten die Deutschen Hoffnung.

Alles, was zählt

Der Name des Veranstaltungsformats, das damals für den Börsenverein im frisch bezogenen Leipziger Literaturhaus entwickelt wurde, war Programm: In spannenden Konstellationen wollte bücher.macher Verlage mit unverwechselbarem Gesicht nach Leipzig holen. Geplant war jedoch keine Null-Acht-Fünfzehn-Präsentation: Möglichst allen Aspekten des Büchermachens sollte Raum gegeben; nicht nur Verleger und Autoren, auch Lektoren, Werbe- und Vertriebsprofis, Hersteller und Buchkünstler einbezogen werden. Ein Konzept, das im Lauf der Jahre behutsam zu „Themenabenden“ modifiziert werden sollte. Es folgten Veranstaltungen zur damals gerade dezent losbrechenden Welle der Netzliteratur („Überleben im Internet“) und der Rolle des Guten, Schönen und Baren im Literaturbetrieb („Literatur und Geld“) – Wolfgang Ferchl, damals Verleger bei Eichborn, hatte den „Verlag mit der Fliege“ gerade an die Börse gebracht, Georg M. Oswald, der heute den Berlin Verlag leitet, sorgte mit seinem Roman „Alles was zählt“ für die passende Umrahmung.

Schöne neue Bücher-Welt?

2001 gingen die bücher.macher erstmals auf der Leipziger Buchmesse vor Anker. Eine Zeit, von der Nora Rawlinson, Chefredakteurin des US-Branchenmagazins „Publishers Weekly“, schrieb: „Ich habe den Eindruck, dass deutsche Verleger immer amerikanischer werden.“ Den bücher.machern gelang ein kleiner Scoop, als sie Peter Olson, der am Abend zuvor im Gewandhaus sprach und sich gerade anschickte, als erster Nichtdeutscher in den New Yorker Random House-Chefsessel zu steigen, zusammen mit Michael Naumann, Arnulf Conradi, Günter Berg und Antje Kunstmann aufs Podium holten. Mit feinem Florett wurde um die „New Book Economy“ und die Rolle des Verlegers in einer hart durchkalkulierten Welt gestritten. Christoph Links notierte in seinem Messetagebuch für die „Berliner Seiten“ der FAZ: „Ich gehe nach zwei Stunden aus dieser Selbstverständigungsrunde mit dem beruhigenden Gefühl hinaus, in einem Sechs-Personen-Unternehmen mit lediglich 30 Titeln im Jahr ganz gut aufgehoben zu sein, da mir niemand für fremde Renditegelüste einen spitzen Bleistift in den Rücken rammt.“

Gründerzeit

Das Konzept, aktuelle Branchenthemen für ein breites Publikum aus Profis und Messebesuchern aufzubereiten, ging auch in den Folgejahren auf: Herausgefordert vom schlagfertigen, nie um eine Pointe verlegenen Moderator Denis Scheck diskutierten die bücher.macher etwa über Literatur im Fernsehen („Bücherflimmern“), die grassierende Eventisierung im Literaturbetrieb („Laute Bücher“) oder Bücher, die – wie Maxim Billers „Esra“ – zum Fall für den Staatsanwalt geworden waren („Bücher vor Gericht“). Mit einem Panel zu den Independents, die seit Anfang der Nullerjahre die Verlagswelt aufmischten („Günderzeit“), kehrte die Reihe 2005 zu ihren Wurzeln zurück. Neben „Jungen Wilden“ wie Daniela Seel (Kookbooks) oder Michael Zöllner (Tropen) saß natürlich auch der Große Wildweise Häuptling Klaus Wagenbach auf dem Podium.

Das Beste beider Welten

Seit 2012 wird das bücher.macher-Podium von der Leipziger Buchmesse veranstaltet. Das im Wechsel von Felicitas von Lovenberg und ihrem FAZ-Kollegen Andreas Platthaus moderierte Panel ist ein Fixpunkt am ersten Messetag – wer sich auf das, was die Gespräche der nächsten vier Tage mitbestimmen wird, schon ein wenig einschwingen will, ist hier goldrichtig. Noch immer stehen besonders Aspekte des unabhängigen Verlegens im Fokus. Die Euphorie der Nullerjahre, in denen junge Print-Verlage an den Festen der Buchhandels-Welt rüttelten, ist längst in der digitalen Welt angekommen – eine Entwicklung, die sich auch in Themen und Gästen der bücher.macher wiederspiegelt. Wie sich auch im digitalen Raum intelligent mit Literatur arbeiten lässt, ohne die Errungenschaften der Papier-Welt aus den Augen zu verlieren: Darüber wird auf dem Podium beherzt gestritten und diskutiert.

Die vollkommene Lesemaschine

Manchmal begegnen sich vermeintlich alte und neue Welt dabei ganz überraschend. So wie 2013: Da wäre Star-Autor Dave Eggers zum Podium über die „Zukunft der Bücher“ beinahe zu spät gekommen. Der Mann, der alte Ausgaben von Nabokovs „Lolita“ sammelt, hatte sich im Gewühl der Antiquariatsmesse verloren. Seine Beute: Eine Handvoll Insel-Bändchen aus Anton Kippenbergs Verlag. Versonnen streichelte Eggers die papierbezogenen Einbände, als er zu den Überlebenschancen des physischen Objekts Buch befragt wurde: „Wir haben dieses Gen, von schönen Dingen angezogen zu werden. Wir wollen sie anfassen, aufbewahren, uns an sie erinnern, sie an unsere Kinder und Enkel weitergeben.“

www.buechermacher.org

Bildquellen:Nils Kahlefendt

Blogger Relations

Blogger Relations

Als „literarisches Gedächtnis“ für ihre Lektüre hat Mara Giese 2011 ihr Literaturblog Buzzaldrins Bücher gegründet; heute hat ihre Seite zwischen 10.000 und 15.000 Besucher im Monat. Giese gehört zu den arrivierten Literaturbloggern im Netz; zur letzten Leipziger Buchmesse wurde sie von einem Kamerateam des MDR-Fernsehens begleitet – und auch in den Verlagen kennt man sie längst. Das war nicht immer so: „Anfangs war es total schwierig, mit meinen Anfragen überhaupt durchzudringen.“ Inzwischen hat sich viel getan, die Verlage kümmern sich verstärkt um die Bloggerszene – von der Verlinkung der Blogbeiträge auf den eigenen Facebook-Fanpages bis zu speziellen Ansprechpartnern und Bloggertreffen im richtigen Leben. Der Literaturbetrieb ist durchlässiger geworden, der Raum, in dem über Bücher gesprochen wird, hat sich radikal erweitert. Man geht aufeinander zu. Die Initiative geht immer häufiger von den Verlagen, oft aber auch von den Bloggern selbst aus.

Smartphone raus!

So hat die in der Kinder- und Jugendliteraturszene bestens vernetzte Bloggerin Stefanie Leo, die unter anderem Jurymitglied des „Leipziger Lesekompass ist, die Idee des „Tweetups“ – Treffen von kulturbegeisterten Onlinern, die live im Netz berichten – in die Branche übertragen: #bookupDE ist eine Art „Tag der offenen Tür“ in Bibliotheken, Buchhandlungen und Verlagen; so konnte man etwa bei der Frankfurter Verlagsanstalt, Kiepenheuer & Witsch, Hanser oder in der Börsenblatt-Redaktion hinter die Kulissen blicken.

We read Indie

Im letzten März öffnete die Leipziger Buchmesse ihre Bloggerlounge, kurz zuvor hatte Random House bereits ein eigenes Bloggerportal eröffnet: Blogger erhalten dort neben Rezensionsexemplaren auch Zusatzmaterial wie Lese- und Hörproben, Buchtrailer oder Cover, können die eigenen Besprechungen hochladen und direkt mit den Bloggerbetreuern der Verlagsgruppe in Kontakt treten. „Eine tolle Einrichtung“, lobt die Buchhändlerin Simone Finkenwirth, die ihr Blog klappentexterin seit 2010 betreibt. „Auch Verlage wie Diogenes, Kiepenheuer & Witsch, Hanser, Dumont oder Suhrkamp sind sehr aktiv.“ Ebenso schätzt Finkenwirth die kollegiale Zusammenarbeit mit vielen Independent-Verlagen – die Initialzündung, im Anschluss an den Indiebookday 2013 die Blogger-Allianz We read Indie zu gründen. „Ich habe mich gefragt, wieso man nur einmal im Jahr auf diese wunderbaren Verlage hinweisen soll? Und da ich mit vielen Bloggern vernetzt bin, die die Idee gut fanden, kam eins zum anderen.“ Inzwischen bespricht die Gruppe nicht nur Bücher aus unabhängigen Verlagen, sondern stellt in der Porträt-Reihe „We talk Indie“ regelmäßig Verleger und ihre Arbeit vor.

Blogger am Verleger-Schreibtisch

Seit sechs Jahren arbeitet Frauke Vollmer als Online Marketing Managerin in der Werbeabteilung von Hanser. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Tony Stubenrauch und eng verzahnt mit der Presseabteilung, kümmert sich Vollmer um die Blogger Relations der Münchner. Neben den Anfragen der Blogger, die auf der Facebook-Seite oder der Website des Verlags eingehen, wollte Hanser auch aktiv auf die Bloggerszene zugehen. Aus diesem Impetus wurde der erste Bloggertag Anfang 2015 geboren; im Herbst organisierte man gemeinsam mit den Kollegen von Suhrkamp und S. Fischer ein Bloggertreffen im Orbanism Space der Frankfurter Buchmesse, im November eroberte #bookupDE die Verlagsräume in München, Jo Lendles Schreibtisch inklusive. Die Zahl der Anfragen, die Vollmer aus der Blogger-Szene erreichen, ist in den letzten Jahren rasant gestiegen. Das Qualitäts-Gefälle und die thematische Bandbreite sind enorm. „Wir schauen uns die Seiten sehr genau an“, sagt Vollmer: „Wer ist Meinungsführer? Wer hat ein gutes Netzwerk? Man muss sich Zeit nehmen, sich ein Bild machen, welche Relevanz die Blogs mit ihrer speziellen Ausrichtung haben.“

Pforten der Wahrnehmung

Bei Kiepenheuer & Witsch in Köln wurde früher titelgebunden gearbeitet, von der Online-Abteilung wurden auch die Blogger-Kontakte mitbetreut. Inzwischen wurden die Arbeitsbereiche logisch aufgeteilt: Neben einer Online-Marketing-Managerin und dem Redakteur des hauseigenen Verlagsblogs kümmert sich Ulrike Meier als „verlängerter Arm der Presseabteilung“ um alle Belange der Online-Pressearbeit – inklusive der Blogger-Relations. „So haben die Blogger bei uns einen Ansprechpartner – und mittlerweile auch ein Gesicht“, erklärt Meier. „Das ist besser als eine unpersönliche E-Mail-Adresse und macht es leichter, sich auch in der realen Welt zu treffen“. In der Serie „Vierundzwanzig Türen“ öffnete sich das KiWi-Verlagsblog im letzten Dezember für Buchhändler – und Blogger. Eine Initiative, die in der Szene sehr gut ankam. Logisch, dass solche Charme-Offensiven nicht aus reinem Idealismus gefahren werden: Für die Verlage sind die Blogger wichtige Multiplikatoren, die eine breite Öffentlichkeit jenseits der klassischen Printmedien erreichen. Zudem ist das Netz zwar schnell, kann aber deutlich nachhaltiger wirken. Blogger folgen ihren Neigungen, nicht den Aktualitätsvorgaben einer Chefredaktion. So können Titel, die im klassischen Print-Feuilleton längst „durch“ sind, weiter im Diskurs bleiben. Für Ulrike Meier ist etwa Dave Eggers’ Roman „Der Circle“ ein schlagendes Beispiel: „Ich habe noch Anfragen bekommen, als die Literaturbeilagen der Zeitungen längst im Altpapier waren.“

Verhältnis in der Findungsphase

Simone Finkenwirth stemmt ihr Blog neben einer 40-Stunden-Woche bei Hugendubel in Berlin; Mara Giese hat im letzten Herbst ein Volontariat bei edel & electric in Hamburg angetreten. „Nach allem, was ich von der anderen Seite des Schreibtischs mitbekomme, würde ich sagen: Blogger dürfen ruhig ein Stück selbstbewusster sein, gerade in Richtung der Verlage.“ Zwar ist die Zahl der unverlangt und offenbar ohne jede Kenntnis des Blogs geschickten Büchersendungen geringer geworden, auch unpersönliche Sammel-Mails („Liebe Bloggerin, lieber Blogger“) sind nicht mehr die Regel. Dennoch ist die Begegnung auf Augenhöhe noch längst nicht der Regelfall. Noch stecke das Verhältnis zwischen Bloggern und Verlagen in einer „Findungsphase“, meint Giese. Während Blogger etwa im Technik-Bereich die Möglichkeiten der Monetarisierung – von Produkt-Tests über Sponsored Posts bis zu Bannerwerbung – weit ausreizen und in schönstem Marketing-Denglisch von „Influencer Relations“ sprechen, ist vielen Literaturbloggern ihre Unabhängigkeit ein hohes Gut. Auch Mara Giese möchte sich nicht als „blinkende Litfaßsäule“ benutzen lassen. Die Anfrage eines Filmverleihers, auf ihrem Blog Kinogutscheine zu verlosen, hat sie abgelehnt – Werbung für Shop-Betreiber, Verlage oder Dienstleister kann sie sich hingegen vorstellen. Voraussetzung: Sie muss selbst vom beworbenen Produkt überzeugt sein. In jedem Fall gilt: „Mein Blog soll mein Ort bleiben.“

buchmesse:blogger sessions 16: Mit Ihrer ersten Bloggerkonferenz leistet die Leipziger Buchmesse einen Beitrag zur Professionalisierung des Verhältnisses von Literaturbloggern und Verlagen. Das Themenspektrum reicht von rechtlichen Rahmenbedingungen über Blogger Relations bis zu Workshop-Angeboten für den redaktionellen Alltag. Als Referenten werden unter anderem Karla Paul (Edel eBooks), Rainer Dresen (Random House), Ute Nöth (Carlsen) und Leander Wattig erwartet. Die Konferenz findet am Messesonntag, 20. März, von 11 – 16.30 Uhr im CCL statt, die Anmeldung (Teilnahmegebühr 35 Euro) ist ab sofort online möglich: www.leipziger-buchmesse.de/bloggersessions

Bloggerlounge und Bloggerguide: Neben dem Fachprogramm lädt die Bloggerlounge in Halle 5 erneut zum Netzwerken ein. Infos zu allen Blogger-Aktivitäten auf der Messe und weitere praktische Tipps gibt es ab Ende Februar im Bloggerguide der Buchmesse.

Bildinhalte: Nils Kahlefendt (Mara Giese), Hanser Verlag, Simone Finkenwirth/We read Indie

Romane in Bildern

Romane in Bildern

Dass sich die Einstellung von etablierten Belletristikverlagen gegenüber Comics geändert hatte, wurde mir klar, als ich von Suhrkamp im Jahr 2008 dazu eingeladen wurde, eine neue Reihe mit gezeichneten Adaptionen von Literaturklassikern herauszugeben. Dass sich doch noch nicht so viel geändert hatte, wurde mir klar, als ich dann erstmals mit der Verlagsspitze und einigen Comiczeichnern, deren Mitwirkung ich erhoffte, zusammensaß. Die Erwartungen an Verlaufszahlen von Comics waren ebenso unrealistisch wie die Vorstellungen vom nötigen Arbeitsaufwand. Bei den Auflagen denken Verlage gern an „Asterix“ mit seinen Millionenstartauflagen, was aber leider ein einmaliges Phänomen ist, beim Arbeitsaufwand an die Mühe, die für ein normales Buch von vielleicht 150 Seiten nötig ist. Doch Zeichnen kostet meist mehr Zeit als Schreiben – normal bei Comics sind eine bis zwei Seiten Reinzeichnung pro Tag –, und das Schreiben kommt ja noch dazu, weil auch eine literarische Vorlage erst einmal so umgearbeitet werden muss, dass man sie überhaupt zeichnen kann.

Traum vom „Schul-Comic“

Zudem war es der Wunsch des Verlags, dass jeder seiner Comicadaptionen der vollständige Text der Vorlage beigegeben würde, was ein groteskes Ungleichgewicht geschaffen hätte, denn die gezeichneten Versionen von Belletristik haben im Regelfall deutliche weniger Seiten, weil man durch die Bilder vieles leichter darstellen kann, was literarisch ausführlich beschrieben werden muss, und Comic generell nicht allzu textlastig sein sollten. Faktisch wären bei Umsetzung der Idee einer Kombination von geschriebenem und gezeichnetem Buch nur noch Erzählungen oder Novellen für eine Adaption in Frage gekommen – ein Konzept, das wenige Jahre später die Büchergilde Gutenberg umgesetzt hat, als sie E.T.A Hoffmanns „Fräulein von Scuderi“ und Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ auf diese Weise herausbrachte. Suhrkamp träumte von Frisch-, Hesse- oder Bachmann-Adaptionen. Mit einem Wort: von Schul-Comics, die im Deutschunterricht so gut verwertbar wären wie im Kunstunterricht.

Erfolg mit neuem Konzept

Diese Erwartungen waren also dreifach unrealistisch, und es ist wohl kein Zufall, dass sich von den damals eingeladenen Comiczeichnern nur einer für das Projekt gewinnen ließ: Ulf K., der allerdings erst sechs Jahre später seine Version von Bertolt Brechts „Geschichten vom Herrn Keuner“ fertig stellte, eine Sammlung von kurzen Parabeln. Und doch wurde die Suhrkamp-Graphic-Novel-Reihe ein großer Erfolg – gewiss mehr publizistisch als finanziell –, weil der Verlag nicht auf seinen Vorstellungen beharrte und sich schnell von dem Konzept löste, den Comics die Ausgangstexte beizugeben. Auch Geduld wurde aufgebracht, denn der erste Band, Nicolas Mahlers Adaption von Thomas Bernhards Roman „Alte Meister“, erschien erst 2011. Doch er wurde nach Judith Schalanskys „Hals der Giraffe“ das von der Kritik meistbesprochene Suhrkamp-Buch des Jahres und verkaufte sich mit mehr als 10.000 Exemplaren für einen anspruchsvollen Comic glänzend. Seitdem sind in der Graphic-Novel-Reihe des Verlags zehn Bände erschienen, darunter Bearbeitungen von Marcel Beyer, Robert Musil, Lewis Carroll, Mark Twain, aber mittlerweile auch mit Volker Reiches „Kiesgrubennacht“ eine erste eigenständige Comicproduktion.

Durchbruch mit Art Spiegelman

Suhrkamp war trotzdem kein Pionier auf diesem Feld; der Verlag genoss wegen seines literarischen Renommees lediglich das größte Aufsehen. Als erster großer deutscher Belletristikverlag hatte Rowohlt bereits in den siebziger Jahren den japanischen Manga „Barfuß durch Hiroshima“ von Keiji Nakazawa verlegt, die autobiographische Schilderung eines Jungen, der den Atombombenangriff vom 6. August 1945 überlebt hat. Allerdings erfüllte der Band nicht die Erwartungen des Verlags, und so blieb die im Original insgesamt vierteilige Erzählung in Deutschland für dreißig Jahre ein Torso, ehe der Comicverlag Carlsen sie neu und vollständig herausbrachte. Rowohlt war es aber gleichfalls, wo 1987 Ralf Königs Schwulencomic-Komöde „Der bewegte Mann“ erschien und 1989 dann der erste und 1992 der zweite Band von Art Spiegelmans „Maus“ – einer der größten Comicerfolge weltweit und diesmal auch in Deutschland. Wobei das Haus den Zuschlag deshalb bekommen hatte, weil der erste deutsche Rechteinhaber, der Zweitausendeins Verlag, einen Übersetzer engagiert hatte, der Spiegelmans Vorlage zu frei ins Deutsche gebracht hatte, weshalb dann die Reinbeker mit ihrem exzellenten Ruf für Übersetzungen aus dem Englischen zum Zuge kamen. Rowohlt bescherte das ein Buch, dem das gelungen ist, was Suhrkamp sich zwei Jahrzehnte später auch für seine Comics erträumte: Schullektüre in Deutschland zu werden.

Zauberwort „Graphic Novel“

„Maus“, die Geschichte von Art Spiegelmans Eltern, die als polnische Juden Auschwitz überlebt haben und dann nach Amerika auswanderten, wo Spiegelmans Mutter 1968 den Freitod wählte, hat den Comic revolutioniert: in seinen erzählerischen Mitteln, aber mehr noch in der öffentlichen Wahrnehmung. Plötzlich wurde erkannt, welche Möglichkeiten diese Erzählform bot, und Leser wie Publikumsverlage suchten ähnliche Bücher. Aber nur abermals Rowohlt fand auch welche, nämlich weitere Bände von Ralf König. Anderes ungewöhnliches Material jedoch gab es nicht, weil sich die Zeichner und die Comicverlage an die seit Jahrzehnten etablierten Muster hielten, die eigentlich nur aus den in Format und Seitenumfang genau festgelegten Heften und Alben bestanden. Für eine „literarische Erzählweise“, die Format und Umfang eines Comics nach den Erfordernissen einer Geschichte gewählt hätte, wie es bei Romanen ja üblich ist, schien in den Comicverlagsprogrammen kein Platz zu sein – obwohl sowohl „Barfuß durch Hiroshima“ als auch „Der bewegte Mann“ und „Maus“ bereits vorgemacht hatten, dass es auch anders ging. Es musste erst der vom Comicverlagsmarketing zunächst in den Vereinigten Staaten, später auch in Deutschland geprägte Begriff „Graphic Novel“ kommen, um mehr Freiheit für die Autoren und Lektoren zu schaffen – und das Interesse der klassischen Belletristikverlage zu wecken.

Türöffner Manga

Aber das wäre gar nicht möglich gewesen ohne eine weitere Voraussetzung: die Bereitschaft des Sortimentbuchhandels, sich auf Comics einzulassen, die in Deutschland bislang als Kiosk- oder Bahnhofsbuchhandelsware galten – oder in speziellen Comicläden verkauft wurden. Für diese neue Einstellung war ein Phänomen verantwortlich, dass Ende der neunziger Jahre entstand: die Manga-Begeisterung. Die damals vor allem von den beiden großen deutschen Comicverlagen Carlsen und Ehapa aus Japan importierten Serien stießen auf ein jugendliches Publikum, das hier etwas ganz Neues entdeckte, das die eigenen Eltern, die schon mit Comics aufgewachsen waren, nicht kannten und vor allem auch nicht verstanden – zu unterschiedlich vom westlichen Comic war die Manga-Erzählweise. Ideale Voraussetzungen also für ein veritables Jugendphänomen. Zusätzlich fanden erstmals Mädchen gezeichnete Geschichten, die speziell für sie konzipiert waren, während sich die amerikanischen und europäischen Comics klar am traditionell männlichen Publikum orientierten. Mit diesen neuen Käuferschichten entstand auch die Möglichkeit, neue Vertriebswege zu wählen, denn die Manga-Fans wollten gar nicht ins alte Umfeld der Comicleser. Klassische Buchhandlungen, die es riskierten, Manga-Regale aufzustellen, erlebten einen Ansturm jugendlicher Leser, die sonst wohl nie den Weg dorthin gefunden hätten.

Klassische Publikumsverlage mischen mit

Als dann mit den Graphic Novels das nächste vielversprechende – und dazu noch „literarische“ – Comicphänomen anstand, ließ sich der Sortimentsbuchhandel gern dafür gewinnen, und so fanden die als anspruchsvoll vermarkteten Comics auch tatsächlich ein literarisches Publikum. Das wiederum machte die klassischen Verlage nachdenklich. Als einer der ersten wagte sich Knesebeck an Comics, allerdings erst einmal 2006 mit Stéphane Heuets Adaption von Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ an ein Projekt, das in Format und Umfang noch dem traditionellen französischen Albenformat folgte. S. Fischer dagegen setzte auf die Bekanntheit von Art Spiegelman, als der Verlag 2008 dessen Anthologie „Breakdowns“ im Überformat herausbrachte, die stark erweiterte Neuausgabe seines Debütbands, der ursprünglich bereits 1980 auf Deutsch bei Stroemfeld/Roter Stern erschienen war. Zugleich wechselte Spiegelman auch mit „Maus“ von Rowohlt zu S. Fischer. So sind wir jetzt auch bei Comics soweit gelangt, dass Verlage erfolgreiche Autoren abwerben.

Trendsetter

Andere Belletristikverlage, die sich zuletzt an Comics versucht haben, sind Kiepenheuer & Witsch mit bislang zwei Graphic Novels von Allison Bechdel, DuMont mit Richard McGuires „Hier“, Atrium mit mehreren Bänden unterschiedlichster Provenienz, Eichborn mit Tim Dinters Adaption von Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ oder der Jugendbuchverlag Dressler mit Isabel Kreitz’ Comicversionen von Erich-Kästner-Klassikern. Das Spektrum an Namen und Themen ist breit – beste Voraussetzungen für einen anhaltenden Trend.

Andreas Platthaus, Jahrgang 1966, ist seit 1997 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tätig; derzeit ist er dort stellvertretender Chef des Ressorts Literatur und literarisches Leben. Neben dem Roman „Freispiel“ (Rowohlt Berlin, 2009) hat Platthaus vor allem Sachbücher veröffentlicht, darunter zahlreiche Publikationen zur Comic-Kultur.

Bildquellen: Richard McGuire/DuMont, Nikolas Mahler/Reprodukt, Suhrkamp, Eichborn, Dressler, Kiepenheuer & Witsch

Onleihe: Wie weiter?

Onleihe: Wie weiter?

Bibliotheken brauchen E-Books

Ein wenig überspitzt könnte man sagen, dass derjenige, der infrage stellt, dass öffentliche Bibliotheken überhaupt ein E-Book-Angebot vorhalten müssen, die Existenzberechtigung und Zukunftsfähigkeit dieser Einrichtungen infrage stellt. Bibliotheken waren schon immer dazu da, ihre Kundinnen und Kunden mit Information, Wissen und Unterhaltung zu versorgen – und das ganz unabhängig von den gerade aktuellen „Datenträgern“. Wer Bibliotheken also auf das gedruckte Buch reduzieren wollte, würde ihnen den weiteren Weg ins Digitale verwehren. Über kurz oder lang würden sich Bibliotheken damit zu „Papiermuseen“ entwickeln. Für Nostalgiker wären sie damit zwar immer noch ein attraktiver Ort, aber eine aktive Rolle bei der Informationsversorgung der Bevölkerung würde ihnen damit nicht mehr zukommen. Um genau diese Rolle auch weiterhin spielen zu können, brauchen Bibliotheken also dringend ein attraktives E-Book-Angebot. Die Situation in Deutschland ist im europäischen bzw. internationalen Vergleich zwiespältig einzuschätzen. Auf der einen Seite gibt es relativ viele öffentliche Bibliotheken, für die ein entsprechendes Angebot selbstverständlich ist. Andererseits ist es für die Bibliotheken und ihre Nutzerinnen und Nutzer immer weniger nachvollziehbar, dass sich große Verlage und Verlagsgruppen (Holtzbrinck) sträuben, ihre E-Books für öffentliche Bibliotheken zu lizenzieren. Und noch schwerer ist es zu verstehen, dass tatsächlich – ganz anders als bei gedruckten Büchern – Verlage darüber entscheiden können, ob Bibliotheken ihre Produkte anbieten können oder nicht. Da dies ein unhaltbarer Zustand ist, fordern Bibliotheksvertreter bereits seit 2012, dass es hier zu einer gesetzlichen Regelung kommen muss. Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien hat im Frühjahr 2015 eine klare Richtung vorgegeben, dass nämlich – wenn es zwischen Verlagen und Bibliotheken hier in absehbarer Zeit nicht zu einer Einigung kommt – „aus kulturpolitischer Sicht gesetzliche Regelungen in Betracht zu ziehen sind“.

Frank Simon-Ritz, Jahrgang 1962, ist seit 1999 Direktor der Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar. Seit 2012 ist er stellvertretender Sprecher der Deutschen Literaturkonferenz und Mitglied des Sprecherrats des Deutschen Kulturrats, seit April 2012 Vorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv).

Bibliotheken haben E-Books

Das erfolgreichste Segment im Buchmarkt ist aktuell die E-Book-Ausleihe der öffentlichen Bibliotheken. Fast täglich findet man in Regionalzeitungen Fotos von Bürgermeistern, die sich stolz am Computer bei der Nutzung der neu eröffneten Onleihe in ihrer Kommune fotografieren lassen. Noch nie konnten Bibliotheken solche Zuwächse vermelden, noch nie gab es so begeisterte Rückmeldungen der Nutzer, noch nie waren die Kommunalpolitiker so stolz auf ihre Bibliotheken. Eine echte Erfolgsgeschichte. Dennoch bemüht sich der Bibliotheksverband, in der Lobbyarbeit ein Bild von Krisen und Gefahren zu zeichnen. Wie passt das zusammen? Ob im Bereich der Musik, der Filme, der Hörbücher oder jetzt auch der E-Books: Verleih- oder Abomodelle sind offenbar das angemessene Vertriebsmodell für digitalisierte Medien. Sie lösen zunehmend die Kaufmodelle ab. Für Urheber und Verwerter ist es deshalb notwendig, sich rechtzeitig umzustellen und die Refinanzierung der Medien über die neuen Vertriebskanäle zu sichern. Auf der Suche nach angemessenen Preis und Lizenzmodellen bedeutet das zunächst: viel Experimentieren. Die E-Book-Angebote der öffentlichen Bibliotheken sind für Leser attraktiv und kostenlos. Das ist unschlagbar. Man kann bezweifeln, dass es neben den 2.500 öffentlichen E-Book-Angeboten noch Platz für kostenpflichtige kommerzielle gibt. Und da beginnt das Problem: Wenn sich die E-Book-Nutzung komplett auf Leihmodelle verlagert und die Kaufumsätze wegfallen, ist die Produktion von Literatur in Form von E-Books nur möglich, wenn adäquate Umsätze im Leihmarkt entstehen. Läuft der Leihmarkt fast vollständig über die öffentlichen Bibliotheken, müssen die Umsätze von den Bibliotheken finanziert werden. Und dafür haben sie keine Gelder. Eine Urheberrechtsschranke würde zwar den Schwarzen Peter von den Kommunen auf die Kultusminister verschieben. Das Geld – daran zweifelt niemand – werden aber auch die nicht zur Verfügung stellen. Es bleibt nur die Möglichkeit, gemeinsam einen Weg zu finden, der Autoren angemessene Honorare sichert, der die Investitionen der Verlage refinanziert, der für Kommunen finanzierbar und für Leser attraktiv ist.

Matthias Ulmer, Jahrgang 1964, ist geschäftsführender Gesellschafter des Verlags Eugen Ulmer (Stuttgart). Er ist Vorstandsmitglied des Verlegerausschusses im Börsenverein des Deutschen Buchhandels und befasst sich dort schwerpunktmäßig mit dem Thema Digitalisierung und dem Dialog mit den Bibliotheken.

Bildquelle: Philipp Wiegandt / Ferdinando Iannone